Dienstag, 5. September 2023



Lob des Unvollkommenen

Perfektionierung des Menschen ist im Ursprung ein religiöses, vorab ein christliches Kernmotiv. Im ersten christlichen Jahrtausend waren die herkömmlichen „mechanischen Künste“ von der kirchlichen Elite eher gering geschätzt, obwohl die Basis der Gläubigen sich aus der arbeitenden Bevölkerung - Frauen und Männern - zusammensetzte. Mechanik und Technik hatten zu tun mit den „niedrigen“ körperlichen Tätigkeiten des Menschen, nicht mit seinen hohen, intellektuellen und spirituellen. 

Die Verknüpfung von Heilserwartung und Technologie verdankt sich einer folgenreichen Umwertung der mechanischen Künste im frühen Mittelalter: der Christianisierung der Technik. Es war vor allem der Philosoph Johannes Scotus Eriugena, welcher ihnen eine würdigere Bedeutung verlieh, indem er in ihrer Nützlichkeit nicht nur eine praktische, sondern auch eine spirituelle Komponente sah. Das Heil, so Eriugena, kann erarbeitet werden in weltlichen Anstrengungen, nicht zuletzt durch technische Innovationen. Ein grosser Teil des Wissens und Vermögens, womit Gott den Menschen ursprünglich ausgestattet habe, sei durch den Sündenfall verschüttet und vergessen worden. Dazu gehören auch die mechanischen Künste. Sie zu pflegen, zu verbessern und zu vervollkommnen heisst, den „gottgleichen“ Zustand des Menschen wiederherzustellen. So wurde auch Religio – die Rückbindung des Menschen an Gott – zur technischen Aufgabe.

***

Dieses Projekt der Selbstvervollkommnung sollte sich als ungeheuer einflussreich in der westlichen Geschichte erweisen. Ein uralter Traum, der Mythen nährt wie jenen vom Golem (Leben schaffen) oder vom Elixier des Lebens (Unsterblichkeit). Magier und Alchimisten des Mittelalters verzehrten sich im Versuch, diesen Traum zu verwirklichen. Sie sind gescheitert, aber die nachfolgenden Naturforscher haben ihn geerbt. So gesehen, sind neuzeitliche Wissenschaft und Technologie weniger eine Überwindung als die Fortsetzung von Magie und Alchemie mit modernen Mitteln. Und die heutigen Magier und Alchimisten wohnen heute vorzugsweise in Silicon Valley, der Hochburg technischer Verbesserungs- und Vervollkommnungsträume. 

Genetik, Neurologie, Künstliche Intelligenz, Bio-Informatik und andere Disziplinen wecken zum Beispiel Erwartungen in eine Lebensverlängerung ad libitum. Ungeachtet der eugenischen Schmutzspur durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, behauptet sich die Idee der Menschenverbesserung hartnäckig, ja, ist sie zum Fanal eines neuen Futurismus geworden. Google steckt einen Drittel seines Milliardenbudgets für Forschung in Projekte mit Schwerpunkt Lebensverlängerung und Vergreisungsverhinderung. In Silicon Valley schiessen die Startups der Unsterblichkeitsindustrie wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Der Kapitalismus entdeckt seinen grössten Gegner: den Tod. Bill Maris, Ex-Leiter von Google Ventures, verkündete 2015, im Kampf gegen den Tod „versuchen wir nicht ein paar Yards, sondern das Spiel zu gewinnen.“ 

***

Solches Tönespucken gehört schon zum Alltag der einschlägigen Branche. Umso nötiger erscheint deshalb eine kurze Rückbesinnung auf die Idee der Perfektionierung. Sie braucht eine Norm, ein Ideal. Damit setzt man ein Ziel, das nicht unbedingt erreicht, auf das aber hingearbeitet werden soll. Alles, was man tut, erhält so einen Richtungssinn, wie eine „Magnetisierung“.  Das erweist sich als äusserst vorteilhaft, wenn man bestimmte Praktiken und Routinen erwerben will, seien sie nun manuell oder intellektuell; in Laboratorien, Ateliers, Werkststätten, an Schreibtischen oder Computern. Perfektion gibt es nur im Komparativ, in Stufen vom Anfänger- bis zum Expertentum. Man vergleicht eine Stufe mit einer anderen. So entwickelt sich auch eine Dynamik des Lernens, die nie aufhört, und uns stets in einem gewissen unbefriedigten Zustand zurücklässt. 

Dieses Unbefriedigtsein ist wichtig, der Herzschlag aller Kreativität. Sein Takt: Es ist gut, könnte aber besser sein. Damit zusammen hängt auch das Scheiternkönnen. Gute Wissenschafter und Künstler, überhaupt alle wirklich kreativen Menschen sind Professionelle des Scheiterns. Sie haben ein Sensorium für die Unvollkommenheit dessen, was sie hervor-bringen. „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern,“ schreibt Samuel Beckett. Und er trifft damit genau das Wesen des Schöpferischen. 

***

Das trifft auch auf den wissenschaftlichen Fortschritt zu. Fortschritt ist – was nun einiger-massen paradox klingt - ein stets besseres Scheitern des Verständnisses der Welt. Jeder echte Wissenschafter arbeitet im Bewusstsein, dass seine Theorien, Modelle, Hypothesen „unvollkommen“ sind; sie treffen immer nur sehr beschränkt auf die Realität zu. Der Wissenschafter hat ein professionelles Bewusstsein für die Unzulänglichkeit, das Scheitern-können seiner Denkarbeit. Er weiss: Die Experimente sind gegen mich. Die Natur ergreift immer die Partei des versteckten Fehlers, lautet eine Variante von Murphys Gesetz. 

In dieser Einstellung gleichen sich Wissenschafter und Handwerker. Gute Handwerker, d.h. solche mit Materialsinn,  zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein Gespür haben für die Eigenheiten, Widerspenstigkeiten, Unvorhersehbarkeiten, Unvollkommenheiten des Mate-rials, mit und an dem sie arbeiten. Das Scheitern ist ihr unverzichtbarer Gehilfe, so wie die Falschheit die unabdingbare Komplizin der wissenschaftlichen Wahrheitssuche ist. 

***

Wir vernehmen von den Biologen, dass die Evolution ohne Plan bastelt – sie lässt aus ih-ren Improvisationen und Stümpereien immer nur relativ vollkommene Organismen entstehen, die sich aber auf erstaunliche Weise doch immer wieder in wandelnden Umwelten zurechtfinden. Die Unvollkommenheit, so könnte man sagen, ist bereits in der Natur angelegt, eines ihrer Schaffensprinzipien. Unvollkommen sein bedeutet, dass man sich anpassen, verbessern – dass man leben, ja, glücklich leben kann. 






















Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

  Der «Verzehr» des Partners Kant und der aufgeklärte Geschlechtsverkehr Kant zeigte philosophisches Interesse nicht nur an Vernunft und Urt...