Freitag, 26. Februar 2016

Auf der Suche nach der verlorenen Wildnis




Bertold Brechts Herr Keuner schätzt Bäume, „da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen einen besonderen Grad von Realität erreichen (..) Bäume (haben) wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin, etwas beruhigend Selbständiges, von mir Absehendes.“ Aber trotz dieser Menschenabgwandtheit schätzt Herr Keuner Bäume aus der Perspektive des Städters. „Ich würde gerne mitunter aus dem Hause tretend ein paar Bäume sehen. ‚Warum fahren Sie, wenn Sie Bäume sehen wollen, nicht einfach manchmal ins Freie?’ fragte man ihn. Herr Keuner antwortete erstaunt: „Ich habe gesagt, ich möchte sie sehen, aus dem Hause tretend.“

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Herr Keuner ist der Prototyp des Liebhabers nachwilder Natur, wie ich sie nennen möchte.[i] Er will Natur, aber nicht im „freien“, sondern im gezähmten Zustand, als ein paar Bäume, die seinen Blick beim Verlassen des Hauses erfreuen; dies aber wohlgemerkt nicht bloss als Dekor, sondern durchaus als Memento, dass die Naturdinge uns im Grunde nicht brauchen. Bäume sind also Repräsentanten des Nichtgebrauchs. „Auch verwirrt es uns in den Städten mit der Zeit, immer nur Gebrauchsgegenstände zu sehen,“ sagt Herr Keuner, „Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären.“ Nicht so die Bäume. Sie sind gerade in ihrer Unbenutztheit von Wert, und dies ausgerechnet in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem nur das Nützliche seinen Wert hat.

Herr Keuner bringt damit ein Problem, um nicht zu sagen: ein Paradox auf den Punkt. Wir leben im Zeitalter des Anthropozäns, in dem der Mensch immer mehr mit ordnender und planender Hand in die Roh-Natur eingreift, sie zähmt und sich dienlich macht, im gleichen Zug auch immer mehr ihren wilden Charakter austreibend. Paradox daran ist, dass in dem Masse, in dem die wilde, vom Menschen unberührte Natur verschwindet, sie als Objekt der Sehnsucht wiederaufersteht - ganz offensichtlich in einer wild gewordenen Tourismusindustrie, die nicht müde wird, uns jene „letzten“ Paradiese der Natur anzupreisen, deren Aufmöbelung sie mit exterminierendem Eifer betreibt.

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Nun kann man ganz unschuldig fragen: Aber sind denn Bäume nicht allesamt Natur, im Garten wie in der Wildnis? Was macht den Baum in der Wildnis „anders“ als im Garten? Die Antwort ist einfach: Die Erbschaft eines Denkens, das den Menschen radikal trennt von der Natur. Wo Natur ist, sind wir Menschen nicht; und wo der Mensch ist, ist nicht Natur. Im Park ist der Mensch, also ist der Baum im Park nicht wirklich Natur. Bereits diese dualistische Topologie führt uns auf Abwege: Wildnis ist immer „draussen“. Wenn sie aber draussen bleibt, dann ist sie im Grunde auch ohne Belang für unsere Umweltprobleme. Sie ist ja nun gerade nicht Um-Welt, sondern Ander-Welt: das imaginäre, totale Andere unserer Zivilisation, welche das Wilde als natürlicher, ursprünglicher, echter würdigt. Wir hauen also umso tiefer in diese dualistische Kerbe, je mehr wir die Wildnis als Ideal und Massstab der Beurteilung unserer Zivilisation zelebrieren: Wildnis gut – Zivilisation schlecht.

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In den Träumen und Visionen einer unverdorbenen Natur geistert auch die Vorstellung unserer eigenen Unverdorbenheit herum, eines anderen, nobleren Selbst, das sich nicht mit Zivilisiertheit befleckt sehen und deshalb nur an speziellen zivilisationsabgewandten Orten gepflegt werden möchte. Seit Rousseau wird immer wieder die Natur angerufen, wenn es den Verfall der Sitten, den Schwund der Werte, die Dekadenz der Kultur zu beklagen gilt. Ökofundamentalisten legitimieren ihre Aktionen nicht selten im Namen einer „reinen“ Natur, eines ursprünglichen Ökosystems oder quasi-paradiesischen Umweltverhältnisses. Und in der Sicht einer solchen Naturordnung steht dann unversehens der Mensch als fehl am Platz da. Als ökologischer Unrat.

