Montag, 25. Dezember 2023



Warum zum Geier ist das Bewusstsein 

ein «hartes» Problem?

Was ist Bewusstsein? Vor 25 Jahren stritten sich der Neurowissenschaftler Christof Koch und der Philosoph David Chalmers über diese Frage. Koch vertrat die These, dass das Phänomen des Bewussteins auf der Basis neurophysiologischer Vorgänge erklärbar sei. Dagegen erhob der damals kaum bekannte Chalmers den kecken Einwand, dass der neurophysiologische Kenntnisstand allein, und mag er noch so hoch sein, nicht erklären könne, wie Bewusstsein aus Gehirnprozesses «auftaucht». Und er prägte einen mittlerweile notorischen Begriff für diese Unzuläng-ichkeit: das «harte Problem» des Bewussteins. Koch ging mit Chalmers eine Wette ein: Im Jahre 2023 würde man ein neuronales Muster entdeckt haben, von dem aus man auf bewusstes Verhalten schliessen könne. Wettgewinn: Eine Kiste Wein. Chalmers erhielt sie im Juni 2023. 

***

Zwischen Gehirn und Gedanken geschieht etwas Rätselhaftes. Man spricht von «Emergenz». Ein System besteht aus Elementen. Diese haben eine Reihe von Eigenschaften. Im Systemganzen «emergiert» eine neue Eigenschaft, die auf dem Niveau der Elemente nicht zu finden ist. Ein Wassermolekül ist nicht nass, Wasser ist nass. Neuronen sind nicht bewusst, ein aktives Netz von Neuronen ist bewusst. Wie erfolgt der Übergang von der Nicht-Nässe zur Nässe, vom Nicht-Bewussten zum Bewussten?

In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat sich der Emergenzbegriff als Hoffnungsträger in der Erklärung vieler komplexer Phänomene eingebracht, von der Physik und Chemie, über Biologie und Neurowissenschaft bis zur Soziologie und KI-Forschung. Als Problem erweist sich allerdings gerade das explikative Vermögen des Begriffs. «Bewusstsein emergiert aus neuronalen Prozessen»  beschreibt eine Beobachtung, liefert keine Erklärung. Wenn man mein Gehirn an einer bestimmten Stelle reizt, dann empfinde ich bewusst Schmerzen. Emergieren sie aus dem komplexen Orchester - dem Konnektom - von Neuronen? Von welchem Komplexitätsgrad an? Welches spezielle Wechselspiel findet zwischen den Neuronen statt? Welche Umweltbedingungen müssen dabei herrschen? Solche Fragen münden in einen einzigen Verdacht: Emergenz ist das Problem, das sich als Erklärung ausgibt. 

***

Heute machen sich neurokybernetische Modelle anheischig, das harte Problem zu «lösen». In der Diskussion steht gegenwärtig die «integrierte Informationstheorie (IIT)» von Christoph Koch und dem Neuropsychologen Guido Tononi. Die Grundidee ist nicht neu, sie stammt aus der Gestaltpsychologie vor über hundert Jahren. Als bewusste Wesen sind wir fähig, eine Vielzahl von Eindrücken zu unterscheiden und doch nehmen wir in ihnen etwas als gestalthaftes Ganzes wahr. Ein Smartphone kann eine gewaltige Pixelmenge speichern und in der darin enthaltenen Information Unterscheidungen vornehmen. Das aber macht kein «bewusst» wahrnehmendes Smartphone aus. Die Pixel müssten vielmehr miteinander verknüpft, zu Mustern «integriert» sein. Bewusstseinszustände hängen, so die These, von der Dichte an differenzierter und integrierter Information einer beliebigen Netzstruktur ab. Tononis Theorie definiert eine mathematische Masszahl für diese Dichte, in Bits. Er bezeichnet sie als «Phi» (Φ). 

Es gibt also, genau gesagt, in der Sicht der IIT graduelle Bewusstheit. Phi misst, wie viel integrierte – und damit bewusste – Information ein Netzwerk enthält, sei es nun organisch, anorganisch oder künstlich. Im Besonderen spielt Tononi mit der Idee eines «Phi-Meters». Angenommen, er misst bei meinem Smartphone einen spezifischen Phi-Wert. Hat das Smartphone nun ein Bewusstsein? Ach woher, es hat bloss einen Integriertheitsgrad Phi. Der Zusammenhang zwischen Phi-Wert und Bewusstsein wird einfach willkürlich stipuliert, nicht erklärt. Begriffszauber. In einem offenen Brief bezeichneten kürzlich hundert Bewusstseinsforscher die IIT als «Pseudowissenschaft».  

***

Das Gehirn ist ein Stück Materie, und Materie unterliegt den Gesetzen der Quantenphysik. Vom Anästhesiologen Stuart Hameroff und dem Physiker Roger Penrose stammt eine Quantentheorie des Bewusstseins. Hameroff vermutet, dass Bewusstsein aus so genannten Mikrotubuli emergiert: Proteinfäden, die innerhalb der Nervenzellen als molekulare Informationsübermittler fun-gieren. Sie sind genügend klein, um einen typischen Quanteneffekt zu zeigen. Die Einzelzustände vieler Mikrotubuli überlagern sich zu einem kohärenten Gesamtzustand, einer sogenannten Superposition. Sie speichert Quanteninformation: Qbits. Sie ist aber instabil. Wenn uns etwas bewusst wird, bedeutet dies, dass auf der Quantenebene des Gehirns eine Superposition von Mikrotubuli zerfällt. Man spricht heute von Dekohärenz der Quanteninformation. 

Eine theoretische Luftnummer, sagen nicht wenige. Erstens ist unklar, ob Mikrotubuli eine zentrale Rolle in Bewusstseinsvorgängen spielen. Zweitens beruft sich Penrose auf eine «modifizierte» neue Quantentheorie der Gravitation, welche die Dekohärenz erklären würde: die «orchestrierte objektive Reduktion». Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Physiker alles andere als «orchestriert» sind über eine Quantentheorie der Gravitation. Das Ganze erinnert an Alchemie: die Erklärung von etwas Unbekanntem durch etwas Unbekannteres.

***

Gewiss, das Bewusstsein ist auch ein Naturphänomen, es hat «etwas zu tun» mit Gehirnvorgängen. Und die Neurobiologie gewährt uns immer mehr Einblicke. Freilich auch immer mehr Puzzleteile, die das harte Problem noch härter erscheinen lassen.    Ein Teilnehmer der Konferenz über Bewusstseinsforschung 2019 in Interlaken brachte es auf den Punkt: «Theorien über das Bewusstsein sind wie Zahnbürsten. Jeder hat eine, und keiner will diejenige des anderen verwenden». 

Wie emergiert Bewusstsein aus dem Gehirn? Vielleicht ist die Frage falsch gestellt, zu neurozentrisch. Vielleicht sollten wir einfach die Perspektive wechseln: vom Gehirn zum Gehirnbenutzer und seinen bewussten Erfahrungen in seiner spezifischen Umwelt. Die meisten haben überhaupt kein Problem mit dem Bewusstsein, weil sie es «von innen» erfahren – als empfindungsfähige Personen – und nicht «von aussen»: in der Perspektive des Gehirns, der Physik, der Emergenz oder wessen auch immer. 

Nicht das Gehirn ist das Primäre, sondern dessen Benutzer. Wenn wir den Neurozentrismus durch diese andere Perspektive ergänzen, könnte sich das harte Problem als die alte Fabel vom Wettrennen zwischen Hase und Igel erweisen. Der Igel Bewusstsein lacht sich ins Fäustchen: Rennt ihr neurowissenschaftlichen Hasen nur Runde um Runde mit euren Theorien, ich bin schon am Ziel. Auch in weiteren 25 Jahren. 





Donnerstag, 30. November 2023



NZZ, 27.11.23

 Was vom Menschlichen bleibt

Über «molekularen» Universalismus 

Das Blutbad des 7. Oktobers ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Aber welche Menschheit eigentlich? Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek weiss nicht mehr, was Humanität sein soll.  Wir sprechen von Menschenwürde. Damit meinen wir etwas, das über einer anthropologischen Charakterisierung wie Rasse, Sexualität, Ethnie steht. Aber was? Das Selbstverständnis der europäischen Aufklärung steht auf dem Prüfstand, zumal die Idee einer universellen Moral. Postkoloniale Theorien verhöhnen sie schon seit längerem als leeres Gerede. Treten wir von der postfaktischen Ära nun in die postmoralische? 

Eine alte philosophische Kontroverse gerät jetzt ins Schlaglicht, jene zwischen Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder. Kant deklarierte: Der Mensch ist nur wirklich Mensch, wenn er sich universellen kulturübergreifenden Imperativen verpflichtet. Herder, der Vorläufer der «Cul-tural Studies», konterte: «Ohne Kultur war und ist der Mensch nicht etwa nur ein rohes Holz, ein ungeformter Marmor, sondern er ist und wird ein brutum.»   

***

Die heutige politische Realität widerspricht Herder. Gerade durch Kultur kann der Mensch zum «brutum» mutieren.  Der Genozid zum Beispiel ist eine kulturelle «Errungenschaft». In einem Punkt hat Herder sicher recht. Der Mensch ist ein Lebewesen, das einer bestimmten Gruppe mit eigener Abstammung und Geschichte, eigenen Erinnerungen, Mythen, Sitten angehört. Die Bewahrung und gegebenenfalls Verteidigung dieses gemeinsamen Erbes verleiht das Siegel eigentlicher Identität. Auch die Moral ist ethnisch und kulturell geprägt. 

Problematisch wird die Idee dann, wenn sie die Verbindlichkeit allgemeiner Werte oder Normen leugnet. Dies mit dem Generalargument, dass allgemeine Werte ohnehin immer weisse, europäische, koloniale «Hegemonialansprüche» kaschierten. Schon als die UNO 1947 den Entwurf zu einer universellen Menschenrechtserklärung in die Vernehmlassung schickte, hielt ihr der amerikanische Dachverband der Ethnologen entgegen, dass alle Menschenrechtserklärungen «provinziell» seien.  Eine universelle Erklärung würde bloss eine «provinzielle» Version den andern aufdrängen, sei also im Grund ein Akt  klandestinen Imperialismus’. 

***

Tatsächlich hat der Universalismus eine Schwachstelle. Er ist primär eine Idee, nicht eine Erfahrung. Er spricht von einem «abstrakten» Wesen namens Mensch, einem aus jeglicher kultureller Verwurzelung herausgelösten Wesen. Und dieses Wesen solle – gemäss Kant - immer zuerst als Zweck betrachtet werden, nie bloss als Mittel. Schöne Worte, gewiss. Aber wie schon der scharfsinnige Gegenaufkärer Joseph de Maistre zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieb: «Ich habe in meinem Leben Franzosen, Italiener, Russen gesehen. Ich weiss dank Montesquieu sogar, dass man Perser sein kann. Was jedoch den Menschen anbelangt, so erkläre ich, dass ich ihm nie im Leben begegnet bin». 

