Holozän, Anthropozän, Technozän
Das Holozän ist die
jüngste erdgeschichtliche Epoche, fast zwölftausend Jahre alt. In diesem
Zeitraum hat sich die Natur in die Erdoberfläche eingezeichnet. Die Tektonik
schob die Kontinente etwas auseinander, im frühen Holozän fand ein Klimawandel
statt, das Land warf die Last der Eisschilder ab, der Spiegel der Meere erhöhte
sich markant, aus den wärmer werdenden Ozeanen stieg das Kohlendioxid in die
Atmosphäre, die „Sintflut“ suchte das Land heim. Aber das einschneidendste
Ereignis war das Erscheinen des Menschen, wie wir ihn heute kennen. Schätzungen
gemäss sollen zu Beginn des Holozäns zwischen einer und zehn Millionen Menschen
den Planeten bewohnt haben. Seither ist diese Population auf über sieben
Milliarden angewachsen, und diese besondere Art von Primaten ist im Begriff,
die Oberfläche des Planeten mit einer
Wucht umzugestalten, die vordem allein geologischen Kräften zugemutet wurde.
Deshalb hat es sich eingebürgert, von einem neuen erdgeschichtlichen Zeitalter
zu sprechen, in dem die Natur dem Mensch gewissermassen den Stab der
Gestaltungsmacht übergibt: das Anthropozän.
Dieser Begriff wurde vom
Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen in einem Artikel der Zeitschrift „Nature“
geprägt.[i] Er
datierte den Beginn dieses Zeitalters auf die Mitte des letzten Jahrhunderts,
die Zeit also des Plutonium-Fallouts von Atomtests, des starken Anstiegs von
fossilem Brennstofverbrauch, dem Ausstoss von CO2 und vieler anderer
Stoffe. Am 29. August 2016 präsentierte die Anthropocene Working Group, eine
fachlich hochkarätige Untergruppe der International Commission on Stratigraphy,
in Kapstadt offiziell den Vorschlag, „Holozän“ in „Anthropozän“ umzubenennen.
Da aber vor allem
Technik und Wissenschaft die eigentlichen Faktoren dieser Wirkmacht darstellen,
sollte eigentlich präziser vom Technozän
die Rede sein. Und dies nicht zuletzt auch, um darauf hinzuweisen, dass der
„Anthropos“ sich nicht in allen Erdteilen auf der gleichen technischen
Entwicklungshöhe befindet. Es sind vielmehr ganz bestimmte, stark
technik-abhängige Lebensformen, Wirtschaftssysteme und politische Strategien,
die heute weite Teile des Planeten dominieren, und somit transportiert der
Begriff des Technozäns implizit ein kritische Sicht auf die ungleiche globale
Entwicklung der Technik.
Die vorliegenden
Essays sind durchaus in einem solch kritischen Geist verfasst. Sie handeln aber
in erster Linie nicht von den globalen Folgen der neuen Technologien und ihrer
Wirkmächtigkeit, sondern vielmehr von der Art und Weise, wie der Mensch mit den
Geräten eine neue Symbiose eingeht. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat
wiederholt auf dieses spezielle Verhältnis des Menschen zu Dingen hingewiesen:
„Die Gegenstände gehen (..) mit dem Menschen ein oft
symbiotisches Verhältnis ein (..) Angesichts der Verflechtung zwischen unserem Überleben und dem der Dinge, die wir herstellen, empfiehlt es sich, die
Beziehungen, die wir mit den Objekten eingehen, etwas genauer zu untersuchen.
Denn wenn wir nicht zu einem besseren Verständnis der Dinge gelangen, laufen
wir Gefahr, uns ihnen mit Haut und Haar auszuliefern. Ich möchte (..) betonen,
dass wir nicht nur physisch, sondern, was viel wichtiger ist, auch psychisch
von den Dingen abhängig sind.“ [ii]
Man kann statt von
Dingen auch von Artefakten sprechen. In der Symbiose mit ihnen stösst
unser Selbstverständnis an vielen Stellen auf Herausforderungen, und
entsprechend ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Neubestimmung des
Humanen in den Umwelten des Künstlichen. Die Herausforderungen sind häufig
nicht sichtbar, sie manifestieren sich als nichtintendierte Konsequenzen des
Technikgebrauchs. Und aus diesem Grund gewinnt an Bedeutung, was ich das
„Unbewusste der Technik“ nennen möchte.