Zu hüten haben wir uns vor allem vor einem Jargon der Eigentlichkeit, der die Lösung in der Rückkehr zu einem paläolithischen Menschentum propagiert. Eine mitunter bizarre Historiographie sekundiert diese Sichtweise. In den Augen von Dave Foreman, Mitbegründer der Bewegung „Earth First!“, treibt schon die Agrikultur einen Keil zwischen Mensch und Natur. Von dieser Prämisse aus gesehen liegt dann der Schluss nahe, dass man die Trennung von Mensch und Natur durch eine Rückkehr zum Jäger und Sammler überwinde. Das Ideal dieser Neusteinzeitler wäre „Tiere zu sein (..), unseren Schweiss, unsere Hormone, Tränen und unser Blut auszukosten,“ wie Foreman seine Humoral-Therapie (wahrscheinlich nach ein paar Bieren zuviel) umreisst, um gegen den „modernen Zwang anzukämpfen, dumpfe, leidenschaftslose Androiden zu werden.“ Solche Macho-Exuberanzen erinnern an die Elogen der Lebenshärte, wie sie einem am Todtnauberg zuteil wird. Martin Heideggers Bewunderung des einfachen „weisen“ Schwarzwaldbauern ist notorisch. Schon im 19. Jahrhundert, im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung, empfahl der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl das Landleben als Antidot gegen die Überzivilisiertheit und Neurasthenie der Stadt. Dem „ausstudirten Städter“, aber auch dem „feisten Bauer des reichen Getreidelandes“ stellte er den Idealtypus des „armseligen Moorbauern“ und des „rauhen Waldbauern“ gegenüber. In der Wildnis von Moor und Wald gesundet der zivilisatorisch angeschlagene Geist: „Wann die Mittagssonne der Civilisation die Ebenen bereits versengt hat, dann wird von den culturarmen Berg- und Hochländern der Odem eines ungebrochenen naturwüchsigen Volksgeistes wie Waldsduft wieder erfrischend über sie hinwehen.“ Man hört Ähnliches heute auch gelegentlich aus der alten Uckermark, wenn der Schriftsteller Botho Strauss sie durchwandert.

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Nicht die Wildnis steht zur Debatte, sondern eine weitverbreitete und heute auch kommerziell ausgeschlachtete Wildnisideologie, die nichts anderes ist als die Rückseite eines dualistischen Naturverständnisses. Und dadurch, dass sie einem falschen Ideal wilder Natürlichkeit huldigt, treibt sie den dualistischen Keil umso tiefer zwischen Mensch und Umwelt. Befürworter der biologischen Diversität betonen oft die Wichtigkeit „unberührter“ Ökosysteme als den reichhaltigsten Aufbewahrungsort all jener Arten, die wir erhalten wollen. Biodiversität ist ja sozusagen der verwissenschaftliche Wildnisbegriff. Aber immer noch haftet daran eine Wertigkeit, die man mit „reiner“ Natur verbindet. Das führt zu einem Paradox: Je mehr man die Biodiversität sich selbst überlassen will, desto mehr bedarf sie der Schutzanstrengung vonseiten des Menschen. Das schlagendste Beispiel sind die gefährdeten Arten. Ihr Überleben als wilde Lebewesen hängt entscheidend ab von einem überlegten Management ihres Habitats, für das unter Umständen ausdrücklich Gesetzesvorschriften gemacht werden müssen. Man halte sich vor Augen: Wir erlassen Gesetze, damit die Natur in Enklaven der Wildnis so sein kann, wie sie ist (was im Grunde bedeutet: wie sie in unseren Augen sein soll). Natur von Menschen Gnaden. Es hat etwas geradezu Absurdes: Definiert man Natur als das, was dem menschlichen Einfluss entzogen ist, dann gibt es praktisch keine Natur mehr. Und genau das,  was es praktisch nicht mehr gibt, schützt man noch.




[i]    Ich verdeutsche hier den englischen Ausdruck „post-wild“, den Emma Marris in ihrem inspirierenden Buch verwendet: Rambunctious Garden. Saving Nature in a Post-Wild World, New York, 2013.

2 Kommentare:

  1. Lehrte manchen die Physik nicht, wo das Wilde hemmungslos tanze

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  2. Lehrte manchen die Physik nicht, wo das Wilde hemmungslos tanze

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