Dienstag, 4. September 2018

Prolog: Die Symbiose von Mensch und Technik






Aus meinem neuesten Buch: Trojanische Pferde unserer Zeit, Schwabe Verlag Basel, Reflexe 55


Holozän, Anthropozän, Technozän
Das Holozän ist die jüngste erdgeschichtliche Epoche, fast zwölftausend Jahre alt. In diesem Zeitraum hat sich die Natur in die Erdoberfläche eingezeichnet. Die Tektonik schob die Kontinente etwas auseinander, im frühen Holozän fand ein Klimawandel statt, das Land warf die Last der Eisschilder ab, der Spiegel der Meere erhöhte sich markant, aus den wärmer werdenden Ozeanen stieg das Kohlendioxid in die Atmosphäre, die „Sintflut“ suchte das Land heim. Aber das einschneidendste Ereignis war das Erscheinen des Menschen, wie wir ihn heute kennen. Schätzungen gemäss sollen zu Beginn des Holozäns zwischen einer und zehn Millionen Menschen den Planeten bewohnt haben. Seither ist diese Population auf über sieben Milliarden angewachsen, und diese besondere Art von Primaten ist im Begriff, die Oberfläche des Planeten mit  einer Wucht umzugestalten, die vordem allein geologischen Kräften zugemutet wurde. Deshalb hat es sich eingebürgert, von einem neuen erdgeschichtlichen Zeitalter zu sprechen, in dem die Natur dem Mensch gewissermassen den Stab der Gestaltungsmacht übergibt: das Anthropozän.

Dieser Begriff wurde vom Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen in einem Artikel der Zeitschrift „Nature“ geprägt.[i] Er datierte den Beginn dieses Zeitalters auf die Mitte des letzten Jahrhunderts, die Zeit also des Plutonium-Fallouts von Atomtests, des starken Anstiegs von fossilem Brennstofverbrauch, dem Ausstoss von CO2 und vieler anderer Stoffe. Am 29. August 2016 präsentierte die Anthropocene Working Group, eine fachlich hochkarätige Untergruppe der International Commission on Stratigraphy, in Kapstadt offiziell den Vorschlag, „Holozän“ in „Anthropozän“ umzubenennen.

Da aber vor allem Technik und Wissenschaft die eigentlichen Faktoren dieser Wirkmacht darstellen, sollte eigentlich präziser vom Technozän die Rede sein. Und dies nicht zuletzt auch, um darauf hinzuweisen, dass der „Anthropos“ sich nicht in allen Erdteilen auf der gleichen technischen Entwicklungshöhe befindet. Es sind vielmehr ganz bestimmte, stark technik-abhängige Lebensformen, Wirtschaftssysteme und politische Strategien, die heute weite Teile des Planeten dominieren, und somit transportiert der Begriff des Technozäns implizit ein kritische Sicht auf die ungleiche globale Entwicklung der Technik.

Die vorliegenden Essays sind durchaus in einem solch kritischen Geist verfasst. Sie handeln aber in erster Linie nicht von den globalen Folgen der neuen Technologien und ihrer Wirkmächtigkeit, sondern vielmehr von der Art und Weise, wie der Mensch mit den Geräten eine neue Symbiose eingeht. Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat wiederholt auf dieses spezielle Verhältnis des Menschen zu Dingen hingewiesen:
„Die Gegenstände gehen (..) mit dem Menschen ein oft symbiotisches Verhältnis ein (..) Angesichts der Verflechtung zwischen unserem Überleben und dem der Dinge, die wir herstellen, empfiehlt es sich, die Beziehungen, die wir mit den Objekten eingehen, etwas genauer zu untersuchen. Denn wenn wir nicht zu einem besseren Verständnis der Dinge gelangen, laufen wir Gefahr, uns ihnen mit Haut und Haar auszuliefern. Ich möchte (..) betonen, dass wir nicht nur physisch, sondern, was viel wichtiger ist, auch psychisch von den Dingen abhängig sind.“ [ii]

Man kann statt von Dingen auch von Artefakten sprechen. In der Symbiose mit ihnen stösst unser Selbstverständnis an vielen Stellen auf Herausforderungen, und entsprechend ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Humanen in den Umwelten des Künstlichen. Die Herausforderungen sind häufig nicht sichtbar, sie manifestieren sich als nichtintendierte Konsequenzen des Technikgebrauchs. Und aus diesem Grund gewinnt an Bedeutung, was ich das „Unbewusste der Technik“ nennen möchte.