Die «konservative Revolution» im 20. Jahrhundert nahm diesen Gedanken auf. Einer ihrer kampflüsternen Propagandisten, der Philosoph und Journalist Armin Mohler, giftelte unentwegt gegen den scheinheiligen, «Abstraktionen verfallenen Liberalen». Die Distanz mache alle Menschen gleich. Aus der Nähe betrachtet gebe es jedoch nur den «konkreten» Menschen, und das heisst: den in seiner partikularen Gemeinschaft verwurzelten und ihr auch schicksalsmässig verhafteten Menschen. Gleichheit herrscht nur unter Gleichartigen. Das ist der «Universalismus» der Rassisten, Nativisten, Blutsbrüderhorden.

***

Aber ist der Universalismus wirklich nur eine Idee? Gibt es keine Grunderfahrungen? Spontan fällt mir ein rezenter Zeitungsbericht ein. Ein Israeli und ein Palästinenser führen in Berlin gemeinsam ein Restaurant unter dem Motto «Make Hummus, not War». Der Geschmack der Speise habe den Sinn für das Gemeinsame geweckt. Eine stille Marginalie, sicher, verglichen mit dem wüsten antisemitischen Radau in Berlin. Aber gerade auf sie kommt es an. Solch «molekularer» Universalismus geschieht ständig, gerade in multikulturellen urbanen Nachbarschaften. Er ist das pure Gegenteil von «Identity first» - Israeli hier, Palästinenser dort. Menschen haben das Recht, eigene Identitäten zu entwickeln, dieses Recht stützt sich aber auf das universelle Vermögen, bei Gelegenheit von trennenden Identitätsmerkmalen zu «abstrahieren». 

Eine andere Grunderfahrung hatte schon Kant in seiner Schrift «Zum ewigen Frieden» angesprochen: «Da es nun mit der unter Völkern der Erde (...) überhandgenommenen (...) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung (..) zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt.»

Kant untertreibt hier. Die Verletzung der Menschenrechte ist nicht eine «notwendige Ergänzung», sie ist eine notwendige universelle Basis für eine moralische Gemeinschaft. Im 20. Jahrhundert sollte Martin Luther King dem Gedanken eine andere Fassung geben: «Wenn irgendwo Unrecht geschieht, ist überall die Gerechtigkeit in Gefahr». Man mag an der Begründbarkeit der Menschenrechte zweifeln, sie leugnen und als utopisch belächeln, aber die Verletzung ist und bleibt eine «punktuelle» Evidenz, von der man sich «als Mensch» nicht abwenden kann. An den grausamen Ekstasen der Gewalt ändert der Blick auf den Kontext nichts. 

***

Verbrechen gegen die abstrakte Menschheit widerfahren immer einem konkreten Körper. Die Kugel verletzt meine Blutgefässe, der Schnitt in die Haut schmerzt mich, Stromstösse schädigen meine Nerven, Schlafentzug schwächt meine Abwehrkräfte, das gewaltsame Eindringen in die Intimsphäre traumatisiert meine Psyche. Wir sind nicht nur vernünftige Wesen, wir sind verwundbare Wesen, und gerade das Gedächtnis unserer Wunden befähigt uns (zwingt uns oft), universelle Werturteile zu fällen: dies ist besser als das. Nahrung ist besser als Hunger. Mitgefühl ist besser als Aversion. Ein Wort ist besser als eine Faust ins Gesicht. Das sagen mir vielleicht auch die Stimmen meines Glaubens, meiner Vernunft, meiner Identität. Aber sie sind dem Grundton aufmoduliert, den die Stimme des Körpers liefert. Er widersetzt sich einer totalen kulturellen Vereinnahmung. Er ist unser aller moralisches Medium. 

Ein Grossteil ethisch relevanter Verhaltensformen – der Kitt unseres Zusammenlebens – ist nicht explizit in Prinzipien oder Werten fundiert, sondern inkarniert im sozialen Umgang miteinander. Unser moralischer Kompass erweist sich oft als sprachlos. Wir haben gewissermassen einen viszeralen Sinn dafür, was «richtig» oder «falsch» ist. Wir retten spontan und «grundlos» ein Kind, das ins Wasser gefallen ist. Und wir sind spontan und «grundlos» indigniert, wenn an Wehrlosen Gewalt verübt wird. Das sind sozusagen moralische Automatismen. Sogar Kant, der alles begründet sehen wollte, gestand ein: Eigentlich bedürfe es «keiner Wissenschaft und Philosophie, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut zu sein»; man könne es nicht «ohne Bewunderung ansehen, wie das praktische Beurteilungsvermögen (im gemeinen Menschenverstand) dem theoretischen (..) so gar viel voraus habe». 

***

Man mag die Verpflichtung gegenüber der Menschheit in einem hochgestochenen «radikalen Universalismus» einfordern. Geerdet ist sie in trivialen Grunderfahrungen. Shylock, der jüdische Geldverleiher in Shakespeares «Kaufmann in Venedig», hat einem anderen Universalismus mit bewegender Klarheit das Wort geredet: «Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmassen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?» 

Doch, Shylock. Wir alle bluten. Juden und Nichtjuden. Buchstäblich und im übertragenen Sinn.


Montag, 13. November 2023




Die Rettung der Menschenrechte durch 

metaphysisches Prophetentum


Zu Omri Boehms Buch «Radikaler Universalismus»

Am Begriff der Identität entzünden sich heute bekanntlich die heftigsten und giftigsten Debatten. Sowohl die Neue Rechte wie die postkoloniale Linke verwenden ihn, um von völlig diametralen Seiten auf den Universalismus einzuprügeln. Für die Rechten zählt primär der Mensch in seiner «Nativität», also im «natürlichen» Geborensein in eine bestimmte Gemeinschaft. Für die Linken zählt primär das Schicksal des Diskrimiertseins als Farbiger, als LGBTQ-Vertreterin, als Angehöriger von Minderheiten, als Person mit Behinderung.

***

Gegen diese Identitätsfutterale plädiert der Philosoph Omri Boehm für einen «radikalen Universalismus», um gewissermassen das Menschliche an den universellen Menschenrechten zu retten.  «Während wir in eine Epoche eintreten, in der wir die westliche liberale Demokratie in Europa zu stärken und den Aufstieg rechtsextremer Politik und eines ethnischen Nationalismus zu bekämpfen haben, zudem mit globalen Katastrophen und Migrationswellen konfrontiert sind, macht es einen Unterschied, ob wir an der Idee des universellen Humanismus als einem Kompass, sogar als einer Waffe, festhalten oder ob wir eine Gesellschaft hervorbringen, in der diese Idee verspottet und verachtet wird». 

Man stimmt spontan zu. Aber Boehm klopft dem Zustimmenden sofort auf die Finger: Liberale Demokraten seien oft allzu selbstgerecht; sie hätten sich angewöhnt, nur von Menschenrechten, nicht von Menschenpflichten zu sprechen. Und dem Universellen müsse man «absolut» verpflichtet sein. Boehm hat eine Legimität vor Augen, die über allen menschlichen Übereinkünften steht: «Nur ein Gesetz oder eine Wahrheit, die unabhängig von menschlichen Konventionen ist, ist universell in seinem oder ihrem Geltungsbereich und nicht relativ zu den Interessen, Wünschen oder ‘guten Ideen’ derjenigen, die über die Macht gebieten, in der menschlichen Gesellschaft Gesetze zu erlassen». 

***

Und was wäre das für ein Gesetz oder eine Wahrheit? Boehm bemüht ein biblisches Szenario (Genesis 18, 23-25). Es erinnert überraschend  an die aktuelle Situation in Gaza. Die israelische Armee will die Hamas strafen und vernichten, aber in Gaza befinden sich auch viele unschuldige Zivilisten. Gott will Sodom strafen und vernichten, aber es befinden sich nicht nur Ruchlose, sondern auch Gerechte in der Stadt. Abraham versucht Gott durch ein Dilemma umzustimmen. Er könne doch nicht die ganze Stadt vernichten, wenn es dort noch Gerechte gebe: «Willst du auch sie wegraffen, und nicht doch dem Ort vergeben, wegen der fünfzig Gerechten dort? Das kannst du doch nicht tun. Die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen (..) Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten?» 

Aber an welches Recht sollte sich Gott halten? Hören wir etwas weiter zu. Gott lenkt ein: «Wenn ich in Sodom (..) fünfzig Gerechte finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben». Nun packt ihn Abraham beim logischen Schlafittchen: «Vielleicht fehlen an den fünfzig Gerechten fünf. Wirst du wegen der fünf die ganze Stadt vernichten?» Gott verspricht, sie nicht zu vernichten, wenn er dort fünfundvierzig findet. Aber wenn er schon dieses Zugeständnis macht, warum auch nicht bei vierzig Gerechten, bei fünfunddreissig, bei…. Von wievielen Gerechten an ist eine göttliche Strafe gerechtfertigt? Kann Gott Sodom überhaupt bestrafen, selbst wenn sich nur Gott-lose darin befänden?  

***

Boehm deutet das Gespräch zwischen Gott und Abraham als Hinweis auf eine Autorität, die über beiden steht: «Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist das Bekenntnis zu einer exklusiv einzigen, wahren Gottheit – um diese anschliessend einer noch höheren, über ihr stehenden Gerechtigkeit zu unterwerfen.» 

Gerechtigkeit braucht keinen Gott. Das ist die Boehmsche Lesart. Man könnte dagegen halten, dass sich das Gespräch weniger um eine absolute Gerechtigkeit dreht, der sogar Gott untersteht, als eher um die Forderung nach logischer Konsistenz – eine menschliche Forderung. Abraham mahnt Gott einfach an: Wenn du dich an deine Prämissen hältst, wenn du dich nicht in einen Widerspruch verwickeln willst, dann bedenke auch die Konsequenzen deiner Absicht logisch. Die Geschichte lässt sich völlig metaphysikfrei, ohne Postulierung einer absoluten Gerechtigkeit, lesen. 

***

Nun gibt sich freilich Boehm mit nichts weniger zufrieden als einer metaphysischen Begründung der Gerechtigkeit. Sein «Radikalismus» zielt ab auf die Frage: Existiert eine «absolute» Verpflichtung gegenüber der Menschheit? Was soll das bedeuten? Menschheit kommt ja immer nur vor als besondere Gemeinschaft von Menschen. So schrieb der scharfsinnige Gegenaufkärer Joseph de Maistre zu Beginn des 19. Jahrhunderts: «Ich habe in meinem Leben Franzosen, Italiener, Russen gesehen. Ich weiss dank Montesquieu sogar, dass man Perser sein kann. Was jedoch den Menschen anbelangt, so erkläre ich, dass ich ihm nie im Leben begegnet bin».

