Es gibt das Messie-Syndrom, das zwanghafte Sammeln und Anhäufen
von Gegenständen beliebiger Art und Herkunft. Es gibt auch das Gegenstück dazu,
die Aufräum-Manie. Man könnte dafür den Zwillingsbegriff „Tidie-Syndrom“ prägen
(„tidy up“ = aufräumen). Auf jeden Fall boomt das Genre. Dabei geht es in der
Regel nicht bloss um die Ordnung im Küchenregal, Kleiderschrank oder
Kellergestell, sondern um einen Spiritualismus der Ordentlichkeit. Mit dem
Haushalt wird das Selbst aufgeräumt. Hier eine kleine Auswahl an
Aufräumliteratur, allein aus dem Jahr 2016.
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Da wir offensichtlich genug vom Konsummüll eingedeckt
werden, liegt es nahe, diesen als das heimliche „Gift“ zu entsorgen, wie uns
zum Beispiel Kelly Barber in „The 30 Day Clutter Detox“ rät („Die 30-Tage-Gerümpel-Entgiftung“).
Monica Mynk fragt im Brustton gläubiger Rechtschaffenheit: „Ungodly Clutter:
How Can a Christian Live a Godly Life in a Messy World?“. Gerümpel steht auch
im Zusammenhang mit Dickleibigkeit. Sie kann ja quasi als Unaufgeräumtheit im eigenen
Körper betrachtet werden, und Fasten als eine Form physiologischen Entrümpelns.
Deshalb empfiehlt Peter Wahl in seinem „Lose the Clutter, Lose the Weight“ ein
sechswöchiges gemeinsames „Herunterschlanken“ von Haushalt und Körper, ein
„Total-Life Slim Down“. Die Aufräumberaterin Marin Rose spricht von der
„Gerümpelkultur“ („Clutter Culture“). Und sie fordert uns auf, unsere
„vergiftete Beziehung“ zu dieser Kultur aufzugeben, das heisst, „künftigen
Generationen eine gesündere Einstellung beizubringen, so dass unsere Kinder
nicht mehr ganze Industrien fordern werden, die sich um die ‚Entrümpelung
unseres Lebens’ kümmern.“ Solches Bemühen ist löblich, aber nicht
unwidersprüchlich. Frau Roses Buch „Breaking Up With Your Stuff: Emotional
Homework to End Your Toxic Relationship With the Clutter Culture“ baut auf
genau jene „ganze Industrie“, die sie beseitigen will. 2010 gründete Frau Rose
die Beratungsfirma „Libra Organizing“, die, wie die Website verkündet, „Order,
Balance, Beauty“ in die Haushalte bringt - vermutlich nicht gratis.
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Die neue Welle des Aufräumens beschäftigt sich nicht
einfach damit, betriebsökonomisch alle Tassen im Schrank zu haben, sie zielt ab
auf die Transmutation der häuslichen Sauordnung in häusliches Nirwana. Hoch im
Kurs befindet sich aktuell Marie Kondo. Die Japanerin reanimiert eine
animistische Haltung im Haushalt. Sie empfiehlt, den Dingen eine besondere,
„magische“ Aufmerksamkeit zu schenken, sich sozusagen in deren Perspektive zu
versetzen. Wenn man also zum Beispiel Socken ordnen will, sollte man dies „um
der Socken willen“ tun. Das heisst, man sollte sich innewerden, dass Socken in
ihrer alltäglichen Dienstleistung eine „brutale Behandlung“ erleiden, „gefangen
zwischen Fuss und Schuh“; dass sie „Druck und Reibung aushalten müssen, um
unsere kostbaren Füsse zu schützen.“ Aus diesem Grund sollte man sie liebevoll
falten, denn so macht man sie „viel glücklicher“ und sie geben einen
„Stossseufzer der Erleichterung“ von sich. Frau Kondo empfiehlt sogar, mit
unseren Textilien zu reden: „Wenn wir sie falten, sollten wir unseren Kleidern
danken, dass sie unsere Körper beschützen.“ Dank ist auch angesagt, wenn es
darum geht, ein Kleidungsstück wegzuwerfen: „Ich danke dir für die Freude, die
du mir bereitet hast.“ Derart innerlich entrümpelt kann man dann das Textil
getrost auf den Altkleiderhaufen schmeissen.
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Für wie bescheuert man das halten mag, die
„beseelende“ Einstellung zu den Dingen liesse sich als Widerschein eines
entseelten Kosmos der Waren interpretieren, in dem die besinnungslose Konsum-
und Wegwerfhaltung die Dinge „entweiht“. Das ist nicht unplausibel, vom ganzen
New-Age-Klimbim einmal abgesehen. In der Tat drückt sich hier eine Art neue
Gebrauchseinstellung zu den Dingen unseres Alltags aus. Nur ein Ding zu
besitzen ist weit weniger erfüllend als mit ihm sozusagen in emotionaler,
seelischer „Symbiose“ zu leben. Im Übrigen sprach schon Martin Heidegger –
wenngleich im unverwechselbaren Cantus firmus der Seinsfeier – von den Dingen,
die uns „dingen“.
