Donnerstag, 9. August 2018

Wird auch die Physik postfaktisch?







NZZ, 3.8.2018

Der Streit um das Multiversum

Seit einiger Zeit schon steht die Idee des Multiversums im Brennpunkt heftiger physikalischer Debatten. Sie ist im Grunde alt, und sie resultiert aus einer fortgesetzten Provinzialisierung der menschlichen Position im Kosmos: Unser Sonnensystem ist eine Provinz in unzähligen Sonnensystemen, unsere Galaxie eine Provinz in unzähligen Galaxien - diese Iteration lässt sich fortführen bis zum Universum: Es ist eine Provinz im System unzähliger Universen: dem Multiversum.

Nun muss man sich vergegenwärtigen, dass wir es hier nicht bloss mit einer innerphysikalischen Debatte zu tun haben, sondern mit der fundamentalen wissenschaftstheoretischen Frage nach der Neukonzeption der Physik: Ist die Idee des Multiversums noch Wissenschaft? Wie wollen wir uns versichern, dass es wirklich existiert? Wir können ja nur beobachten, was in unserem Universum geschieht! Und so gesehen, erscheint der Fall hoffnungslos: Die Idee lässt sich nicht einmal falsifizieren. Also hat sie überhaupt keinen wissenschaftlichen Wert – zumindest nach dem berühmten Falsifikationskriterium von Karl Popper.

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Was also? Eine ziemlich streitbare Faktion von Wissenschaftern und Philosophen dreht den Spiess einfach um: Uns gefällt die Theorie, und wenn sie nicht falsifizierbar ist, dann zur Hölle mit dem Falsifikationskriterium! Damit steht nun das Konzept der Empirie selber zur Debatte.

Der einflussreiche Kosmologe Sean Carroll argumentiert folgendermassen: Wir haben uns derart weit von den herkömmlichen Bedingungen des Beobachtens entfernt, dass wir uns der Frage stellen müssen: Greifen die traditionellen Kriterien der Empirie überhaupt noch? Wenn der Kosmos tatsächlich ein Multiversum ist, dann müssten wir uns ihm mit anderen konzeptuellen und methodischen Mitteln nähern. Es ist an der Zeit, unser wissenschaftliches Vorgehen neu zu überdenken und uns mit einem neuen Genre zu beschäftigen, der post-empirischen Forschung. Beobachtung und Experiment sind klassische Mittel, aber manchmal sind sie einfach nicht möglich. Das bedeutet nun freilich nicht, dass man nicht Wissenschaft betreibt. Vielmehr wäre zu überlegen, wie sich auch post-empirisch Erkenntnisse gewinnen liessen.

Andere Wissenschafter reagieren alarmiert. Der Mathematiker George Ellis und der Astrophysiker Joe Silk nahmen 2014 in einem Brief an die Zeitschrift „Nature“ die rezenten Theorienkonstruktionen ihrer Fachkollegen aufs Korn: „Dieses Jahr vollzog sich in den Debatten der Physiker eine beunruhigende Wende. Angesichts der Schwierigkeiten, fundamentale Theorien auf das beobachtete Universum anzuwenden, riefen einige Forscher dazu auf, die Art des Theoretisierens zu ändern. Sie begannen – explizite – zu behaupten, dass eine hinreichend elegante und explikative Theorie nicht empirisch überprüft werden müsse, und sie brachen so mit einer jahrhundertealten philosophischen Tradition, die wissenschaftliches Wissen als empirisch definiert. Wir stimmen dem nicht zu. Wie der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper argumentierte, muss eine Theorie falsifizierbar sein, um als wissenschaftlich zu gelten.“

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Als irritierend erscheint an der Idee des Multiversums, dass sie aus dem dualistischen Raster Wissenschaft-Nichtwissenschaft fällt. Sie ist keine wissenschaftliche Hypothese im Popperschen Sinn, aber auch nicht einfach Pseudowissenschaft. Was ist sie dann? Der britische Publizist Steven Poole hat eine treffende Bescheibung vorgeschlagen. Er nennt solche Ideen „Placebo-Ideen“. Wie ein Mittel, das keine Wirkstoffe enthält und trotzdem wirkt, weil es „gefällt“, so gibt es Ideen, die nicht geprüft werden können, aber dennoch „gefallen“, weil sie eine heuristische Wirkung ausüben. Sie produzieren Fragen, öffnen Horizonte und halten insofern den wissenschaftlichen Topf am Kochen.