In jedem Versuch, Gerechtigkeit im Konsens einer möglichst grossen Gruppe von Menschen zu fundieren, sieht Boehm «Verrat am Universalismus». Ein solcher Versuch würde über kurz oder lang in einen Konformismus, in den Vorrang von Tradition und Gewohnheit führen, in die berüchtigte Tyrannei der Mehrheit: «Die Gefahr eines solchen Konformismus (..) besteht darin, dass er den Wünschen der Mehrheit ermöglicht, nicht nur mittels physischer Drohungen oder staatlicher Macht durchgesetzt zu werden – im Stile früherer Tyrannen -, sondern als legitime Autorität.» Konformismus ist im Grunde eine Maschine zur fortgesetzten Produktion von Ungerechtigkeiten. Dass vier Millionen schwarze Menschen in den USA rechtmässiges Privateigentum waren, ist ein solcher Konformismus. 

***

Spätestens hier überschiesst Boehms Argumentation. Er meint, jeglichen Konsens unter Menschen als Konformismus und letztlich als Tyrannei entlarven zu können. Aber gibt es nicht reflektierten, kritikoffenen Konsens? Gibt es überhaupt etwas Besseres in demokratischen Gesellschaften? Kann man universelle Gerechtigkeit anderswo erden als in einem «Wir», dem möglichst viele angehören? Fragen von Rechtsphilosophen wie etwa John Rawls. 

Boehm verneint sie vehement. Das ist nicht richtige, «radikale», sondern bloss gemässigte Aufklärung. Er deutet – sein Gegen-den-Strich-lesen muss man ihm lassen - Kants berühmten «Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit» nicht als den Gebrauch des eigenen Verstandes, sondern als Widerstand gegen konformes Denken, gegen das «Wie immer» der Tradition. Erst wenn wir uns davon befreit haben, sind wir wirklich emanzipiert. 

***

Folgerichtig zelebriert Boehm den Kult der «Wenigen», die sich für den richtigen Universalismus eingesetzt, ja, geopfert haben. Er macht den Gegensatz zwischen gemässigtem und radikalem Universalismus exemplarisch fest an den «Unionisten» und den «Abolitionisten» vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Die Unionisten stellten die demokratische Verfassung, die auch das Recht der Sklavenhalter auf ihren Besitz schützte, über alles. Die Abolitionisten beriefen sich – in der Lesart Boehms – auf «metaphysische Gerechtigkeitsprinzipien». Nur sie konnten eine Legitimation für die Abschaffung der institutionalisierten «demokratischen» Ungerechtigkeit liefern. 

Boehm nennt als Beispiel den Abolitionisten John Brown. In der Mitte des 19. Jahrhunderts beging er mit seiner Bande Morde an Sklavenhaltern und Sklavenjägern. Für die einen ein Held der Gerechtigkeit und Freiheit, für die anderen ein Verbrecher und Irrer. Boehm scheint in ihm so etwas wie ein Fallbeispiel für die Gratwanderung zwischen metaphysischem Gerechtigkeitskampf und Terrorismus zu sehen: Es «lohnt die Beobachtung, dass Brown (..) den ‘Wenigen’ sehr ähnlich (ist), von denen Kant spricht, wenn er sagt, dass einige einzelne das ‘Joch’ des Konformismus selbst abwerfen und den ‘Geist’ des menschlichen Werts und Selbstdenkens verbreiten müssten.» 

***

Eigentlich behauptet Boehm in seinem Pamphlet bloss dies: Menschenwürde beruht auf einer Gerechtigkeit, die höher ist als jede in einem menschlichen Konsens begründete. Sie begründet sich selbst, ist absolut, über menschliche Motive, Interessen, Wünsche, über alle anthropologischen Tatsachen erhaben. Das ist zugleich keck und dürftig, bei aller akribischen Exegese von einschlägigen Texten und gelegentlich etwas langfädigen historischen Exkursen. 

Vernachlässigt wird die erkenntnistheoretische Frage nach dem Typus von Aussagen wie «Es gibt ein Gesetz, das über allen Gesetzen des Menschen steht». Wie kann eine solche Wahrheit evident sein? Evident für wen?  Am Schluss greift Boehm zur Plausibilisierung der Aussage auf die Prophetie zurück. Bezeichnend, dass er diese zu rehabilitieren sucht. Sieht er in sich auch ein Exemplar der «Wenigen»? Hat er vergessen, dass sich um das prophetische Bewusstsein immer die Versuchung der Unnachgiebigkeit, der Besserwisserei, des Dogmatismus schleicht? Der Prophet mag wissen, was «wahr» ist, aber ist das auch für andere, für alle Menschen wahr? Gerne möchte man zudem von Boehm erfahren: Kann ein «radikaler» metaphysischer Gerechtigkeitsbegriff anders als durch Gewalt verbreitet werden? 

Solche Fragen wecken den Widerspruch. Und das ist gut. Aber die Verteidigung eines radikalen Universalismus ist nur gut gemeint. 


Donnerstag, 2. November 2023

 


NZZ, 30.10.23


Terrorismus - das Perpetuum mobile der Gewalt

Finden sich im Terrorismus Merkmale, die ihn «systemisch» charakterisieren, ungeachtet der besonderen Ideologien, konkreten politischen Beweggründe, Taktiken; ungeachtet seiner Territorialität, im Mittleren Osten, in Ruanda, Tschetschenien? Umberto Eco sprach in einem Essay gleichen Titels vom «ewigen Faschismus». Er bezog sich darin zwar vorwiegend auf italienische Verhältnisse, aber sein Kernanliegen war, im Faschismus nicht bloss ein kontingentes histori-sches Phänomen zu sehen, sondern ein Denkdispositiv, das unter «günstigen» Bedingungen immer wieder Nährboden in der Gesellschaft findet. In diesem Sinn liesse sich auch vom ewigen Terrorismus sprechen. 

***

Die wirkungsvollste Waffe im Arsenal des Terrorismus ist die Angst. Er weiss, dass daraus Handlungsunentschiedenheit und -lähmung resultieren. Er bringt den demokratischen Rechtsstaat aus der (Ver-) Fassung. Und er geniesst dadurch das offene oder verdeckte Wohlwollen der Autokratenclique weltweit. Jede blutige Tat verhöhnt den Staat: Schau, du bist nicht im Stande, deine Bürger zu schützen! Man erzeugt dadurch eine Atmosphäre des Stresses, des permanenten Ausnahmezustands, vergiftet durch gegenseitige Verdächte und Beschuldigungen: «Du Hamasversteher!», «Du Zionist!». Eigentlich sind für Aktionen gegen den Terrorismus Polizei, Geheimdienste, Militär zuständig. Aber bleiben deren Erfolge aus, wächst das Bedürfnis nach «radikalen» Schutz- und Überwachungsmassnahmen. Ein Treibhausklima für Populisten und Schlimmeres. 

Die terroristische Taktik bedient sich der «Aleatorik» des Schreckens. Sie trifft wahllos einmal die Besucherinnen und Besucher eines Pariser Clubs, einmal Passantinnen und Passanten auf einer Rambla in Barcelona, einmal Reisende am Brüsseler Flufhafen. Der Terrorismus kennt keine Trennung zwischen Kombatanten und Zivilisten, also auch keinen «Kollateralschaden». Denn in den Endkampf zieht er alle hinein. Er geht aufs Ganze, die Apokalypse ist vorgesehen. 

***

Der Terrorismus denkt binär: Gut oder böse, Freund oder Feind, Gläubiger oder Ungläubiger, Sozialismus oder Barbarei. Das heisst erstens: Es gibt ein einziges höchstes Gut, ein einziges letztes Ziel, nur die eine absolute Wahrheit, meist in «heiligen» Worten oder Doktrinen geäussert. Und zweitens: Es gibt eine einzige Grundursache für das Übel in der Welt. Dieses Denken ist beherrscht von einem messianistischen Säuberungswillen. Der Terrorist möchte die Welt so rein haben, wie er sie sich vorstellt: als neues Jerusalem, als islamischer Gottestaat, als rassisch-völkisches Millenium, als klassenlose Gesellschaft. Hier entsteht der «neue» Mensch. Gegenüber dem «Anderen» kennt das totalitäre Gleichmachen kein Erbarmen. «Es gibt kein Leben ausserhalb der Revolution», war das Motto Che Guevaras, des «Freiheitshelden». 

Das Heldentum des Terrorismus feiert den eigenen Tod als erlösende Klimax. Der Täter stirbt für «das» Höchste, der Nazi für den Führer, der Hamas-Terrorist für Gott, das Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) für die Befreiung vom Imperialismus. «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», soll das Motto der islamistischen Attentäter von Madrid 2004 gelautet haben. Das ist nicht einfach eine Nachäffung des falangistischen Kampfrufs, sondern die Logik des Märtyrers - des «Blutzeugen». Todesliebe und Todesrausch liegen nah beieinander.  

***

Terroristen empfinden Empathie nur für ihre «Mitbrüder». Sie bilden sektiererische Gruppen oder Gangs, die ihre Weltfremdheit durch Rituale und Exerzitien kultivieren. Das Bewusstsein ihrer Unterlegenheit kehren sie um in Dünkel und Grössenwahn. Zum Beispiel delirierte das Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) Volker Speitel einen «neuen Menschen» herbei: «Der Eintritt in die Gruppe, das Aufsaugen ihrer Norm und die Knarre am Gürtel entwickeln ihn dann schon, den ‘neuen’ Menschen. Er ist Herr über Leben und Tod geworden, bestimmt was gut und böse ist, nimmt sich, was er braucht und von wem er es will; er ist Richter, Diktator und Gott in einer Person».

Terroristen leben in einem paranoiden Weltinnenraum, akzeptieren das Aussen der politischen Regeln nicht. Ihr Partikularinteresse gilt ihnen als Unversalinteresse. Und das Verbrechen schweisst sie zusammen. Horst Mahler von der RAF soll vorgeschlagen haben, ein abtrünniges Mitglied kollektiv zu erschiessen, weil dann die Schuld an allen haftet und niemand mehr aussteigen kann. 

***

Die Heimtücke des Terrorismus liegt darin, dass er in offenen Gesellschaften das Selbstverständnis torpediert, gewalttätigen Zeiten entronnen zu sein. Wir haben uns derart an die gewaltfreie Auseinandersetzung gewöhnt, dass uns der Preis dafür nicht mehr bewusst ist: ihre Verwundbarkeit. Natürlich kennen auch moderne Gesellschaften Gewalt, häusliche an Frauen und Kindern, Krawall auf der Strasse, Hooliganismus im Fussballstadion. Aber diese «normalen» Gewaltformen akzeptieren implizite immer noch die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols, während der Terror diese Legitimität explizite und fundamental attackiert, und so das Nervenzentrum offener Gesellschaften trifft. Er verhöhnt die Idee der Gewaltlosigkeit. 