Das Unbewusste der Technik
Auf die Alltäglichkeit eines Geräts folgt seine Unsichtbarkeit. Und Unsichtbarkeit gehört zum Signum der Macht. So verhält es sich auch mit der Macht von Geräten. Sie sinken ab in Routine, Gewohnheit, Selbstverständlichkeit. Das ist in mancherlei Hinsicht von Vorteil. Ich kann mich, um mich zu waschen, auf eine funktionierende Wasserzuleitung verlassen; die Elektrizitätsversorgung garantiert mir den Steckdosenkomfort im Haushalt; eine effiziente Entsorgungsanlage nimmt mir die „Sorge“ um den Abfall ab; die Transportsysteme gestatten mir eine Beweglichkeit weit über das Lokale hinaus; zu schweigen von den neuen Kommunikationsoptionen der elektronischen Medien.

Technik sedimentiert in unserem Habitus, und dies hat in technisch avancierten Gesellschaften dazu geführt, dass die Geräte meist nur dann aus dem „Unbewussten“ auftauchen, wenn sie nicht funktionieren. Und selbst dann stellt sich meist bloss ein besonderes Problem der Reparatur und Wartung, nicht ein allgemeineres der Conditio humana. Gewiss, eine kaputte Wasserleitung flicken wir nicht durch philosophische Reflexion. Aber in dem Masse, in dem Technik einsinkt in unsere Gewohnheiten, in dem Masse macht sie sich als ein unumgängliches Thema der Anthropologie bemerkbar. Technik wird invasiver, intimer, „persönlicher“. Ein banales Beispiel: In Diskussionen über Gadgets und Apps fällt ein neuerdings erhobener persönlicher Ton auf. Was hast du gegen Google+? bedeutet so viel wie: Was hast du gegen mich? Das Gerät scheint zu einem Identitätshalter (wenn nicht gar zu einer Identitätsprothese) zu werden. Bereits die Rede vom Technik-„Nutzer“ ist deshalb eigentlich irreführend. Sie suggeriert eine Dualität: Hier der Mensch, dort die Technik. Aber längst sind wir nicht mehr die souveränen menschlichen Subjekte, die einfach technische Objekte benutzen. Die Geräte „benutzen“ auch uns. Wir bilden mit ihnen „symbiotische“ Einheiten aus Mensch-plus-Gerät.

Conditio techno-humana
Mit dieser Conditio techno-humana verknüpfen sich Risiken, deren zeitliche Fernwirkung wir kaum abschätzen können. Natürlich gibt es das Technology Assessment, aber ohne an dessen Wert zu zweifeln, möchte ich behaupten, dass es eine Dimension viel zu wenig berücksichtigt. Wie uns schon die Psychoanalyse lehrte, ist das Unbewusste schwer kontrollierbar, und gerade dadurch übt es seine Macht auf uns aus. Jede Technik schafft Anreize zu einem bestimmten Verhalten und zu bestimmten Haltungen, und diese Anreize können sich in Abhängigkeiten verwandeln. „Sach“-Zwänge sind grösstenteils auf die Sache projizierte „Selbst“-Zwänge, die sich über Gewohnheiten in uns eingeschliffen haben.

Technik ist politisch. Die meisten von uns haben sich irgendeinmal relativ frei entschieden, ein Auto, einen Computer, ein Fernsehgerät, ein Handy anzuschaffen. Wirft man aus geringer Höhe einen Blick zurück auf die jüngere Technikgeschichte, erscheint diese als eine Parade grandioser Erfindungen, die uns ununterbrochen einreden, unser Leben sei dank ihnen anders, besser, schöner, leichter geworden. Das verwundert eigentlich auch kaum, denn die Geschichte von neuen Medien und Geräten ist in ihrer Anfangsphase kaum von deren Promotion zu unterscheiden; sie wird vorzugsweise von Designern und Marktschreiern geschrieben, die ihre Produkte an die Frau und an den Mann bringen wollen. Sie wollen uns Alternativlosigkeit einreden: Es gibt nichts Anderes, nichts Besseres! In diesem Sinn gleichen technische Innovationen gesetzgeberischen Akten. Ihre Macht beruht darauf, dass sie die Bedingungen des öffentlichen, beruflichen und privaten Lebens mitdefinieren und auf Generationen hinaus festlegen können. Technische Innovationen werden immer mehr im Schosse von global agierenden Konzernen mit ihren eigenen korporativen Interessen und Geheimnissen ausgeheckt, und das lädt sie mit besonderer politischer Brisanz auf. Die Rede von der Conditio techno-humana ist gerade hier angemessen und angezeigt.

