Samstag, 20. April 2019

Von Messies und Tidies






NZZ, 16.4.2019

Es gibt das Messie-Syndrom, das zwanghafte Sammeln und Anhäufen von Gegenständen beliebiger Art und Herkunft. Es gibt auch das Gegenstück dazu, die Aufräum-Manie. Man könnte dafür den Zwillingsbegriff „Tidie-Syndrom“ prägen („tidy up“ = aufräumen). Auf jeden Fall boomt das Genre. Dabei geht es in der Regel nicht bloss um die Ordnung im Küchenregal, Kleiderschrank oder Kellergestell, sondern um einen Spiritualismus der Ordentlichkeit. Mit dem Haushalt wird das Selbst aufgeräumt. Hier eine kleine Auswahl an Aufräumliteratur, allein aus dem Jahr 2016.

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Da wir offensichtlich genug vom Konsummüll eingedeckt werden, liegt es nahe, diesen als das heimliche „Gift“ zu entsorgen, wie uns zum Beispiel Kelly Barber in „The 30 Day Clutter Detox“ rät („Die 30-Tage-Gerümpel-Entgiftung“). Monica Mynk fragt im Brustton gläubiger Rechtschaffenheit: „Ungodly Clutter: How Can a Christian Live a Godly Life in a Messy World?“. Gerümpel steht auch im Zusammenhang mit Dickleibigkeit. Sie kann ja quasi als Unaufgeräumtheit im eigenen Körper betrachtet werden, und Fasten als eine Form physiologischen Entrümpelns. Deshalb empfiehlt Peter Wahl in seinem „Lose the Clutter, Lose the Weight“ ein sechswöchiges gemeinsames „Herunterschlanken“ von Haushalt und Körper, ein „Total-Life Slim Down“. Die Aufräumberaterin Marin Rose spricht von der „Gerümpelkultur“ („Clutter Culture“). Und sie fordert uns auf, unsere „vergiftete Beziehung“ zu dieser Kultur aufzugeben, das heisst, „künftigen Generationen eine gesündere Einstellung beizubringen, so dass unsere Kinder nicht mehr ganze Industrien fordern werden, die sich um die ‚Entrümpelung unseres Lebens’ kümmern.“ Solches Bemühen ist löblich, aber nicht unwidersprüchlich. Frau Roses Buch „Breaking Up With Your Stuff: Emotional Homework to End Your Toxic Relationship With the Clutter Culture“ baut auf genau jene „ganze Industrie“, die sie beseitigen will. 2010 gründete Frau Rose die Beratungsfirma „Libra Organizing“, die, wie die Website verkündet, „Order, Balance, Beauty“ in die Haushalte bringt - vermutlich nicht gratis.

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Die neue Welle des Aufräumens beschäftigt sich nicht einfach damit, betriebsökonomisch alle Tassen im Schrank zu haben, sie zielt ab auf die Transmutation der häuslichen Sauordnung in häusliches Nirwana. Hoch im Kurs befindet sich aktuell Marie Kondo. Die Japanerin reanimiert eine animistische Haltung im Haushalt. Sie empfiehlt, den Dingen eine besondere, „magische“ Aufmerksamkeit zu schenken, sich sozusagen in deren Perspektive zu versetzen. Wenn man also zum Beispiel Socken ordnen will, sollte man dies „um der Socken willen“ tun. Das heisst, man sollte sich innewerden, dass Socken in ihrer alltäglichen Dienstleistung eine „brutale Behandlung“ erleiden, „gefangen zwischen Fuss und Schuh“; dass sie „Druck und Reibung aushalten müssen, um unsere kostbaren Füsse zu schützen.“ Aus diesem Grund sollte man sie liebevoll falten, denn so macht man sie „viel glücklicher“ und sie geben einen „Stossseufzer der Erleichterung“ von sich. Frau Kondo empfiehlt sogar, mit unseren Textilien zu reden: „Wenn wir sie falten, sollten wir unseren Kleidern danken, dass sie unsere Körper beschützen.“ Dank ist auch angesagt, wenn es darum geht, ein Kleidungsstück wegzuwerfen: „Ich danke dir für die Freude, die du mir bereitet hast.“ Derart innerlich entrümpelt kann man dann das Textil getrost auf den Altkleiderhaufen schmeissen.

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Für wie bescheuert man das halten mag, die „beseelende“ Einstellung zu den Dingen liesse sich als Widerschein eines entseelten Kosmos der Waren interpretieren, in dem die besinnungslose Konsum- und Wegwerfhaltung die Dinge „entweiht“. Das ist nicht unplausibel, vom ganzen New-Age-Klimbim einmal abgesehen. In der Tat drückt sich hier eine Art neue Gebrauchseinstellung zu den Dingen unseres Alltags aus. Nur ein Ding zu besitzen ist weit weniger erfüllend als mit ihm sozusagen in emotionaler, seelischer „Symbiose“ zu leben. Im Übrigen sprach schon Martin Heidegger – wenngleich im unverwechselbaren Cantus firmus der Seinsfeier – von den Dingen, die uns „dingen“.