Damit wirft er uns zurück in vormoderne Zeiten. Wie der niederländische Schriftsteller Leon de Winter vor einiger Zeit schrieb, sind mit dem Aufkommen des islamistischen Terrors alle Bürger der westlichen Welt zu «Juden geworden», also zu bekämpfende Partei: «Der Islamist zwingt mich, ihn als meinen Feind anzusehen und erneut in Begriffen zu denken, die ich, als moderner Europäer, hatte vergessen wollen oder zumindest: nach denen ich nie mehr hatte handeln wollen.» 

***

Neben der Debatte über die religiöse und politische Motivation von Gewalt wäre heute noch ein anderer Beweggrund näher zu bedenken, nämlich jener des medialen Resonanzraums – etwa der Social Media -, in dem das Massaker, die Bluttat, das Undenkbare ihren wohl noch nie dagewesenen Widerhall finden. Die - fast ausschliesslich – jungen islamistischen Gewalttäter, die oft ohne Aussicht auf eine «zivile» Zukunft leben, scheinen im Medium des Terrors eine willkommene Gelegenheit zu erblicken, die Aufmerksamkeit zumindest für die berühmten Warholschen 15 Minuten auf sich zu ziehen. 

Das ist Nihilismus, zur Märtyrershow aufgeplustert. Und er wird so weltbühnentauglich. Auf abartige Weise attraktiv. Die Medien reissen sich um ihn. Er bedient die heute überall verbreitete Wollust, zu schauen und beschaut zu werden. Terroristen überbieten sich mit Abscheulichkeiten, genauer: mit der Inszenierung von Abscheulichkeiten. Weil sie keine Schlachten gewinnen können, greifen sie zu einem anderen Mittel: zum Spektakel. Es ist todernst und blutig. Und Terroristen sind Selbstdarsteller. Sie brauchen die Medien und die entgeisterte Weltöffentlichkeit, um sie fortlaufend mit Stoff zum Entsetzen zu füttern. Uns allen ist das Medienereignis der einstürzenden Twin Towers eingeätzt. Bin Laden war seinerzeit ein Medienstar. Che Guevara prangt bis heute auf T-Shirts. Terroristen wollen Hauptakteure im Weltgruselkabinett sein. Das Handy darf beim Gemetzel nicht fehlen.  

***

Hinzu kommt ein Weiteres. Der Terrorismus weiss sich immer wieder mit dem hehren Ziel des Widerstands gegen Unterdrückung, Kolonialisierung, Demütigung, Ungerechtigkeit zu legitimieren. Seinen Hass und seine Rache leitet er aus seinem Status als Opfer her. Ich bin ein Opfer, also mache ich auch andere zum Opfer. Tatsächlich parasitiert er das Opfertum einer benachteiligten oder drangsalierten Menschengruppe, indem er sich perfide zu deren «Befreier» emporstilisiert. Ein typisch Orwell’sches Paradox: Befreiung durch Unterdrückung. Am Ende dankt das Opfer dem Täter dafür. 

Dem diskreten Charme des Terrorismus erliegt besonders der Whataboutismus einer Claque von Relativierern. Israelische Truppen und Siedler hätten seit 2008 in der West Bank und in Gaza fast 3800 Zivilisten getötet, schreibt zum Beispiel die Philosophin Judith Butler kürzlich. Man könne eine Tat wie jene des Massakers im Kibbuz Beeri nicht als «klaren, punktuellen Akt» verurteilen, sondern nur im historischen Vergleich mit den Untaten, die an Palästinensern in der West Bank und in Gaza verübt worden seien. Zwei, für eine «professionelle» Philosophin erstaunliche, Denkschlampigkeiten. Erstens: Was ist denn «punktueller» als ein Mord? Und zweitens: Geschichte lehrt eine Tat zu verstehen, nicht zu entschuldigen. 

***

Der Terrorist stirbt vielleicht, sein Denken überlebt ihn. Seine Tat ist Modell für eine weitere: ein Perpetuum mobile der Gewalt. Um ihm zu begegnen, braucht es ein denkerisches Abwehrdispositiv, das seine Systemelemente beleuchtet. Es gibt mehr als die hier kurz erwähnten. Aufs Ganze gesehen gilt es das alte stoische Prinzip der «Praemeditatio malorum» zu beherzigen: Erwäge das Schlimme, Schlimmstmögliche. Ich will jetzt nicht die grosse Gelassenheit als Retterin heraufbeschwören. Aber sagen wir nie: Der Terrorismus ist bei uns nicht möglich. Denn dann geschieht er. 

Mittwoch, 25. Oktober 2023

 


Despotenliebe

oder Der Wille zur Unterwerfung

Der gegenwärtige autoritäre Führungsstil in vielen Ländern der Welt wirft einmal mehr die Frage auf, warum viele scheinbar so aufgeklärte Zeitgenossen Despoten verfallen. Die Frage betrifft eine Relation, muss also zwei Psychologien berücksichtigen, jene des Führers und jene des Anhängers. Was gibt einer Person derart Auftrieb, sich über die anderen aufzuschwingen? - und: Was ist der Antrieb des Anhängers, der sich derart dem verführerischen Einfluss einer anderen Person unterwirft? Welche unheimlichen Kräfte spuken da im Kellergeschoss unserer Psyche?

***

Auf die erste Frage gibt es die klassische Antwort eines Soziologen. Max Weber prägte in sei-nem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1921/22) den Begriff der charismatischen Figur oder Herrschaft. «’Charisma’ soll eine als ausseralltäglich (..) geltende Qualität einer Persönlichkeit heissen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch ausseralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer’ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‚objektiv’ richtig zu bewerten sein würde, ist (..) völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern’ bewertet wird, kommt es an.»

Damit hat Weber auch gleich den Finger auf die neuralgische Stelle gelegt. Liest man «objektive» Bewertung nämlich als in der alltäglichen politischen Routine einer Demokratie erprobte Mittel der Bewertung, dann erkennt man, warum der Charismatiker sich meist dadurch zu profilieren sucht, dass er diese politische Alltagspraxis als ineffizient, als «Schlamassel» diffamiert, nur um sich «ausseralltäglich» daraus zu erheben und seinen Tross nachzuziehen. Charismatische Figuren sind Symptome unsicherer, unübersichtlicher, unvorhersehbarer politischer Zustände, in denen ein «objektiver» Bewertungsstandpunkt fehlt. Man sollte deshalb seine Aufmerksamkeit weniger solchen Figuren schenken als vielmehr den Zuständen, denen sie ihr Charisma verdanken. Damit wäre schon viel zu ihrer Entzauberung beigetragen.

***

Auf die zweite Frage gibt es ebenfalls eine klassische Antwort, aus der Psychologie. Sigmund Freud beschreibt in «Massenpsychologie und Ich-Analyse» (1921), wie eine Person in der Masse eine andere wird. Freud spricht vom «Ichideal», im Zusammenhang mit dem Verliebt-sein. Und er sieht in der Liebe zum charismatischen Führer einen versteckten, umgeleiteten Narzissmus: «(Das) Objekt (dient) dazu, ein eigenes, nicht erreichtes Ichideal zu ersetzen. Man liebt es wegen der Vollkommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf dem Umweg zur Befriedigung seines Narzissmus verschaffen möchte.»

Der charismatische oder autoritäre Herrscher wird zum personifizierten Ichideal seiner Anhänger. Die eigenen Vorstellungen, was richtig und was falsch, was erlaubt und was unerlaubt ist, werden sofort plastischer und sichtbarer, wenn man den Kompass des Verhaltens auf den Pol des Führers ausrichtet. Nicht zuletzt deshalb wirken solche Personen denn auch buchstäblich polarisierend. 

***

Weniger theoretisierend als Freud ging der britische Psychiater Roger Money Kyrle vor. Er besuchte in den 1930er Jahren Versammlungen der Nazis und beobachtete die Psychodynamik bei Reden von Hitler und Goebbels. Er stellte dabei einen einfachen Steigerungs-Dreischritt fest: Selbstmitleid-Verfolgungswahn-Grössenwahn. Der erste Schritt besteht darin, im Gefolge ein Gefühl der Erniedrigung, des Ausgenutztseins, der Ohnmacht zu erwecken.  In einem zweiten Schritt werden die Verursacher und Missetäter identifiziert und benannt: der «Feind von aussen», den man für die Übel verantwortlich macht. Und drittens preist man eine magische Kur gegen dieses Übel an, die meist darin besteht, dem Gefolge ein Gefühl der Allmacht zu verleihen, wenn es sich nur dem Führer anschliesst. «Jeder Zuhörer fühlte einen Teil der All-macht in sich selbst. Er wurde in eine neue Psychose befördert. Das herbeigeführte Selbstmitleid ging über in Paranoia und die Paranoia ging über in Grössenwahn,» beschreibt Money Kyrle das Crescendo dieses manischen Aufputschens.

***

Das Gnadentum des Übermenschlichen, das der charismatischen Führer oft reklamiert, offenbart eine typische Doppeldeutigkeit. Es hebt ihn in schwindelnde Höhen, reisst ihn aber auch in tiefste Abgründe. Wenn seine Prophetien und Versprechen sich nicht erfüllen, kann er keine Gnade «von unten» erhoffen. Das Gefolge verzeiht ihm nicht, dass es den Preis der Unterwerfung für ein unerfülltes Erlösungsversprechen bezahlt hat. Es stürzt ihn und wartet auf den nächsten Verführer. Das wirklich Unheimliche an diesem Phänomen ist, dass wir nichts daraus lernen. Das dämonische «Da capo!» wird also nicht verhallen.




Montag, 9. Oktober 2023

 


NZZ, 5.10.23


Indignatio praecox oder Wokeness-Kitsch

In seinem Roman «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» spricht Milan Kundera vom Kitsch als vom «Hervorrufen der zweiten Träne»: «Der Kitsch ruft zwei nebeneinander fliessende Trä-nen hervor. Die erste Träne besagt: Wie schön sind doch auf dem Rasen rennende Kinder! Die zweite Träne besagt: Wie schön ist es doch, gemeinsam mit der Menschheit beim Anblick von auf dem Rasen rennenden Kindern gerührt zu sein! Erst diese zweite Träne macht den Kitsch zum Kitsch.» 

Es gibt in diesem Sinn den Wokeness-Kitsch. Die «erste Träne» sagt: Wie schlimm ist der Ras-sismus in unserem Alltag! Die «zweite Träne» sagt: Wie schön ist es doch, gemeinsam mit all den woken Menschen empört zu sein über den schlimmen Rassismus; und wie schön ist es, andere als Rassisten zu entlarven! Wokeness bedeutet ein Bewusstsein für die oft unsichtbaren und «normalen» Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen im sozialen Leben. Wokeness-Kitsch dagegen ist eine Dauererregtheit, die überall Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen wittert, nach Triggern der Empörung Ausschau hält. Eine Indignatio praecox. Wir empören uns, um uns gut zu fühlen. Und das heisst vor allem: besser als die anderen. 

