Dienstag, 17. Oktober 2017

Die Abschaffung des Bürgers, wie wir ihn kannten







NZZ, 30.9.2017

Es gibt eine Soziologie des datifizierten Menschen. Alex Pentland, einer ihrer prononciertesten Vertreter, spricht ruhmredig von einer „Wiedererfindung der Gesellschaft im Sog von Big Data“. Pentland hat den sogenannten soziometrischen Ausweis („sociometric badge“) erfunden, einer Art von intelligenter Identitätskarte, die ich auf mir trage, und die ständig meinen Zustand und meine Wege im Netz registriert. Man rüstet etwa die Angestellten einer Firma mit einer solchen Karte aus. In ihr befinden sich Ortssensor, Akzelerometer, Mikrophon, die kontrollieren und registrieren, wohin man geht und mit wem man spricht. Pentland malt sich ein Szenario aus, in dem durch entsprechende Sensoren auch „persönliches Energieniveau“ und „Empathie und Extraversion“ gemessen werden können. Sein Slogan: „Was nicht gemessen werden kann, kann auch nicht gemanagt werden.“ Und gemanagt werden muss alles.

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Wen ein mulmiges Gefühl ob dieser Entwicklung beschleicht, dem könnte angesichts ihrer Weiterführung noch mulmiger zumute werden. Es geht nun nicht mehr bloss um das Messen, sondern auch um das automatische Beurteilen von Sozialverhalten. Neue sanft paternalistische Bewertungsmittel stehen zur Verfügung, zum Beispiel Habit engineering“, „Nudge factor“ oder neuerdings das „Sozialkreditsystem“. Dieses letztgenannte Instrument der Informationstechnologie erfreut sich heute besonders in autoritären Regimes an wachsender Beliebheit. Die kommunistische Führungsriege Chinas schwärmt davon. Man könnte von einem informationstechnisch aufgerüsteten Behaviorismus sprechen: Selbst-Konditionierung des Bürgers durch Selbst-Rating. Damit dressiert er sich selbst ein „ehrlicheres“, „vertrauenswürdigeres“, weniger „gemeinschaftsschädigendes“ Verhalten an. „Big Data offenbart einem die Zukunft,“ frohlockt der Generalsekretär des Parteikomitees für Politik und Recht, Wang Yongqing. Er fordert, die Partei solle eine „vollständige Sammlung anlegen von grundlegenden Informationen über alle Orte, alle Sachen, alle Angelegenheiten und alle Menschen: von den Trends und Informationen darüber, was sie essen, wie sie wohnen, wohin sie reisen und was sie konsumieren.“ Das würde „unser Frühwarnsystem wissenschaftlicher, unsere Abwehr und Kontrolle effektiver und unsere Schläge präziser“ machen.

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Kern des Sozialkreditsystems ist ein Algorithmus, der pausenlos Informationen sammelt, sortiert, analysiert und evaluiert. Wenn sich diese „beschleunigte Bestrafungssoftware“ wie geplant entwickelt, ist jedes abweichende Verhalten von vornherein ein Vertrauensbruch, ergo der „beschleunigten Bestrafung“ zuzuführen. Das Sozialkreditsystem bedient sich dabei eines typischen Neusprechs. Es geht allemal um „Verbesserung“, „Optimierung“, „Harmonisierung“. Bestrafung ist eine „Hilfe“. Und so beschreibt ein Parteisekretär die technokommunistische Endlösung: „Unser Ziel ist es, das Verhalten der Leute zu normieren. Wenn sich alle normgemäss verhalten, ist die Gesellschaft automatisch stabil und harmonisch.“ Eine Gesellschaft von abgerichteten sozialen Atomen. Mit dem Staat als Big Hacker.