Hervorzuheben ist überdies, dass der Minimalismus von Marie Kondo nicht Zivilisationsflucht meint. Die Verschlankung des Haushalts, des Körpers, der Umgebung erfolgt in den dichtesten Zentren der Zivilisation. Das ist eine gute Idee, solange sie keine schlechte ist, das heisst ins Extrem abdriftet. „Tidying up“ trägt indes den Keim des Extremismus in sich, was weniger Frau Kondo als dem Buchmarkt anzulasten ist. Er schreit förmlich nach „extremistischen“ Ideen. Wir werden überschwemmt mit Büchern, deren zentrale Mission darin besteht, „den“ Sündenbock für die Sauordnung der Welt zu finden: Islamisten, das chinesische Regime, die römische Kurie, die Banken, überbehütende Eltern, Facebook, Apple, Langeweile, Drogen, Zucker, Fett, Gluten oder eben: Gerümpel. So gesehen bedient natürlich Frau Kondos Botschaft die Bedürfnislage perfekt. Nicht ein bisschen aufräumen, lautet die Devise, sondern total aufräumen. Tabula rasa. Erst dann beginnt das richtige Leben. Drinnen, nota bene. Geschehe mit dem Gerümpel draussen, was will.

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Die grösste Gefahr der Entrümpelungsidee steckt in ihrer infektiösen Plausibilität. Wenn schon Gerümpel als Haufen unnützen Zeugs die tückische Tendenz erkennen lässt, sich zu vermehren und auszubreiten, dann auch und vielleicht erst recht Gerümpel als Kategorie. Hat sie sich einmal als fixe Idee in unserem Schädel festgekrallt, kann die Kategorie leicht zur fortschreitenden Verrümpelung der Welt beitragen. Nun nicht in dem Sinn, dass sich immer mehr Gerümpel zusammenläppert, sondern, dass wir nur noch Gerümpel um uns sehen: ausserhalb des Hauses, auf der Strasse, in Parks, im Büro, in anderen Lebensformen, Sprachen, Ideen, anderen Menschen. Dann wird das Gerümpel tatsächlich toxisch.

Denn dann erhält das „Tidying up“ einen garstigen Beiklang. Totalitäre Ideologien haben bekanntlich ein Flair für das Entrümpeln, zum Beispiel von missliebigen Bevölkerungsgruppen. In futurologischen Szenarios ist alle physische Arbeit „entrümpelt“, die Menschen bewegen sich in sauberen, keimfreien Interieurs zwischen transparenten Wänden und Displays. Eigentlich sind sie selbst „entrümpelt“, existieren sie bloss noch als Datenbanken. Ist es ein Zufall, dass der Begründer des Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti, Faschist und glühender Verehrer der neuen Technologien, das grosse Entsorgen alten Kulturgerümpels forderte. Sein „Tidying up“ tönte so: „Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken, (…) Leitet den Lauf der Kanäle um, um die Museen zu überschwemmen! (…) Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reisst nieder, reisst ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“ Marinetti schrieb sogar ein „Manifest des futuristischen Kochens“, in dem er die italienische Küche „entrümpelte“. Weg mit der Pasta! Sie ruft nur Lethargie, Pessimismus und nostalgische Passivität hervor!

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Bezeichnend ist übrigens die Entschuldigungsformel, mit der Gastgeber gelegentlich ihre Gäste begrüssen: Achten Sie bitte nicht auf die Unordnung. Wer sagt schon: Entschuldigen Sie bitte die Ordnung? Was implizite auf deren normativen Vorrang hindeutet. Aber warum eigentlich? Der Entropiesatz der Physik lehrt uns: Gerümpel, sich selbst überlassen, nimmt zu. Wir befinden uns in einer Welt des prästabilierten Chaos. Ordnung ist ein viel unwahrscheinlicherer Zustand als Unordnung. Sortieren gehört zu den vertracktesten Knacknüssen der Informatik. Ohne nun zu einer Apologie der Unaufgeräumtheit als Quelle des Glücks anzusetzen, könnte man sagen: Der Tidie in uns ist unwahrscheinlicher als der Messie – und man versuche, damit zu leben. Gut zu leben. Denn wer mit Marie Kondo die Dinge beseelen will, sollte nicht vergessen, dass diese Seele in der Geschichte der Dinge wohnt. Gibt es eine schönere Form der Liebe zu den Dingen als mit ihnen zusammen mehr oder weniger unordentlich zu altern?


Obwohl sie erklärtermassen im Dienst der Sauberkeit und Gesundheit steht, sucht Ordentlichkeit insgeheim alle Spuren der Geschichte, des Nutzens und Abnutzens, des Lebens zu tilgen. Ordentlichkeit definiert einen künstlichen, sterilen Momentzustand, wie er in den Lifestyle-Magazinen eingefroren ist. Der „ordentliche Moment“ kennt keinen Prozess, keine Krankheit, keinen Verfall. Ordentlichkeit ist die Losung ungelebten Lebens.

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