***

Hier zeigt sich das Grundmotiv: Wir zuerst! Wir sind woke, ergo sind wir. Ein Paradox: Ständig redet man von einer Vielfalt der Identitäten, von Non-Binarität, aber der Wokeness-Kitsch operiert mit dem polarisierenden Knüppel der Binarität: Wir – Personae gratae - versus die anderen – Personae non gratae. Dabei lastet auf den anderen ständig der Rechtfertigungsdruck, nicht so zu sein wie die Woken: Bevor du etwas sagst, entschuldige dich, dass du ein weisser, europäischer, alter, privilegierter, heterosexueller Mann mit satter Rente bist! Und glaube ja nicht, die Woken zu verstehen!

Wokeness-Kitsch ist sich sicher, einem «richtigen» Bewusstsein verpflichtet zu sein, während er die anderen eines «falschen» Bewusstseins bezichtigt. Dabei leitet ihn die Annahme, moralische Integrität messe sich am Grad der Indigniertheit. Der emotionale Ausdruck zeigt zweifellos oft am wahrnehmbarsten und stärksten die innere moralische Bewegtheit an. Aber umgekehrt zu meinen, sicht- und hörbare Empörtheit sei das «authentische» Symptom guter Moral, zeugt eher von pubertierender Motzmentalität.  

***

Natürlich gibt es viele Gründe, «erste Tränen» zu vergiessen. Der Tod von George Floyd ist ein Skandal, und man versteht hier eindeutig und spontan, was «Black Lives Matter» bedeutet. Der Spruch kann jedoch – als «zweite Träne» –  zum billigen und aufdringlichen Mittel der Selbstdarstellung mutieren, und schlimmer: Konformitätsdruck ausüben. Kunderas Definition des Kitschs hatte ihre bittere politische Herkunft in der Erfahrung mit der erstickenden und gleichschaltenden Atmosphäre des Sowjetsystems. Es scheint fast, als brauche es heute keinen Parteiapparat, keinen äusseren Zwang mehr. Er ist verinnerlicht, als hirnwaschender Moralismus seichter Gleichgesinntheit. 

Aber der Strom «zweiter Tränen» trübt den Blick auf die skandalösen Zustände. Das kümmert den Wokeness-Kitsch nicht. Er wirft sich in die Pose der Rechtschaffenheit und Betroffenheit, hält die Empörungsökonomie am Köcheln. Zielt ab auf Lustgewinn durch Aufmerksamkeitsschacher. Am schädlichsten ist das Bestreben, die Sprache flach zu bügeln. Die Angst geht um, mit jeder Äusserung eine Phobie zu verraten und so in eine Fallgrube des Nicht-Woken zu geraten. Aber Angst essen Geist auf. Sprache ist ein Werkzeug des Geistes. Um ihn lebendig zu erhalten, braucht es die blühende «Inkorrektheit» vieler Sprachgebräuche, die einander durchdringen, und ja: Grenzen verletzen. Die Indignatio praecox will etwas anderes. Sie legt die Reizschwelle bestimmter Wörter tief, damit sie umso leichter und schneller den Wortbenutzer als nicht woke «inkriminieren» kann.

***

Es gibt Stimmen, die den Wokeness-Kitsch für eine Bagatelle halten. Sofern damit gemeint ist, dass man minoritären Eiferern nicht über Gebühr Aufmerksamkeit schenken soll, kann man nur zustimmen. Aber es geht nicht eigentlich um diese Minoritäten, sondern um die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik. Echte Kritik braucht keinen Safe Space. Sie steht und fällt mit der Freiheit, alles sagen zu können. 

Das bedeutet keinen Freipass für jede Invektive und für jeden Bullshit, vielmehr die Anerkennung eines Ethos des Debattierens und Argumentierens. Wir müssen es lernen, üben, pflegen und stets wieder prüfen. Ein solches Ethos bildet so etwas wie eine implizite Verfassung geistiger Freiheit, die kognitive Tugenden wie Unvoreingenommenheit, Tatsachentreue, genauen Blick hochhält. Indigniertheit kommt nicht vor. Und die sich vordrängelnde Identitätspositur «Ich als X..» hat genau dann einen Wert, wenn sie etwas zur Sache beiträgt. Wer eine solche Verfassung nicht akzeptiert, lehnt also geistige Freiheit ab, ebnet ihren Feinden und Verächtern das Feld. Gegenüber ihnen sollte man nun wirklich woke sein. 



Dienstag, 26. September 2023

 




Abschied von einer fundamentalistischen Physik

Gibt es fundamentale Naturgesetze? Wenn wir von der Gesetzmässigkeit der Natur sprechen, sprechen wir eigentlich von unseren Theorien. Jede Theorie hat sozusagen ihr konzeptuelles Reservoir an einfachen Figuren, mit denen sie ihr explikatives Spiel spielt. Die Physik spielt mit Elementarteilchen und ihren Wechselwirkungen; die Chemie mit Atomen und ihren Verbindungen; die Molekularbiologie mit den Genen und ihren Expressionen in Lebewesen; die Neurobiologie mit Neuronen und ihren vernetzten Aktivitäten.

***

Die Frage ist: Wie kommt man vom fundamental Einfachen zum Komplexen? Wir kennen das Problem aus der Chaostheorie. Zum Beispiel unterliegt das Wettergeschehen durchaus physikalischen Gesetzen - ist also «deterministisch» - , aber sein Verhalten ist trotzdem nicht exakt vorhersehbar: «chaotisch». Umgekehrt manifestieren alltägliche Materialien stabile kollektive Makroeffekte, die sich aus dem «Chaos» ihrer Mikrobestandteile nicht herleiten lassen: «emergente» Eigenschaften. Etwa die Zähflüssigkeit von Sirup, die Festigkeit von Glas, ebenso Exotika wie die flüssige Kristallinität des Laptopbildschirms, die Supraleitfähigkeit oder Supraflüssigkeit ultrakalter Stoffe. Unordnung aus Ordnung, oder Ordnung aus Unordnung. Der Physiker und Nobelpreisträger Philip W. Anderson prägte für dieses Phänomen in den 1970er Jahren eine Kult-Formel: «More is different». Ein einzelnes Apfelmolekül ist nicht fest und sauer, viele Apfelmoleküle sind fest und sauer. 

***

Ein anderer Nobelpreisträger – der Physiker Robert Laughlin – schrieb vor über 15 Jahren das Buch «Abschied von der Weltformel» (im Original «A Different Universe», eine Anspielung auf Anderson). Laughlin ist Festkörperphysiker, und als solcher vertraut mit dem Verhalten von Vielteilchensystemen, zum Beispiel mit dem Schmelzvorgang oder dem Übergang von halbleitendem zu supraleitendem Material. Festkörperphysik baut durchaus auf das «Fundament» der Quantentheorie, aber sie ringt immer wieder mit dem Problem, aus den Gesetzen der Wechselwirkung von Elementen eines Systems sein Makroverhalten zu erklären.  

Diese Erfahrung liess Laughlin an einem Grundglauben der modernen Physik zweifeln: Die Gesetze sind der Natur sozusagen «eingeschrieben».  Wir entdecken sie. Aber wer oder was «schreibt» diese Gesetze? Wir beobachten zum Beispiel das Phänomen der Anziehung zwischen Massen. Und wir sagen, ihm «liege» das  Gravitationsgesetz «zugrunde». Gemäss Laughlin sollte man diese Redensart nicht so interpretieren, dass Experimente eine immer schon bestehende  «fundamentale» Gesetzmässigkeit bestätigen. Die Ordnung der Natur beruht nicht auf ihr inhärierenden Gesetzen, die Gesetze «emergieren» vielmehr aus ordnenden Prinzipien. 

***

Was bedeutet das? Zunächst einmal eine Absage an «Muttertheorien», an ein Projekt also, wie es sich heute immer noch in der Suche nach einer «Theorie von allem» äussert, allerdings leiser als auch schon. Solche Physik ist für Laughlin «quasireligiös», weil sie an das gesetzesmässige Fundament allen Geschehens wie an eine geoffenbarte Wahrheit glaubt. «Ich bin zunehmend davon überzeugt, dass alle (..) der uns bekannten physikalischen Gesetze aus kollektivem Geschehen hervorgehen. Anders gesagt, die Unterscheidung zwischen grundlegenden Gesetzen und den aus ihnen hervorgehenden Gesetzen ist (..) ein Mythos». 

Damit hängt zweitens eine Absage an den Reduktionismus zusammen, an die Idee, alles makro-physikalische Geschehen lasse sich «im Prinzip» aus mikrophysikalischen, sprich quantentheoretischen Gesetzen erklären. Zum Beispiel beschreiben die Gesetze der Hydrodynamik das Verhalten von Flüssigkeiten anhand von Parametern wie Dichte, Druck, Viskosität, also anhand von «emergenten» Eigenschaften. Sie kommen auf mikrophysikalischer Ebene nicht vor. Wir beobachten sie einfach, wenn ein System hinreichende Komplexität aufweist. 

Drittens bestreitet die Emergenzidee nicht, dass die Quantentheorie neue, oft «exotische» makroskopische Zustände begreifbar macht. Sie tut dies fortwährend, und Nobelpreise sind dafür bereits verliehen worden. Insbesondere an Laughlin. Trotzdem liegt für ihn die Zukunft der Physik nicht in theoretischen Höhenflügen, sondern in immer präziseren Messungen von komplexen Kollektivphänomenen. Gesetzmässigkeit emergiert dann, wenn man in solchen Phänomenen eine stabile quantitative Beziehung zwischen Makromessgrössen feststellt. So gesehen emergieren die Gesetze der Hydrodynamik aus dem Gewimmel einer Riesenzahl von Molekülen, weil sie unabhängig vom Geschehen auf Mikroebene sind. Das «Kollektiv» Wasser zeigt Eigenschaften wie flüssig und nass, das individuelle Wassermolekül kennt diese Eigenschaften nicht. Umgekehrt bleibt das Wasser unter Normalbedingungen flüssig und nass, ungeachtet, wie chaotisch sich die Moleküle verhalten. 

***

Das alles leuchtet durchaus ein, aber die Sache hat einen Widerhaken. Die Aussage «More is different» bemäntelt eigentlich eine Erklärungsverlegenheit. Emergenz geschieht einfach: Ein neues Phänomen kommt zu den bereits bekannten hinzu, entsteht aus ihnen, lässt sich nicht vorhersagen, bestenfalls «nachhersagen». Man bemerkt hier einen zweideutigen Gebrauch des Emergenzbegriffs. Erstens beschreibt er eine beobachtete Eigenschaft, die «auftaucht». Zweitens sucht er das «Auftauchen» dieser Eigenschaft in einem komplexen System zu erklären. Das mutet tautologisch an: Etwas taucht auf, weil es auftaucht. 