Hervorzuheben ist überdies, dass der
Minimalismus von Marie Kondo nicht Zivilisationsflucht meint. Die Verschlankung
des Haushalts, des Körpers, der Umgebung erfolgt in den dichtesten Zentren der Zivilisation.
Das ist eine gute Idee, solange sie keine schlechte ist, das heisst ins Extrem
abdriftet. „Tidying up“ trägt indes den Keim des Extremismus in sich, was
weniger Frau Kondo als dem Buchmarkt anzulasten ist. Er schreit förmlich nach
„extremistischen“ Ideen. Wir werden überschwemmt mit Büchern, deren zentrale
Mission darin besteht, „den“ Sündenbock für die Sauordnung der Welt zu finden:
Islamisten, das chinesische Regime, die römische Kurie, die Banken, überbehütende
Eltern, Facebook, Apple, Langeweile, Drogen, Zucker, Fett, Gluten oder eben:
Gerümpel. So gesehen bedient natürlich Frau Kondos Botschaft die Bedürfnislage
perfekt. Nicht ein bisschen aufräumen, lautet die Devise, sondern total
aufräumen. Tabula rasa. Erst dann beginnt das richtige Leben. Drinnen, nota
bene. Geschehe mit dem Gerümpel draussen, was will.
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Die grösste Gefahr der
Entrümpelungsidee steckt in ihrer infektiösen Plausibilität. Wenn schon
Gerümpel als Haufen unnützen Zeugs die tückische Tendenz erkennen lässt, sich
zu vermehren und auszubreiten, dann auch und vielleicht erst recht Gerümpel als
Kategorie. Hat sie sich einmal als fixe Idee in unserem Schädel festgekrallt,
kann die Kategorie leicht zur fortschreitenden Verrümpelung der Welt beitragen.
Nun nicht in dem Sinn, dass sich immer mehr Gerümpel zusammenläppert, sondern,
dass wir nur noch Gerümpel um uns sehen: ausserhalb des Hauses, auf der
Strasse, in Parks, im Büro, in anderen Lebensformen, Sprachen, Ideen, anderen
Menschen. Dann wird das Gerümpel tatsächlich toxisch.
Denn dann erhält das „Tidying
up“ einen garstigen Beiklang. Totalitäre Ideologien haben bekanntlich ein Flair
für das Entrümpeln, zum Beispiel von missliebigen Bevölkerungsgruppen. In
futurologischen Szenarios ist alle physische Arbeit „entrümpelt“, die Menschen
bewegen sich in sauberen, keimfreien Interieurs zwischen transparenten Wänden
und Displays. Eigentlich sind sie selbst „entrümpelt“, existieren sie bloss
noch als Datenbanken. Ist es ein Zufall, dass der Begründer des Futurismus,
Filippo Tommaso Marinetti, Faschist und glühender Verehrer der neuen Technologien,
das grosse Entsorgen alten Kulturgerümpels forderte. Sein „Tidying up“ tönte so:
„Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken, (…)
Leitet den Lauf der Kanäle um, um die Museen zu überschwemmen! (…) Ergreift die
Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reisst nieder, reisst ohne Erbarmen
die ehrwürdigen Städte nieder!“ Marinetti schrieb sogar ein „Manifest des
futuristischen Kochens“, in dem er die italienische Küche „entrümpelte“. Weg
mit der Pasta! Sie ruft nur Lethargie, Pessimismus und nostalgische Passivität
hervor!
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Bezeichnend ist übrigens die Entschuldigungsformel, mit der Gastgeber
gelegentlich ihre Gäste begrüssen: Achten Sie bitte nicht auf die Unordnung.
Wer sagt schon: Entschuldigen Sie bitte die Ordnung? Was implizite auf deren
normativen Vorrang hindeutet. Aber warum eigentlich? Der Entropiesatz der
Physik lehrt uns: Gerümpel, sich selbst überlassen, nimmt zu. Wir befinden uns
in einer Welt des prästabilierten Chaos. Ordnung ist ein viel
unwahrscheinlicherer Zustand als Unordnung. Sortieren gehört zu den
vertracktesten Knacknüssen der Informatik. Ohne nun zu einer Apologie der
Unaufgeräumtheit als Quelle des Glücks anzusetzen, könnte man sagen: Der Tidie
in uns ist unwahrscheinlicher als der Messie – und man versuche, damit zu leben.
Gut zu leben. Denn wer mit Marie Kondo die Dinge beseelen will, sollte nicht
vergessen, dass diese Seele in der Geschichte der Dinge wohnt. Gibt es eine
schönere Form der Liebe zu den Dingen als mit ihnen zusammen mehr oder weniger
unordentlich zu altern?
Obwohl sie erklärtermassen im Dienst der Sauberkeit und
Gesundheit steht, sucht Ordentlichkeit insgeheim alle Spuren der Geschichte,
des Nutzens und Abnutzens, des Lebens zu tilgen. Ordentlichkeit definiert einen
künstlichen, sterilen Momentzustand, wie er in den Lifestyle-Magazinen eingefroren
ist. Der „ordentliche Moment“ kennt keinen Prozess, keine Krankheit, keinen
Verfall. Ordentlichkeit ist die Losung ungelebten Lebens.
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