Montag, 8. August 2022

 







NZZ, 6/8/22

Der Rand der Wissenschaft

«Not anything goes»



Stellen wir uns Wissenschaft als ein Land vor, erscheint sie uns als ein Gebiet mit verschwommenen Rändern. Im Zentrum befinden sich die etablierten Disziplinen, gegen die Peripherie geraten wir in eine nebulöse Grauzone, wo sich Kreationisten, Flacherdler, Ufologen, Löffelbieger, Kryptozoologen, Parapsychologen, Eugeniker, Katastrophisten, Spiritualisten und was noch für «wilde Spezies» tummeln. Seit einem Jahrhundert versuchen Wissenschaftler und Philosophen, auf der Karte dieses Lands eine klare Grenze zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft zu ziehen. Der Physikochemiker und Nobelpreisträger Irving Langmuir glaubte in einem Vortrag 1953, zwischen normaler und «pathologischer» Wissenschaft unterscheiden zu können. Der Philosoph Karl Popper brachte die Abgrenzung als das sogenannte «Demarkationsproblem» auf den philosophischen Begriff. Er ersann das bekannte Falsifikationskriterium, wonach sich die wissenschaftliche Spreu vom Weizen eindeutig trennen lässt. 


Aber solche Versuche erweisen sich als grobschlächtig. Sie befassen sich zu wenig mit dem Charakter des Unwissenschaftlichen. Sie disqualifizieren die Theorien der Randzone pauschal als unwissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich. Stattdessen ist es angemessener, den Blick auf sie schärfer einzustellen. Das erlaubt dann auch, das Urteil der Pseudowissenschaftlichkeit zu diversifizieren und zu präzisieren. Ich halte einen Ausdruck des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Michael D. Gordin für sehr praktikabel: «fringe sciences», Randwissenschaften. Werfen wir einen Blick auf vier Typen.  


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Zunächst die Residualwissenschaft. Eine Wissenschaft ist residual, wenn sie überkommene Ansichten weiterhin verficht: etwa Astrologie, Alchemie, Intelligent Design. Alle diese Theorien waren einmal durchaus akzeptierte und respektierte Instrumente der Welterklärung, teils aus mythologischem, teils aus religiösem Fundus stammend. Sie gelten aber als überholt, weil der wissenschaftliche Konsens sich von den früher vorherrschenden Vorstellungen gelöst und weiterentwickelt hat. Das heisst, Theorien haben  ihre Verfallsdaten. Die Wissenschaftsgeschichte ist deshalb nicht nur eine Geschichte der wissenschaftlichen Siege, sondern auch ein grosser Abfallkübel verfallener Theorien. In ihm befindet sich alles, was die moderne Wissenschaft nach ihrem Selbstverständnis – oder nach ihrem Selbstmissverständnis - «überwunden» hat. Wer Theorien aus diesem Kübel vertritt, sieht sich schnell an die Peripherie abgeschoben. Astrologie als historisch-kulturelles Phänomen zu studieren, gilt durchaus als wissenschaftlich, sogar als lehrreich. Denn wir lernen ein Weltbild kennen, in dem die Konstellationen der Himmelskörper nicht blosse Mechanik, sondern ein deutbarer Text waren, aus dem sich unser Schicksal ablesen liess. Heute erklärt die Astrophysik die Kausalität der Himmelsdynamik. Und für Himmelsdeutung hat sie nichts übrig. Astrologie zu praktizieren gilt als Residual- oder Pseudowissenschaft. Leute, die sich mit Themen am Rand befassen, gelten schnell als intellektuell «randständig». 


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Natürlich wehren sich Astrologen gegen eine solche Disqualifizierung. Das führt zum zweiten Typus, zur Alternativwissenschaft. Auf vielen Gebieten existieren nach wie vor althergebrachte Vorstellungen. Wohl am offensichtlichsten in den Heilpraktiken. Obwohl die moderne «westliche» Medizin ihren enormen Fortschritt den Methoden der Biowissenschaften verdankt, hat sie althergebrachte und «nichtwestliche» Praktiken keineswegs verdrängt oder überwunden. Hardliner-Bestreben gibt es immer, den medizinischen Diskurs von allen nicht evidenzbasierten Vorstellungen und Verfahren zu «reinigen». Aber dieser Kanon ist, wie sich zeigt, zu ausschliessend. Im Laufe der letzten Dekaden entwickelte sich zwischen moderner und alternativer Medizin ein aufgeschlossenes Verhältnis, das nicht auf Konkurrenz, sondern auf Komplementarität abstellt. Auch deshalb, weil sich die wissenschaftliche Medizin ihres allzu materialistischen Menschen-bildes bewusst geworden ist. Man könnte also sagen, dass sich bestimmte alternative Heilpraktiken von der Peripherie in Richtung Zentrum bewegten. 