Noch einmal: Gibt es fundamentale Naturgesetze? Das heisst, waren die Gesetze schon am Beginn des Universums da, oder emergierten sie im Laufe der kosmischen Evolution? Nach welchen «Supergesetzen» denn? Es kommt offensichtlich darauf an, was man als «Fundament» deklariert. Vor dem 20. Jahrhundert war dies die Newtonsche Physik mit ihren deterministischen Gesetzen. Sie führte sogar eine neue fundamentale Materiesorte ein – den Äther - ,  um elektro-magnetische Phänomene zu erklären. Im 20. Jahrhundert und am Beginn des 21. Jahrhunderts liefert die Quantenphysik mit ihren probabilistischen Gesetzen das Fundament. Wird uns eine künftige universelle Theorie von allem zeigen, dass die Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen emergente Phänomene von … ja zum Geier von was sind? Wir wissen es nicht. Wir ha-ben bis jetzt zwölf elementare Materieteilchen entdeckt (plus das Higgs). Und wir kennen vier fundamentale Kräfte. Von der unbekannten «dunklen» Materie im Universum ist noch gar nicht die Rede. 

***

Und wenn die ganze Idee über fundamentale Gesetze ein Hirngespinst wäre? In der Physik kursiert die Metapher der Zwiebel. Die Natur ist eine Zwiebel und wir suchen die fundamentalen Gesetze durch «Zwiebelschälen». Nehmen wir an, jede Zwiebelschicht repräsentiere eine Grössenordnung der Erklärung; es gibt die Schicht des Universums, unseres Sonnensystems, der Erde, des Menschen, der Moleküle, Atome, Quarks und so weiter, immer tiefer ins Innere, bis zur Plancklänge (10 hoch-35 m). Erreichen wir einen Kern? Und wie wissen wir, ob es sich um den Kern handelt? 

Hüten wir uns, die Metapher zu wörtlich zu nehmen. Davor hat uns ein weiterer Nobelpreisphysiker, Richard Feynman, gewarnt: «Die Leute fragen mich: ‚Suchen Sie nach den allem zugrunde liegenden Naturgesetzen?’ Nein, das tue ich nicht. Ich versuche nur, mehr über die Welt herauszufinden. Falls sich herausstellt, dass es ein einfaches letztes Gesetz gibt, das alles erklärt, umso besser. Das wäre eine hübsche Entdeckung. Falls sich jedoch das Ganze als eine Zwiebel mit Millionen von Schichten erweist, und wir es leid sind, alle diese Schichten zu untersuchen, dann sei es so. Aber was auch immer herauskommt, es ist die Natur (..) Wenn wir uns daran machen, sie zu untersuchen, sollten wir nicht schon vorher festlegen, was wir herausbekommen wollen.» 

Ein kluger Rat, der verhindern könnte, dass wir auf der Suche nach fundamentalen Gesetzen fundamental abstürzen. Vielleicht ist die Natur ja eine Zwiebelsuppe. Dafür gibt es mehr als ein Rezept.



Sonntag, 10. September 2023

 


NZZ, 6.9.23


Ist der Mensch zu intelligent, um zu überleben?

Stellen wir uns für einen waghalsigen Augenblick auf den Standpunkt der Evolution. Dann erscheint unsere Intelligenz als ein Paradox. Wir betrachten sie als einzigartiges Evolutionsprodukt, und leiten daraus eine entsprechend singuläre Stellung in der Natur ab. Welche Spezies hat denn kognitive Fähigkeiten ausgebildet, die zu Wissenschaft, Mathematik, Technik, Medizin, Literatur, Philosophie, Religion, Kunst führten? Umgekehrt: Welche Spezies bedroht mit ebendiesen kognitiven Fähigkeiten stärker ihr eigenes Fortbestehen auf der Erde?

***

Wir führen unsere Intelligenz auf ein hochkomplexes Gehirn zurück, insbesondere auf ein Bewusstsein, das darauf basiert. Als «Spandrel» hat es der bekannte Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould bezeichnet. Der Begriff – deutsch «Zwickel» – stammt aus der Architektur, wo er eine dekorierte Fläche zwischen einem Rundbogen und seiner rechteckigen Umrandung bezeichnet: eigentlich überflüssigen Zierrat. Gould wies mit dem Begriff auf phänotypische Merkmale hin, die im Laufe der Evolution als Nebenprodukte echter Anpassung entstanden sind. 

Noch heute bewältigt unser Gehirn eine Unmenge an Informationen im Ur-Modus, in dem wir nicht in einen bewussten höheren Denkgang schalten müssen, sondern einfach die Automatismen unserer neuronalen Schaltkreise – das Unbewusste - arbeiten lassen. Offenbar sind die Kosten für Intelligenzleistungen hoch. Unser Gehirn verbraucht etwa 20 Prozent der dem Körper zugeführten Energie, um die biochemischen und elektrophysiologischen Kalkulationen im natürlichen neuronalen Netz in Gang zu halten. Und man kann sich fragen, ob ein solches «barockes» Organ nicht ein luxuriöser Überfluss der Natur sei. 

***

Leben – vom Bakterium bis zum Bonobo - kennt eine atemberaubende Diversität von Intelligenzformen, die im Laufe von Jahrmilliarden im «Labor» der Evolution getestet worden sind. Was überlebt, trägt das Gütezeichen «verlässlicher» Intelligenz, einer arteigenen kognitiven Ausstattung, mit der eine Spezies über die existenziellen Runden kommt. Nun hat der Mensch innerhalb von zwei Jahrhunderten den Planeten zu einem sich erwärmenden Testlabor namens «Anthropozän» umgebaut, das alles andere als beständig sein dürfte. Unsere arteigene Intelligenz schlägt aus der Art der anderen Erdbewohner. Sie ist «überheblich». Erstens hat sie die fatale Fähigkeit, Instrumente zu erfinden, deren kumulierte Konsequenzen und Risiken sie nicht genügend kennt: Kern-, Gen-, KI-Technologie. Und zweitens schafft sie Problemverknäuelungen, an denen sie sich überhebt – sie vermag sie nur schwer, wenn überhaupt zu lösen. Wo technische «Rettung» ist, wächst die Gefahr auch. Der evolutionäre «Testbericht» über unsere Intelligenz steht also noch aus. 

***

Spekulieren wir kurz: Eigentlich hätten wir ein gutes Jäger-und-Sammler-Gehirn. Auf dieser Stufe könnte der Mensch wohl endlos weiterwurschteln, ohne sein Habitat stark in Mitleidenschaft zu ziehen. Deshalb ist es nicht die Intelligenz allein, die uns in die existenzielle Bredouille treibt. Wirklich bedrohliche Potenzen entfaltet sie erst durch ihren «post-evolutionären» Ehrgeiz: wenn sie sich aus dem planetarischen Netz herauslöst, und die Natur zu «übervorteilen» sucht. Eine Spezies lebt auf relativ sicherem Boden mit der Intelligenz, die sie unter den evolutionären Bedingungen der Anpassung erworben hat. Aber der Mensch – und das ist der Punkt - hat eine «nicht angepasste» Intelligenz. Mit ihr verändert er die Bedingungen seiner eigenen Existenz bis zur Selbstauslöschung. Eine solche triumphale Dummheit macht ihn einzigartig im Tierreich. 

***

Womit wir an die «Prinzipien der menschlichen Dummheit» erinnert werden, die der Wirtschaftshistoriker Carlo M. Cipolla 1988 aufstellte. Sein Modell erweist sich als akuter denn je. Cipolla betrachtet darin zwei Akteure, Hinz und Kunz, sowie die Vorteile respektive Nachteile, die sie aus ihrer Interaktion ziehen. Handelt Hinz so, dass für beide ein Vorteil herausspringt, ist die Aktion intelligent; bei Vorteil für Hinz und Nachteil für Kunz ist die Aktion betrügerisch (auf Hinzen bezogen); bei Nachteil für Hinz und Vorteil für Kunz unbedarft; bei Nachteil für beide dumm. 

Nachteil für beide - genau so kommen einem die Aktionen des Homo sapiens – des «weisen» Menschen - gegenüber allen anderen Arten auf dem Planeten vor. Die flagrante Ironie an der ganzen Situation: Der Mensch mit seinem entwickelten Bewusstsein ist sich ungenügend bewusst, dass er sich selber Nachteile schafft. Er ist also eigentlich dumm hoch zwei. 

Man kann in der Evolution eine riesige Experimentiermaschine sehen. Stünde sie vor der Auslage ihrer mehr oder weniger gut funktionierenden Bastelei, und könnte sie die Frage beantworten, was sie am meisten bedauert, dann würde sie wahrscheinlich die Entwicklung der menschlichen Intelligenz nennen.  



Freitag, 8. September 2023

Dienstag, 5. September 2023



Lob des Unvollkommenen

Perfektionierung des Menschen ist im Ursprung ein religiöses, vorab ein christliches Kernmotiv. Im ersten christlichen Jahrtausend waren die herkömmlichen „mechanischen Künste“ von der kirchlichen Elite eher gering geschätzt, obwohl die Basis der Gläubigen sich aus der arbeitenden Bevölkerung - Frauen und Männern - zusammensetzte. Mechanik und Technik hatten zu tun mit den „niedrigen“ körperlichen Tätigkeiten des Menschen, nicht mit seinen hohen, intellektuellen und spirituellen. 

Die Verknüpfung von Heilserwartung und Technologie verdankt sich einer folgenreichen Umwertung der mechanischen Künste im frühen Mittelalter: der Christianisierung der Technik. Es war vor allem der Philosoph Johannes Scotus Eriugena, welcher ihnen eine würdigere Bedeutung verlieh, indem er in ihrer Nützlichkeit nicht nur eine praktische, sondern auch eine spirituelle Komponente sah. Das Heil, so Eriugena, kann erarbeitet werden in weltlichen Anstrengungen, nicht zuletzt durch technische Innovationen. Ein grosser Teil des Wissens und Vermögens, womit Gott den Menschen ursprünglich ausgestattet habe, sei durch den Sündenfall verschüttet und vergessen worden. Dazu gehören auch die mechanischen Künste. Sie zu pflegen, zu verbessern und zu vervollkommnen heisst, den „gottgleichen“ Zustand des Menschen wiederherzustellen. So wurde auch Religio – die Rückbindung des Menschen an Gott – zur technischen Aufgabe.

***

Dieses Projekt der Selbstvervollkommnung sollte sich als ungeheuer einflussreich in der westlichen Geschichte erweisen. Ein uralter Traum, der Mythen nährt wie jenen vom Golem (Leben schaffen) oder vom Elixier des Lebens (Unsterblichkeit). Magier und Alchimisten des Mittelalters verzehrten sich im Versuch, diesen Traum zu verwirklichen. Sie sind gescheitert, aber die nachfolgenden Naturforscher haben ihn geerbt. So gesehen, sind neuzeitliche Wissenschaft und Technologie weniger eine Überwindung als die Fortsetzung von Magie und Alchemie mit modernen Mitteln. Und die heutigen Magier und Alchimisten wohnen heute vorzugsweise in Silicon Valley, der Hochburg technischer Verbesserungs- und Vervollkommnungsträume. 

