NZZ, 3.8.2018
Der
Streit um das Multiversum
Seit
einiger Zeit schon steht die Idee des Multiversums im
Brennpunkt heftiger physikalischer Debatten. Sie ist im Grunde alt, und sie resultiert
aus einer fortgesetzten Provinzialisierung der menschlichen Position im Kosmos:
Unser Sonnensystem ist eine Provinz in unzähligen Sonnensystemen, unsere
Galaxie eine Provinz in unzähligen Galaxien - diese Iteration lässt sich fortführen
bis zum Universum: Es ist eine Provinz im System unzähliger Universen: dem Multiversum.
Nun muss man sich vergegenwärtigen, dass wir es
hier nicht bloss mit einer innerphysikalischen Debatte zu tun haben, sondern
mit der fundamentalen wissenschaftstheoretischen Frage nach der Neukonzeption
der Physik: Ist die Idee des Multiversums noch Wissenschaft? Wie wollen wir uns
versichern, dass es wirklich existiert? Wir können ja nur beobachten, was in
unserem Universum geschieht! Und so gesehen, erscheint der Fall hoffnungslos:
Die Idee lässt sich nicht einmal falsifizieren. Also hat sie überhaupt keinen
wissenschaftlichen Wert – zumindest nach dem berühmten Falsifikationskriterium
von Karl Popper.
***
Was also? Eine ziemlich streitbare Faktion von
Wissenschaftern und Philosophen dreht den Spiess einfach um: Uns gefällt die
Theorie, und wenn sie nicht falsifizierbar ist, dann zur Hölle mit dem
Falsifikationskriterium! Damit steht nun das Konzept der Empirie selber zur
Debatte.
Der einflussreiche Kosmologe Sean Carroll
argumentiert folgendermassen: Wir haben uns derart weit von den herkömmlichen
Bedingungen des Beobachtens entfernt, dass wir uns der Frage stellen müssen:
Greifen die traditionellen Kriterien der Empirie überhaupt noch? Wenn der
Kosmos tatsächlich ein Multiversum ist, dann müssten wir uns ihm mit anderen
konzeptuellen und methodischen Mitteln nähern. Es ist an der Zeit, unser
wissenschaftliches Vorgehen neu zu überdenken und uns mit einem neuen Genre zu
beschäftigen, der post-empirischen Forschung. Beobachtung und Experiment sind
klassische Mittel, aber manchmal sind sie einfach nicht möglich. Das bedeutet
nun freilich nicht, dass man nicht Wissenschaft betreibt. Vielmehr wäre zu
überlegen, wie sich auch post-empirisch Erkenntnisse gewinnen liessen.
Andere Wissenschafter reagieren alarmiert. Der
Mathematiker George Ellis und der Astrophysiker Joe Silk nahmen 2014 in einem Brief
an die Zeitschrift „Nature“ die rezenten Theorienkonstruktionen ihrer
Fachkollegen aufs Korn: „Dieses Jahr vollzog sich in den Debatten der Physiker
eine beunruhigende Wende. Angesichts der Schwierigkeiten, fundamentale Theorien
auf das beobachtete Universum anzuwenden, riefen einige Forscher dazu auf, die
Art des Theoretisierens zu ändern. Sie begannen – explizite – zu behaupten,
dass eine hinreichend elegante und explikative Theorie nicht empirisch
überprüft werden müsse, und sie brachen so mit einer jahrhundertealten
philosophischen Tradition, die wissenschaftliches Wissen als empirisch definiert.
Wir stimmen dem nicht zu. Wie der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper argumentierte,
muss eine Theorie falsifizierbar sein, um als wissenschaftlich zu gelten.“
***
Als
irritierend erscheint an der Idee des Multiversums, dass sie aus dem
dualistischen Raster Wissenschaft-Nichtwissenschaft fällt. Sie ist keine wissenschaftliche
Hypothese im Popperschen Sinn, aber auch nicht einfach Pseudowissenschaft. Was
ist sie dann? Der britische Publizist Steven Poole hat eine treffende
Bescheibung vorgeschlagen. Er nennt solche Ideen „Placebo-Ideen“. Wie ein
Mittel, das keine Wirkstoffe enthält und trotzdem wirkt, weil es „gefällt“, so
gibt es Ideen, die nicht geprüft werden können, aber dennoch „gefallen“, weil
sie eine heuristische Wirkung ausüben. Sie produzieren Fragen, öffnen Horizonte
und halten insofern den wissenschaftlichen Topf am Kochen.