Technik ist „trojanisch“
Wie jede Macht schmückt sich auch technische mit Mythen. Zum Kernbestand dieser Mythologie gehören heute: Souveränität, Sicherheit, Entlastung, Voraussicht. Technik macht uns frei und stark; sie macht unser Leben sicher; sie entlässt uns aus den Mühlen der Routine; sie erlaubt uns einen klaren Blick in die Zukunft. Ich ziehe nicht die Fortschritte in Zweifel, die wir dank diesen Errungenschaften erzielt haben. Wir sollten nur hellsichtiger gegenüber der Dialektik des Fortschritts werden, die uns auch neue Abhängigkeiten, Unsicherheiten, Belastungen und Unübersichtlichkeiten beschert. In diesem Sinn erweist sich Technik von ihrem Wesen her als „trojanisch“. Ihr Nutzen ist stets von unbeabsichtigten verborgenen Nebeneffekten begleitet.

Besonders ein Trend verlangt nach Wachsamkeit: die quasi-religiöse Erwartung. Vermehrt umgeben sich die neuen Geräte auf dem Markt mit der Aura, von einem „Gott“ geschaffen worden zu sein – „machinae ex deo“. Die Kundenbindung von Apple zum Beispiel funktioniert nur deshalb so effizient, weil die globale Nutzerherde inzwischen durch die Liturgie der Werbung dermassen in Stimmung versetzt ist, dass sie jedes Jahr die neueste Generation von iProdukten zu sich nimmt wie Gläubige die Oblate in der Kirche. Die Entwicklung ist hier nicht zu Ende. Die Technikverehrung nimmt sektiererische Züge an. Nun beginnt man der Gottheit in der künstlichen Intelligenz – „deus in machina“ – zu huldigen.

Nicht zuletzt gibt aber das Unbewusste der Technik noch aus einem anderen Grund zu denken. Zwar leugnet niemand die Imprägniertheit unseres Lebens durch die Technik. Aber das Thema wird kaum auf ein kritisches Reflexionsniveau gehoben. Unüberhörbar sind aus dem Lager der „Technorati“ beschwipste Töne zu vernehmen, die das Paradies dank „Enhancement“ des Menschen durch Geräte versprechen und eigentlich immer nur eines meinen: die Absatzmärkte neuer Tools und Apps. Dass damit das Bild des autonomen, selber entscheidenden menschlichen Individuums Zug um Zug ausradiert wird, manifestiert eine geradezu Orwellsche Paradoxie: Technik macht den Menschen in dem Masse freier, in dem er sich unter ihre Herrschaft begibt.

Noch eine Bemerkung zum Titel. „Digitalisierung“ bezieht sich auf die neuesten Technologien, die unser soziales Leben immer mehr bestimmen. Die meisten Essays handeln auch vom Einfluss dieser Technologien auf den Menschen. Trotzdem ist die Horizontlinie weiter gezogen. Die Digitalisierung ist nur die vorläufig letzte Etappe einer Symbiose von Mensch und Technik, die stets von der latenten Gefahr begleitet ist, dass sich der Mensch zu sehr an die Geräte adaptiert. Die generellere Frage stellt sich also, ob und inwieweit der Mensch einen Platz zu behaupten vermag, der ihm mehr zusichert als die Existenz eines blossen Geräte-Fortsatzes.




[i]    Paul Crutzen: Geology of Mankind, Nature, 415, 3.1.2002.
[ii]   Mihaly Csikszentmihalyi: Warum wir Dinge brauchen, in Anke Ortlepp&Christoph Ribbat (Hg.): Mit den Dingen leben, Stuttgart, 2010, S.21-32.

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