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Das Projekt beraubt uns schleichend der Möglichkeit, uns anders als normgemäss zu verhalten. Es sagt ganz sanft: Wir verbieten dir nicht, dich nicht verbessern zu wollen, aber wir verstehen nicht, warum du dich nicht verbessern willst. In einem kleinen Essay des Titels „Über das, was wir nicht tun können“ unterscheidet der italienische Philosoph Giorgio Agamben zwei Grundarten der Machtausübung. Herkömmlicherweise besteht sie darin, dass sie die Entwicklungsmöglichkeiten eines Individuums einschränkt, etwa durch materielle Ressourcenverweigerung oder Verbote von Verhaltensweisen. Die tückischere Art besteht in einer anderen Einschränkung. Für Agamben ist der Mensch nicht „blind (geworden) für das, was er tun kann, sondern für das, was er nicht tun oder unterlassen kann.“ Das ist eine subtile Beobachtung, denn sie setzt das Unterlassen nicht als Unvermögen, sondern als ein Vermögen ein. Unterlassen muss man können: es lernen und üben, als zivile Renitenz. Sie wird in dem Masse wichtig, in dem Sozialingenieure, selbstgeblendet von ihrem Modell der Menschenoptimierung, die Grenze des Modells nicht mehr sehen, anders gesagt: ihr Modell für die Realität halten und auch die Macht haben, dieses Dafürhalten in die Realität umzusetzen.

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Gewiss, ich kann durchaus noch auf Handy, Facebook-Konto oder smarte Identitätskarte verzichten. Aber in einer Welt, in der immer mehr Leute ein Handy, ein Facebook-Konto und eine smarte Identitätskarte haben, stellt sich die schon fast existenzielle Frage nach den Folgen einer solchen Verzichtshaltung – zumal ich einen „Sozialkreditabzug“ riskieren würde, wenn ich mich den neuen Technologien verweigerte. Ich habe die Wahl, dieses oder jenes nicht zu tun – aber diesem Nicht-Tun entzieht man einfach den Sauerstoff seiner Ausübung. Es heisst dann nicht: Du musst, sondern: Du kannst nicht unterlassen. Wie es ein alter parteitreuer Vorzeige­chinese formuliert: „Wenn du viele Minuspunkte hast, dann tuscheln die anderen über dich: Guck mal, der da, das ist ein B. Oder ein C. Manchmal reicht es, wenn wir die Leute warnen: Du, wir stufen dich runter. Dann erschrecken sie.“ Eine Gesellschaft aus lauter denunzierenden Fieslingen.

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Wenn autoritäre Regimes wie das chinesische eine Vorreiterrolle in der Menschendressur spielen, sollte man gleichzeitig den Blick nicht von affinen Projekten in unseren westlichen Gefilden abwenden. Zum Beispiel von Facebook. Hier bereitet sich ein Techno-Totalitarismus mit jovialem Gesicht vor. Längst stiften die Algorithmen von Facebook, WhatsApp und Instagramm nicht einfach Plattformen zum Chatten und Bildertausch, zur Followersuche und Platzierung von Short News oder Ads - nichts Geringeres als eine „globale Gemeinschaft“ wetterleuchtet am Zukunftshorizont. Zuckerberg, ihr Kanzelprediger, spricht in seinen Enzykliken an die Facebook-Gemeinde vom totalisierenden „Wir“, und meint damit natürlich eine vereinte Facebook-Menschheit. Das „Wir“ hat etwas Unerbittliches, Zwangsläufiges. Auch hier klingen die Ziele hehr: „Unsere grössten Chancen sind jetzt global – Wohlstand verbreiten, Frieden und Verständnis fördern, Menschen aus der Armut heben, wissenschaftlichen Fortschritt beschleunigen (..) Facebook steht für dieses Zusammenrücken und Schaffen einer globalen Gemeinschaft.“ Keine Rede davon, dass sich auf Facebook auch Gelichter der widerwärtigen Art sammelt. Und ohnehin: Und wie bildet man eine globale Gemeinschaft aus Nutzern, die kaum je ihren von Facebook kontrollierten Filterblasen entfliehen? Die Frage bleibt unbeantwortet, was kaum überrascht: Es handelt sich im Grunde um einen kolossalen Widerspruch in sich.

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Hinter diesem Permaoptimismus verbirgt sich das Konzept einer Gesellschaft aus technisch aufgerüsteten und „angeschlossenen“ Bürgern. Das verbindet Facebook mit den chinesischen Anstandsdresseuren. Soziale Spannungen und Konflikte sind rein technische Probleme, die man mit technischen Mitteln löst. Facebook kreiert ein Ökosystem zur Durchführung eines sozialen Experiments monströsen Ausmasses, mit den bald einmal 2 Milliarden Nutzern als Laborratten. Und die Frohbotschaften Zuckerbergs erweisen sich im Grunde als Promotion für weitere technische Optimierungen: Algorithmenfilter, smartere Kundenwerbung und Ratingsysteme, neue Verschlüsselungs- und Kontrollmethoden.


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