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Anders als die Alternativwissenschaft, die sich mit dem Mainstream arrangiert, gibt sich die Anti-Establishment-Wissenschaft kämpferischer. «Wer sagt uns, wie man den Himmel deuten soll?», «Wer definiert eigentlich, was Wissenschaft ist?» fragt sie keck. Das heisst, ganz im Sinn post-modernen Geistes sieht sie in den hehren Idealen der Wahrheit, Objektivität und Faktizität nur machtvolle «Grosserzählungen», Ausschlussverfahren des Unerwünschten, Unbequemen, zur Emanzipation Drängenden. Anti-Establishment-Wissenschaft sucht die Machtstrukturen hinter der Erkennnissuche sichtbar zu machen. Zum Beispiel wehren sich Gender Studies oder interkulturelle und postkoloniale Studien vor allem dagegen, im Gefüge des universitären Systems eine «vorherbestimmte» Randposition zugewiesen zu erhalten. Dieser «Kampfmodus» hat durchaus zu neuen Forschungsansätzen geführt, aber auch zu schrillen Praktiken wie dem «Cancelling».


Es gibt die ausseruniversitäre Anti-Establishment-Wissenschaft. Ihre Randtheorien sind  Aus-druck einer sozialen und kulturellen Substruktur. Sie sind Identitätsstifter, Anziehungspunkte für abweichende, «heterodoxe» Ansichten, Keime libertären Aufbegehrens. Nicht selten sehen Verfechter von Randtheorien gerade in der «Andersgläubigkeit» die überzeugendste Begründung der Richtigkeit. In ihrer Perspektive ist die «orthodoxe» Wissenschaft elitär, unterdrückend, korrupt, dekadent. Dagegen muss man die Freiheit des eigenen Weltbildes verteidigen. 


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Denialismus versteht sich nicht als Opposition zum Establishment, seine Strategie ist vielmehr das interessegeleitete Zersetzen eines Forschungskonsenses. Und zwar unter dem perfiden Motto «Mehr Forschung ist nötig». Das war die Strategie der Public-Relations-Firma Hill&Knowlton 1954, die im Auftrag der amerikanischen Zigarettenindustrie politische Interventionen zur Eindämmung des Rauchens aufzuschieben suchte. Perfide daran war, dass man mit «mehr Forschung» primär nicht Evidenz für oder gegen eine Hypothese suchte, sondern generell Zweifel streute, um den zunehmend robusteren Konsens der Forschung zu unterminieren. «Der Zweifel ist unser Produkt» hiess die Devise. Am sichtbarsten wurde sie in den 1960er Jahren, als die Petroindustrie mit der Evidenz aus eigenen Forschungsinstitutionen und Think Tanks die offizielle Evidenz der Wissenschaft über den Klimawandel konterkarierte. Die Taktik ist subtil. Sie schreibt sich auf die Fahne, am normalen wissenschaftlichen Erkenntnispro¬zess teilzunehmen, und in diesem Prozess ist keine Meinung definitiv. Aber die Resultate, die Think Tanks in offiziell anmutendem Fachliteraturformat publizieren, haben oft nicht die Peer-Review durchlaufen. Und die Hauptadressaten – Politiker und Öffentlichkeit – übersehen häufig diesen Unterschied. Diese bewusst geschaffene Unübersichtlichkeit ist ein ideales Biotop für den Denialismus.  


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Zu dieser Unübersichtlichkeit trägt besonders die heutige Publikationspraxis bei. Die Schwemme an neuen Publikationsorganen ist amorph und immens. Die Zeitschrift «Nature» brachte 2019 einen kritischen Kommentar zu sogenannten «Räuberzeitschriften» («predatory journals»), welche dubiose Forschungsergebnisse ohne Qualitätsprüfung (dafür mit Publikationsgebühr) veröffentlichen. Sie sind gemäss den Autoren des Kommentars «eine globale Bedrohung».  Der Ruf nach rigideren Publikationsstandards liegt in der Luft. Aber damit schafft man kaum eine Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Eher noch riskiert die Wissenschaft, sich ins eigene Knie zu schiessen. Stichwort «Replikationskrise». Die Klagen über qualitiativ minderwertige Forschung häufen sich schon seit einiger Zeit, vor allem seit sich datenintensive Methoden wie statistisches Testen eingebürgert haben. 


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Vom Schriftsteller Ludwig Hohl stammt die Metapher der «hereinbrechenden Ränder». Sie be-schreibt meines Erachtens aufs Einprägsamste die gegenwärtige Situation. Die Strömungen von den Rändern mischen sich mit dem Mainstream der Wissenschaften, schlampige Forschung «verunreinigt» ihn, säht Ungewissheit und Verdächte. Es gehört deshalb mehr denn je zum Forschungsethos, sich von nicht- oder pseudowissenschaftlichen Praktiken abzugrenzen - nicht dadurch, dass man alles über den Leisten eines universellen Kriteriums schlägt, sondern dass man von Fall zu Fall die Fehler, Unseriositäten, Widersprüche aufdeckt und analysiert. Das ist aufwändig und zeitraubend, gehört aber zur Aufgabe eines zeitgemässen Forschers – und ist ein dringendes Erfordernis seiner Ausbildung. Denn Wissenschaft bewahrt ihre prekäre Glaubwürdigkeit im Basar der Welterklärungen nur, wenn sie sich dem Motto «Not anything goes» verschreibt. Und dies offensiv.






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