Das Unbewusste der Technik
Auf die
Alltäglichkeit eines Geräts folgt seine Unsichtbarkeit. Und Unsichtbarkeit
gehört zum Signum der Macht. So verhält es sich auch mit der Macht von Geräten.
Sie sinken ab in Routine, Gewohnheit, Selbstverständlichkeit. Das ist in
mancherlei Hinsicht von Vorteil. Ich kann mich, um mich zu waschen, auf eine
funktionierende Wasserzuleitung verlassen; die Elektrizitätsversorgung
garantiert mir den Steckdosenkomfort im Haushalt; eine effiziente Entsorgungsanlage
nimmt mir die „Sorge“ um den Abfall ab; die Transportsysteme gestatten mir eine
Beweglichkeit weit über das Lokale hinaus; zu schweigen von den neuen
Kommunikationsoptionen der elektronischen Medien.
Technik
sedimentiert in unserem Habitus, und dies hat in technisch avancierten
Gesellschaften dazu geführt, dass die Geräte meist nur dann aus dem „Unbewussten“
auftauchen, wenn sie nicht funktionieren. Und selbst dann stellt sich meist
bloss ein besonderes Problem der Reparatur und Wartung, nicht ein allgemeineres
der Conditio humana. Gewiss, eine kaputte Wasserleitung flicken wir nicht durch
philosophische Reflexion. Aber in dem Masse, in dem Technik einsinkt in unsere
Gewohnheiten, in dem Masse macht sie sich als ein unumgängliches Thema der
Anthropologie bemerkbar. Technik wird invasiver, intimer, „persönlicher“. Ein
banales Beispiel: In Diskussionen über Gadgets und Apps fällt ein neuerdings
erhobener persönlicher Ton auf. Was hast du gegen Google+? bedeutet so viel
wie: Was hast du gegen mich? Das Gerät scheint zu einem Identitätshalter (wenn
nicht gar zu einer Identitätsprothese) zu werden. Bereits die Rede vom Technik-„Nutzer“
ist deshalb eigentlich irreführend. Sie suggeriert eine Dualität: Hier der
Mensch, dort die Technik. Aber längst sind wir nicht mehr die souveränen
menschlichen Subjekte, die einfach technische Objekte benutzen. Die Geräte „benutzen“
auch uns. Wir bilden mit ihnen „symbiotische“ Einheiten aus Mensch-plus-Gerät.
Conditio techno-humana
Mit dieser Conditio
techno-humana verknüpfen sich Risiken, deren zeitliche Fernwirkung wir kaum
abschätzen können. Natürlich gibt es das Technology Assessment, aber ohne an
dessen Wert zu zweifeln, möchte ich behaupten, dass es eine Dimension viel zu
wenig berücksichtigt. Wie uns schon die Psychoanalyse lehrte, ist das
Unbewusste schwer kontrollierbar, und gerade dadurch übt es seine Macht auf
uns aus. Jede Technik schafft Anreize zu einem bestimmten Verhalten und zu
bestimmten Haltungen, und diese Anreize können sich in Abhängigkeiten
verwandeln. „Sach“-Zwänge sind grösstenteils auf die Sache projizierte „Selbst“-Zwänge,
die sich über Gewohnheiten in uns eingeschliffen haben.