Man könnte vom Barmherzigkeitsprinzip für Ideen sprechen: Lass ihnen Zeit, das Potenzial ihrer möglichen Konsequenzen zu entfalten. So mag die Idee des Multiversums absurd anmuten, aber absurde Ideen haben in der Vergangenheit immer wieder zu testbaren Konklusionen geführt. Die Idee des Atoms galt zuerst als absurd, weil nicht durch Beobachtung zu rechtfertigen; die Quantenfeldtheorie des Elektrons führte zur unerwarteten Idee der Antimaterie, die Allgemeine Relativitätstheorie zur Idee des Urknalls und des schwarzen Lochs - auf den ersten Blick Absurditäten.

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Ideen sind der Grundstoff der Forschung - und verrückte Ideen der Motor. Wenn der bisherige Begriffsapparat nicht mehr zur Lösung eines Problems taugt, müssen wir gelegentlich die alten Begriffsschrauben lockern und einen neuen Apparat bauen. Dann beginnen wir von solchen exotischen Dingen wie Strings und Branen, von dunkler Energie und dunkler Materie, von Schleifen-Quanten-Gravitation und Deformierter Spezieller Relativitätsheorie zu sprechen, und den Experimentalphysikern wird schwindlig bei der Frage, wie sie das alles überprüfen sollen.

Wirf also eine Theorie nicht weg, wenn du nicht alle ihre Konsequenzen verfolgt hast. Das scheint eine favorisierte Verteidigungsstrategie der Multiversums-Theoretiker zu sein. Zudem verbinden sie die Idee des Multiversums mit einer anderen Idee, jene der permanenten Inflation. Stellen wir uns das Multiversum wie einen ständig aufgehenden Brotteig vor, in dem wiederholt neue Löcher entstehen: Universen mit ihren provinziellen Naturgesezten und -konstanten. Diese Universen könnten unter Umständen kollidieren und beobachtbare Spuren hinterlassen, zum Beispiel besondere Muster in der kosmischen Hintergrundstrahlung, dem bisher einzigen robusten empirischen Relikt unseres provinziellen Urknalls. Wir warten darauf...

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Es gibt Regionen unseres Universums, die jenseits des Beobachtbaren liegen. Das darf als Tatsache gelten. Über dieses Jenseits zu spekulieren, ist legitim, sofern die Spekulation sich auf einer Ebene bewegt, welche die gegenwärtige Physik zulässt. Aber die Ebene ist schief, es besteht Rutschgefahr vom Wissen in den Glauben. Wie der Physiker Paul Davis schreibt: „Wenn man diese schiefe Ebene hinunterrutscht, muss immer mehr auf guten Glauben, und immer weniger auf wissenschaftliche Bestätigung gestützt werden. Extreme Multiversums-Erklärungen erinnern deshalb an theologische Debatten. Das Bemühen, mit einer Unendlichkeit unsichtbarer Universen die ungewöhnlichen Merkmale des einzigen sichtbaren Universums zu erklären, ist genauso ad hoc wie der Appell an einen unsichtbaren Schöpfer. Die Theorie des Multiversums mag in wissenschaftliche Sprache gekleidet sein, aber sie verlangt im Wesentlichen den gleichen Glaubenssprung.“

Könnte das am Ende der Grund sein, warum uns die Idee des Multiversums „gefällt“? Die Aussicht auf eine Hypertheorie, die erklärt, warum unser Universum gerade so ist und nicht anders? Der Astrophysiker Martin Rees liebäugelt mit einer solchen ultimativen Sicht: „Vielleicht werden wir eines Tages eine überzeugende Theorie des Beginns unseres Universums haben; eine Theorie, die uns sagt, ob ein Multiversum existiert, und – falls so – ob einige sogenannte Naturgesetze bloss die provinzielle Gemeindeordnung in jenem kosmischen Flecken sind, in dem wir leben.“ Vielleicht – aber wie soll eine solche Theorie zu rechtfertigen sein? Niemand weiss es. Hier stehen wir vor einem wirklich fundamentalen Hindernis. Die herkömmlichen Naturgesetze können wir lokal im Labor überprüfen. Aber die Gesetze des Kosmos, die Gesetze eines Multiversums? Was wäre das Labor dafür?
Eigentlich befinden wir uns wieder auf Feld eins. Das heisst, es gibt durchaus noch eine andere Sicht auf die Debatte. Vielleicht handelt es sich um die letzten Konvulsionen eines seltsamen Erklärungshungers, der erst dann befriedigt ist, wenn er die „ultimative“ Weltsicht einverleibt hat. Manchmal will einem die ganze theoretische Gipfelstürmerei wie eine lächerliche Hybris des Menschen erscheinen, der sich einen „Gottesgesichtspunkt“ anmasst, und dabei vergisst, dass er unentrinnbar ein Provinzler bleibt.


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