Man könnte vom Barmherzigkeitsprinzip für Ideen sprechen:
Lass ihnen Zeit, das Potenzial ihrer möglichen Konsequenzen zu entfalten. So
mag die Idee des Multiversums absurd anmuten, aber absurde Ideen haben in der
Vergangenheit immer wieder zu testbaren Konklusionen geführt. Die Idee des
Atoms galt zuerst als absurd, weil nicht durch Beobachtung zu rechtfertigen;
die Quantenfeldtheorie des Elektrons führte zur unerwarteten Idee der Antimaterie,
die Allgemeine Relativitätstheorie zur Idee des Urknalls und des schwarzen
Lochs - auf den ersten Blick Absurditäten.
***
Ideen sind der Grundstoff der
Forschung - und verrückte Ideen der Motor. Wenn der bisherige Begriffsapparat
nicht mehr zur Lösung eines Problems taugt, müssen wir gelegentlich die alten
Begriffsschrauben lockern und einen neuen Apparat bauen. Dann beginnen wir von
solchen exotischen Dingen wie Strings und Branen, von dunkler Energie und
dunkler Materie, von Schleifen-Quanten-Gravitation und Deformierter Spezieller
Relativitätsheorie zu sprechen, und den Experimentalphysikern wird schwindlig
bei der Frage, wie sie das alles überprüfen sollen.
Wirf
also eine Theorie nicht weg, wenn du nicht alle ihre Konsequenzen verfolgt
hast. Das scheint eine favorisierte Verteidigungsstrategie der
Multiversums-Theoretiker zu sein. Zudem verbinden sie die Idee des Multiversums
mit einer anderen Idee, jene der permanenten Inflation. Stellen wir uns das
Multiversum wie einen ständig aufgehenden Brotteig vor, in dem wiederholt neue
Löcher entstehen: Universen mit ihren provinziellen Naturgesezten und
-konstanten. Diese Universen könnten unter Umständen kollidieren und
beobachtbare Spuren hinterlassen, zum Beispiel besondere Muster in der kosmischen
Hintergrundstrahlung, dem bisher einzigen robusten empirischen Relikt unseres
provinziellen Urknalls. Wir warten darauf...
***
Es
gibt Regionen unseres Universums, die jenseits des Beobachtbaren liegen. Das
darf als Tatsache gelten. Über dieses Jenseits zu spekulieren, ist legitim,
sofern die Spekulation sich auf einer Ebene bewegt, welche die gegenwärtige
Physik zulässt. Aber die Ebene ist schief, es besteht Rutschgefahr vom Wissen
in den Glauben. Wie der Physiker Paul Davis schreibt: „Wenn man diese schiefe Ebene
hinunterrutscht, muss immer mehr auf guten Glauben, und immer weniger auf
wissenschaftliche Bestätigung gestützt werden. Extreme Multiversums-Erklärungen
erinnern deshalb an theologische Debatten. Das Bemühen, mit einer Unendlichkeit
unsichtbarer Universen die ungewöhnlichen Merkmale des einzigen sichtbaren
Universums zu erklären, ist genauso ad hoc wie der Appell an einen unsichtbaren
Schöpfer. Die Theorie des Multiversums mag in wissenschaftliche Sprache
gekleidet sein, aber sie verlangt im Wesentlichen den gleichen Glaubenssprung.“
Könnte das am Ende der Grund sein, warum uns die Idee des
Multiversums „gefällt“? Die Aussicht auf eine Hypertheorie, die erklärt, warum
unser Universum gerade so ist und nicht anders? Der Astrophysiker Martin Rees
liebäugelt mit einer solchen ultimativen Sicht: „Vielleicht werden wir eines
Tages eine überzeugende Theorie des Beginns unseres Universums haben; eine
Theorie, die uns sagt, ob ein Multiversum existiert, und – falls so – ob einige
sogenannte Naturgesetze bloss die provinzielle Gemeindeordnung in jenem
kosmischen Flecken sind, in dem wir leben.“ Vielleicht – aber wie soll eine
solche Theorie zu rechtfertigen sein? Niemand weiss es. Hier stehen wir vor
einem wirklich fundamentalen Hindernis. Die herkömmlichen Naturgesetze können
wir lokal im Labor überprüfen. Aber die Gesetze des Kosmos, die Gesetze eines
Multiversums? Was wäre das Labor dafür?
Eigentlich befinden wir uns wieder auf Feld eins. Das
heisst, es gibt durchaus noch eine andere Sicht auf die Debatte. Vielleicht
handelt es sich um die letzten Konvulsionen eines seltsamen Erklärungshungers,
der erst dann befriedigt ist, wenn er die „ultimative“ Weltsicht einverleibt
hat. Manchmal will einem die ganze theoretische Gipfelstürmerei wie eine
lächerliche Hybris des Menschen erscheinen, der sich einen
„Gottesgesichtspunkt“ anmasst, und dabei vergisst, dass er unentrinnbar ein
Provinzler bleibt.
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