Genetik, Neurologie, Künstliche Intelligenz, Bio-Informatik und andere Disziplinen wecken zum Beispiel Erwartungen in eine Lebensverlängerung ad libitum. Ungeachtet der eugenischen Schmutzspur durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, behauptet sich die Idee der Menschenverbesserung hartnäckig, ja, ist sie zum Fanal eines neuen Futurismus geworden. Google steckt einen Drittel seines Milliardenbudgets für Forschung in Projekte mit Schwerpunkt Lebensverlängerung und Vergreisungsverhinderung. In Silicon Valley schiessen die Startups der Unsterblichkeitsindustrie wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Der Kapitalismus entdeckt seinen grössten Gegner: den Tod. Bill Maris, Ex-Leiter von Google Ventures, verkündete 2015, im Kampf gegen den Tod „versuchen wir nicht ein paar Yards, sondern das Spiel zu gewinnen.“ 

***

Solches Tönespucken gehört schon zum Alltag der einschlägigen Branche. Umso nötiger erscheint deshalb eine kurze Rückbesinnung auf die Idee der Perfektionierung. Sie braucht eine Norm, ein Ideal. Damit setzt man ein Ziel, das nicht unbedingt erreicht, auf das aber hingearbeitet werden soll. Alles, was man tut, erhält so einen Richtungssinn, wie eine „Magnetisierung“.  Das erweist sich als äusserst vorteilhaft, wenn man bestimmte Praktiken und Routinen erwerben will, seien sie nun manuell oder intellektuell; in Laboratorien, Ateliers, Werkststätten, an Schreibtischen oder Computern. Perfektion gibt es nur im Komparativ, in Stufen vom Anfänger- bis zum Expertentum. Man vergleicht eine Stufe mit einer anderen. So entwickelt sich auch eine Dynamik des Lernens, die nie aufhört, und uns stets in einem gewissen unbefriedigten Zustand zurücklässt. 

Dieses Unbefriedigtsein ist wichtig, der Herzschlag aller Kreativität. Sein Takt: Es ist gut, könnte aber besser sein. Damit zusammen hängt auch das Scheiternkönnen. Gute Wissenschafter und Künstler, überhaupt alle wirklich kreativen Menschen sind Professionelle des Scheiterns. Sie haben ein Sensorium für die Unvollkommenheit dessen, was sie hervor-bringen. „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern,“ schreibt Samuel Beckett. Und er trifft damit genau das Wesen des Schöpferischen. 

***

Das trifft auch auf den wissenschaftlichen Fortschritt zu. Fortschritt ist – was nun einiger-massen paradox klingt - ein stets besseres Scheitern des Verständnisses der Welt. Jeder echte Wissenschafter arbeitet im Bewusstsein, dass seine Theorien, Modelle, Hypothesen „unvollkommen“ sind; sie treffen immer nur sehr beschränkt auf die Realität zu. Der Wissenschafter hat ein professionelles Bewusstsein für die Unzulänglichkeit, das Scheitern-können seiner Denkarbeit. Er weiss: Die Experimente sind gegen mich. Die Natur ergreift immer die Partei des versteckten Fehlers, lautet eine Variante von Murphys Gesetz. 

In dieser Einstellung gleichen sich Wissenschafter und Handwerker. Gute Handwerker, d.h. solche mit Materialsinn,  zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein Gespür haben für die Eigenheiten, Widerspenstigkeiten, Unvorhersehbarkeiten, Unvollkommenheiten des Mate-rials, mit und an dem sie arbeiten. Das Scheitern ist ihr unverzichtbarer Gehilfe, so wie die Falschheit die unabdingbare Komplizin der wissenschaftlichen Wahrheitssuche ist. 

***

Wir vernehmen von den Biologen, dass die Evolution ohne Plan bastelt – sie lässt aus ih-ren Improvisationen und Stümpereien immer nur relativ vollkommene Organismen entstehen, die sich aber auf erstaunliche Weise doch immer wieder in wandelnden Umwelten zurechtfinden. Die Unvollkommenheit, so könnte man sagen, ist bereits in der Natur angelegt, eines ihrer Schaffensprinzipien. Unvollkommen sein bedeutet, dass man sich anpassen, verbessern – dass man leben, ja, glücklich leben kann. 






















Samstag, 2. September 2023

 


                                    La traverseé triomphale du radicchio

                                                    (Aus der Serie "Alpinismus")

Mittwoch, 30. August 2023




NZZ, 25.8.23


Die irreführende Mythologie der Maschinenintelligenz

Künstlichkeit ist das einzige Klare an der künstlichen Intelligenz. Aber «Intelligenz»? Der Trick, der ein System intelligent macht, sei der, dass es keinen gibt, schrieb ein Pionier der KI - Marvin Minsky - vor fast 40 Jahren. Ungeachtet dessen dürfte sich ein Blick auf einige Fehlschlüsse loh-nen, die uns im Vergleich zwischen Mensch und Maschine immer wieder unterlaufen. Sie tragen nicht zum Verständnis bei, sondern verfestigen eine Mythologie der Maschinenintelligenz. 

***

In der KI-Forschung ist eine Steigerungsform geläufig: schwach (narrow), stark (general) und super. Lassen wir hier die Super-Stufe ausser Acht. KI-Systeme sind bisher sehr erfolgreich im Bewältigen von spezifischen Aufgaben. Meist handelt es sich um klar geregelte und abgrenzbare Bereiche wie etwa Spiele. Das ist die schwache Stufe.

Man vernimmt jetzt andauernd, wie rasant die Verbesserungen einiger KI-Systeme voranschreiten in Richtung starker Stufe. Die Prämisse lautet: Wir schreiten von den schwachen Anfängen der Computerintelligenz an langsam auf einem Kontinuum fort, bis wir an dessen Ende allgemei-ne künstliche Intelligenz erreichen werden.

Man nennt diese eindimensionale Sicht in KI-Kreisen den «Fehlschluss des ersten Schritts». Denn es ist überhaupt nicht ausgemacht, ob der gegenwärtig bevorzugte Ansatz auf ein allgemeineres Niveau der Intelligenz führt, wie wir es von Lebewesen her kennen. 

Hier macht sich ein anderer Fehlschluss bemerkbar: Fortschritt ist immer mehr vom Gleichen; immer mehr Daten, immer mehr Rechenkapazität, immer mehr «Neuronenschichten». Das Wun-dermittel: Hochskalieren. Es erinnert an das Sprichwort: Wer nur einen Hammer hat, sieht in allem bloss Nägel. Yann LeCun, einer der gegenwärtig führenden KI-Forscher, sagte kürzlich dazu: «Ich glaube nicht eine Sekunde an die Idee, dass wir die aktuellen grossen Sprachmodelle ein-fach hochskalieren müssen, um schliesslich allgemeine KI zu erhalten».

***

In KI-Kreisen beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, dass Intelligenz viel mehr mit der organi-schen Hardware – der «Wetware» – zu tun hat, als bisher angenommen. Pointiert: Starke Intelli-genz ist biologische Intelligenz. Und hier erhält ein Problem Kontur, das die KI-Forschung noch lange beschäftigen dürfte. Es gibt eine immense Zahl intelligenter Lebensformen, vom Bakterium bis zum Bonobo. Und die Frage stellt sich, inwieweit und ob sich dieser evolutionäre Reichtum überhaupt je völlig algorithmisch ausbuchstabieren lässt. Dass nichtmenschliche Lebewesen Probleme lösen, die dem Menschen gewaltiges Kopfzerbrechen abverlangen, ist längst bekannt. Womöglich liegt im «Design» der Organismen ein noch nicht begriffener Evolutionsvorsprung der Natur gegenüber den KI-Systemen. Was nicht bedeutet, dass nur evolutionär entstandene Systeme intelligent sind, sondern, dass in der künftigen KI-Forschung die Biologie ein gewichtiges Wort mitreden wird. 

***

Damit hängt ein anderes Phänomen zusammen. Ein Grossteil unserer Fähigkeiten ist implizit. Das heisst, wir können etwas, ohne genau zu wissen, wie und warum wir das können. Das Knowhow erweist sich als «inkarniert» in den körperlichen Automatismen. Ob sich in Maschinen etwas Analoges implemetieren lässt, ist eine offene Frage.  

Jedenfalls stossen wir auf eine höchst eigentümliche Asymmetrie: Vieles, was für die Menschen schwierig ist, ist für die Maschine leicht – und umgekehrt. Oft lösen Maschinen Probleme, die für uns harte Knacknüsse sind. Und oft scheitern sie an Problemen, die wir dank Commonsense, also Hausverstand, spielend lösen. Commonsense ist der Sammelbegriff für alles, was den Computerwissenschaftlern Kopfzerbrechen bereitet.

Man hat Commonsense auch schon als «dunkle Materie» der KI bezeichnet, die grosse Unbekannte der Intelligenz. In KI-Kreisen spricht man vom «Moravec-Paradox», nach dem Robotiker Hans Moravec, der sagte: «Es ist relativ leicht, den Computer auf einer Erwachsenenstufe Intelligenztests bestehen oder Schach spielen zu lassen, und es ist schwierig oder unmöglich, ihnen die Fertigkeit eines einjährigen Kindes im Wahrnehmen oder Bewegen beizubringen».

***

Genügend vielschichtige neuronale Netze sind Black Boxes. Sie haben Milliarden von Parametern, die sie automatisch justieren. Wenn wir all die Prozesse, die in einem Computer ablaufen, rein maschinentechnisch beschreiben müssten, wären wir aufgeschmissen. In Ermangelung einer besseren Alternative greifen wir zu Metaphern aus der Psychologie. Der Computerwissenschaftler Drew Mc Dermott prägte 1976 den Begriff der «hoffnungsvollen Eselsbrücke» («wishful mnemonics»).

Wir wünschen uns, dass der Computer es macht wie wir, also nutzen wir anthropomorphisierende Wörter für ihn: Das brachenübliche Marketing kündigt vollmundig menschenähnliche Fähigkeiten an. Zum Beispiel «Watson kann alle Texte über Gesundheitsfürsorge in Sekunden lesen» (IBM), oder «Das KI-Modell hat den Menschen im Verstehen von natürlichen Sprachen überflügelt» (Microsoft). Kein Wort davon, was mit «lesen» und «verstehen» genau gemeint ist.

***

Um noch einmal auf den Körper zurückzukommen: Intelligenz beruht auf Gehirnaktivitäten, letztlich auf Biochemie. Unser Gehirn bewältigt eine Unmenge an Informationen im Ur-Modus, in dem wir nicht in einen «höheren Denkgang» schalten müssen, sondern einfach die Automatismen unserer neuronalen Schaltkreise – das Unbewusste - arbeiten lassen.