Technik ist
politisch. Die meisten von uns haben sich irgendeinmal relativ frei
entschieden, ein Auto, einen Computer, ein Fernsehgerät, ein Handy
anzuschaffen. Wirft man aus geringer Höhe einen Blick zurück auf die jüngere Technikgeschichte,
erscheint diese als eine Parade grandioser Erfindungen, die uns ununterbrochen
einreden, unser Leben sei dank ihnen anders, besser, schöner, leichter
geworden. Das verwundert eigentlich auch kaum, denn die Geschichte von neuen
Medien und Geräten ist in ihrer Anfangsphase kaum von deren Promotion zu
unterscheiden; sie wird vorzugsweise von Designern und Marktschreiern
geschrieben, die ihre Produkte an die Frau und an den Mann bringen wollen. Sie wollen
uns Alternativlosigkeit einreden: Es gibt nichts Anderes, nichts Besseres! In
diesem Sinn gleichen technische Innovationen gesetzgeberischen Akten. Ihre
Macht beruht darauf, dass sie die Bedingungen des öffentlichen, beruflichen und
privaten Lebens mitdefinieren und auf Generationen hinaus festlegen können. Technische
Innovationen werden immer mehr im Schosse von global agierenden Konzernen mit
ihren eigenen korporativen Interessen und Geheimnissen ausgeheckt, und das lädt
sie mit besonderer politischer Brisanz auf. Die Rede von der Conditio techno-humana
ist gerade hier angemessen und angezeigt.
Technik ist „trojanisch“
Wie jede Macht
schmückt sich auch technische mit Mythen. Zum Kernbestand dieser Mythologie
gehören heute: Souveränität, Sicherheit, Entlastung, Voraussicht. Technik macht
uns frei und stark; sie macht unser Leben sicher; sie entlässt uns aus den
Mühlen der Routine; sie erlaubt uns einen klaren Blick in die Zukunft. Ich
ziehe nicht die Fortschritte in Zweifel, die wir dank diesen Errungenschaften
erzielt haben. Wir sollten nur hellsichtiger gegenüber der Dialektik des
Fortschritts werden, die uns auch neue Abhängigkeiten, Unsicherheiten,
Belastungen und Unübersichtlichkeiten beschert. In diesem Sinn erweist sich Technik
von ihrem Wesen her als „trojanisch“. Ihr Nutzen ist stets von unbeabsichtigten
verborgenen Nebeneffekten begleitet.
Besonders ein Trend
verlangt nach Wachsamkeit: die quasi-religiöse Erwartung. Vermehrt umgeben sich
die neuen Geräte auf dem Markt mit der Aura, von einem „Gott“ geschaffen worden
zu sein – „machinae ex deo“. Die Kundenbindung von Apple zum Beispiel
funktioniert nur deshalb so effizient, weil die globale Nutzerherde inzwischen
durch die Liturgie der Werbung dermassen in Stimmung versetzt ist, dass sie
jedes Jahr die neueste Generation von iProdukten zu sich nimmt wie Gläubige die
Oblate in der Kirche. Die Entwicklung ist hier nicht zu Ende. Die
Technikverehrung nimmt sektiererische Züge an. Nun beginnt man der Gottheit in
der künstlichen Intelligenz – „deus in machina“ – zu huldigen.
Nicht zuletzt gibt
aber das Unbewusste der Technik noch aus einem anderen Grund zu denken. Zwar
leugnet niemand die Imprägniertheit unseres Lebens durch die Technik. Aber das
Thema wird kaum auf ein kritisches Reflexionsniveau gehoben. Unüberhörbar sind
aus dem Lager der „Technorati“ beschwipste Töne zu vernehmen, die das Paradies dank
„Enhancement“ des Menschen durch Geräte versprechen und eigentlich immer nur
eines meinen: die Absatzmärkte neuer Tools und Apps. Dass damit das Bild des
autonomen, selber entscheidenden menschlichen Individuums Zug um Zug ausradiert
wird, manifestiert eine geradezu Orwellsche Paradoxie: Technik macht den
Menschen in dem Masse freier, in dem er sich unter ihre Herrschaft begibt.
Noch eine Bemerkung
zum Titel. „Digitalisierung“ bezieht sich auf die neuesten Technologien, die
unser soziales Leben immer mehr bestimmen. Die meisten Essays handeln auch vom
Einfluss dieser Technologien auf den Menschen. Trotzdem ist die Horizontlinie
weiter gezogen. Die Digitalisierung ist nur die vorläufig letzte Etappe einer
Symbiose von Mensch und Technik, die stets von der latenten Gefahr begleitet
ist, dass sich der Mensch zu sehr an die Geräte adaptiert. Die generellere
Frage stellt sich also, ob und inwieweit der Mensch einen Platz zu behaupten
vermag, der ihm mehr zusichert als die Existenz eines blossen
Geräte-Fortsatzes.
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