KI, wie wir sie kennen, beruht auf Statistik, Mathematik. Im natürlichen Gehirn sind die Neuronen über Synapsen verbunden, und die Signalübertragung erfolgt durch chemische Vorgänge: Ausschütten von Neurotransmittern. Das künstliche Gehirn modelliert diesen Vorgang mathematisch, indem es den chemischen Vorgang durch einen Zahlenwert des künstlichen Neurons, das Gewicht, ersetzt. Dieses Modell funktioniert überraschend gut, in vielen Anwendungsgebieten mit einer Präzision, die dazu verleitet, das Modell des Gehirns mit dem Gehirn zu verwechseln. Ein kolossaler Fehlschluss.

***

Die hier kurz besprochenen Fehlschlüsse sind nicht die einzigen im Missverstehen der KI. Forscherinnen und Forscher, die über den engen Horizont des Algorithmendesigns hinaus blicken, wie Melanie Mitchell vom Santa Fe Institute in New Mexico, hinterfragen sie schon lange. Doch sie werden viel zu wenig gehört. Wie es scheint, sind die Fehlschlüsse bereits Bestandteil unserer gängigen Vorstellung über Maschinenintelligenz, will sagen: Selbstverständlichkeiten. 

 Selbstverständlichkeiten tendieren dazu, ins kollektive Unbewusste zu sinken, und sich dabei in ein «Gefühl» zu verwandeln. Wir haben das Gefühl, KI-Systeme würden «denken», uns gegen-über «feindlich» gestimmt sein, uns vielleicht beherrschen «wollen». Ein Grossteil der gegenwärtigen Pop-Kultur rund um die KI bestärkt dieses Gefühl.  Obwohl, nein, weil die gängige Vorstellung über Maschinenintelligenz einer kritischen Befragung nicht standhält, verhext sie unseren Verstand. Sie bildet die Mythologie maschineller Intelligenz.

Und diese Mythologie hat uns mächtig im Griff. Wenn Rationalität bedeutet, sich diesem Griff durch Reflexion zu entziehen, dann leben wir in einem völlig irrationalen Zeitalter.


Dienstag, 29. August 2023

 


                                   Oh, l'été au bord du lac de Morat

Sonntag, 13. August 2023

 

                       David Chalmers                              Christof Koch


Das «harte Problem» des Bewusstseins

Integrierte Information, Quantendekohärenz, Emergenz… und was noch?

Was ist Bewusstsein? Vor 25 Jahren stritten ein Neurowissenschaftler und ein Philosoph über diese faszinierende und zugleich frustrierende Frage. Der Neurowissenschaftler Christof Koch vertrat die These, dass das Phänomen des Bewussteins auf der Basis neurophysiologischer Vorgänge erklärbar sei. Dagegen erhob der damals kaum bekannte junge australische Philosoph David Chalmers den kecken Einwand, dass der neurophysiologische Kenntnisstand allein, und mag er noch so hoch sein, nicht erklären könne, wie Bewusstsein aus Gehirnprozesses «auftaucht». Und er prägte einen mittlerweile notorischen Begriff für diese Unzulänglichkeit: das «harte Problem» des Bewussteins. Koch ging mit Chalmers eine Wette ein: Im Jahre 2023 würde man ein neuronales Muster entdeckt haben, das dem Bewusstsein zugrundeliegt, das harte Problem also gelöst sein. Wettgewinn: Eine Kiste Wein. Chalmers erhielt sie im Juni 2023. 

***

Das harte Problem ist nicht neu. Wir «verdanken» es in moderner Fassung der Philosophie von René Descartes. Schon bei ihm stand das Gehirn im Fokus. Er spekulierte darüber, wie dieses Organ Gedanken hervorbringen kann. In der mechanistischen Weltsicht entpuppte sich Bewusst-sein als eine «okkulte» Eigenschaft des Gehirns. Und obwohl Descartes sich seinen genialen Kopf zerbrach, fand er letztlich keine befriedigende Erklärung dafür, wie ein Gedanke – etwas «Unausgedehntes», Nicht-Mechanisches - dem Gehirn – etwas «Ausgedehntem», Mechanischem - entspringt. Er hat das Problem der modernen Gehirnforschung vererbt. Und sie bekundet auch mit entwickelten Theorien ihre liebe Mühe.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Problemstruktur. Sie ist einfach. Man geht aus von Eigenschaften X1, X2, X3… der Materie – des Gehirns - , und versucht, ein Phänomen – Bewusst-sein - zu erklären, das daraus resultiert, aber X1, X2, X3… nicht hat. Es übersteigt gewissermassen den Horizont dieser Eigenschaften. Das Gehirn hat eine Masse, eine chemische Zusammensetzung, eine elektrische Leitfähigkeit et cetera pp. – was man vom Gedanken, der ihm entstammt, nicht sagen kann. Gewiss, Bewusstsein «hat etwas zu tun» mit einem neuronalen Muster, aber der Umkehrschluss, dass dieses Muster allein bewusstes Verhalten erklärt, ist ein reduktio-nistischer Erz-Irrtum. 

***

Sind wir heute weiter gekommen? Die Fortschritte der Gehirnforschung sind beeindruckend. Heute machen sich neurokybernetische Modelle anheischig, Descartes’ Problem zu «lösen». Ein prominentes  stammt von Christoph Koch und Guido Tononi: die  «integrierte Informationstheorie» (IIT).  

Die Grundidee: Bewusste Zustände sind differenziert und integriert. Als bewusste Wesen sind wir fähig, eine Vielzahl von Eindrücken zu unterscheiden und doch nehmen wir in ihnen etwas als gestalthaftes Ganzes wahr. Ein Smartphone kann eine gewaltige Pixelmenge speichern und in der darin enthaltenen Information Unterscheidungen vornehmen. Das aber genügt nicht, die Pixel müssen auch miteinander verknüpft sein, zu Mustern «integriert». Bewusstseinszustände entstehen, so die These, bei einer gewissen Dichte an differenzierter und integrierter Information – man könnte auch sagen: Komplexität - eines beliebigen Systems. Tononis Theorie definiert eine Masszahl für diese Dichte, in Bits. Sie wird als «Phi» (Φ) bezeichnet. 

Es gibt also für Tononi graduelle Bewusstheit. Phi misst, wie viel integrierte – und damit bewusste – Information ein System enthält, sei es nun organisch, anorganisch oder künstlich. Bewusst-sein ist eine Eigenschaft wie Masse, Schmelzpunkt, Speicherkapazität, Blutdruck oder eben: Komplexitätsgrad eines beliebigen Systems. Tononi spielt im Besonderen mit der Idee eines «Phi-Meters», der für jedes System einen spezifischen Wert berechnet: Menschen, Katzen, Google-Autos, Smartphones. Was sagt uns dieser Wert? Angenommen, man präsentiert mir ein beliebiges System. Ich messe seinen Phi-Wert. Hat es ein Bewusstsein? Nein, nur einen Phi-Wert. Der Zusammenhang zwischen Phi-Wert und Bewusstsein wird einfach stipuliert, nicht erklärt. Das harte Problem bleibt. 

***

Natürlich darf die magistrale Erklärerin Quantentheorie nicht fehlen. Der Physiker Roger Penrose und der Anästhesiologe Stuart Hameroff haben ihre eigene Erklärung des Bewusstseins entwickelt. An neurophysiologischen Prozessen sind Mikroobjekte beteiligt, bei denen sich (unter Umständen) Quanteneffekte bemerkbar machen. Hameroff vermutet einen wichtigen Ort für neuronale Quantenereignisse in so genannten Mikrotubuli. Es handelt sich um Proteinfäden, die innerhalb der Nervenzellen als molekulare Informationsübermittler fungieren. Die Hypothese von Penrose und Hameroff lautet, dass Mikrotubuli genügend klein sind, um Quanteneffekte zu zeigen. Das heisst, die Zustände vieler Mikrotubuli können sich zum Gesamtzustand eines verschränkten Quantenobjekts überlagern. Der Kollaps dieses Gesamtzustands – im Jargon: der Dekohärenz -,  manifestiert sich als Bewusstsein.

Spekulation auf hohem Seil, sagen nicht wenige. Erstens ist unklar, ob Mikrotubuli eine zentrale Rolle in Bewusstseinsvorgängen spielen. Zweitens beruft sich Pensose auf eine «modifizierte» neue Quantentheorie, die nach seiner Ansicht die Gravitation auf neurobiologischer Ebene einführen würde und diese Vorgänge erklären könnte. Aber die Theorie existiert (noch) nicht. Überdies herrscht unter Physikern alles andere als Einigjkeit über den Begriff der Dekohärenz.  Das Vorhaben von Penrose erinnert ein wenig an das alte Projekt der Alchemisten mit ihrer Devise: Ignotum per ignotius – das Unbekannte aus noch weniger Bekanntem erklären. In diesem Zusammenhang schwebt mir immer ein Bild des amerikanischen Cartoonisten Stanley Harris vor Augen. Zwei Wissenschaftler stehen vor einer Wandtafel. Links ein Haufen Formeln, rechts ein Haufen Formeln. Die Forscher diskutieren offensichtlich die Frage, wie man von links nach rechts gerät. Als Missing Link steht dazwischen der Satz: «Dann geschieht ein Wunder..». Der zweite Forscher sagt zum ersten: «Ich glaube, Sie sollten in diesem Schritt etwas expliziter sein».

***

Um noch einmal auf die «harte» Problemstruktur zurückzukommen. Ein System besteht aus Elementen. Diese haben eine Reihe von Eigenschaften. Im System als Ganzem manifestiert sich eine neue Eigenschaft, die sich nicht auf die elementaren zurückführen lassen. Man spricht von «Emergenz».  Wasser ist nass, ein Wassermolekül ist nicht nass. Bewusstsein ist eine Eigenschaft, die aus dem Kollektivverhalten der Neuronen emergiert. Die Neuronen sind nicht bewusst. 

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der Emergenzbegriff als Hoffnungsträger in der Erklärung von vielen komplexen Phänomenen angeboten, von der Physik und Chemie, über Biologie und Neurowissenschaft bis zur Soziologie und KI-Forschung.  Das Problem ist allerdings gerade sein explikatives Vermögen. Wenn wir sagen «Bewusstsein emergiert aus neuronalen Prozessen», dann machen wir eine Beobachtung, und bekunden zugleich unsere Ignoranz. Das heisst, wir liefern keine Erklärung. Wir wissen nicht wie und warum dies geschieht. Eine Emergenztheorie des Bewusstsens müsste ja die Eigenschaft «Bewusstsein» aus dem Verhalten der Elemente eines neuronalen Netzes voraussagen können. Wie soll man aber etwas voraussagen, das man erst kennt, wenn es «aufgetaucht» ist? 

Neulich las ich einen kleinen, sehr aufschlussreichen Essay: «Emergenz ist keine Erklärung, sondern ein Gebet».  Der Titel sagt alles. Die Theorien des Bewusstseins, die wir bis heute kennen, sind Theorieversprechen. Ein leeres? Werden sie je etwas anderes sein? Ich weiss nicht, ob Koch und Chalmers eine neue Wette eingehen.







NZZ, 9.4.24 Sokrates und der ChatGPT Schreiben in der postliterarischen Welt Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, er...