Montag, 9. Oktober 2023

 


NZZ, 5.10.23


Indignatio praecox oder Wokeness-Kitsch

In seinem Roman «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» spricht Milan Kundera vom Kitsch als vom «Hervorrufen der zweiten Träne»: «Der Kitsch ruft zwei nebeneinander fliessende Trä-nen hervor. Die erste Träne besagt: Wie schön sind doch auf dem Rasen rennende Kinder! Die zweite Träne besagt: Wie schön ist es doch, gemeinsam mit der Menschheit beim Anblick von auf dem Rasen rennenden Kindern gerührt zu sein! Erst diese zweite Träne macht den Kitsch zum Kitsch.» 

Es gibt in diesem Sinn den Wokeness-Kitsch. Die «erste Träne» sagt: Wie schlimm ist der Ras-sismus in unserem Alltag! Die «zweite Träne» sagt: Wie schön ist es doch, gemeinsam mit all den woken Menschen empört zu sein über den schlimmen Rassismus; und wie schön ist es, andere als Rassisten zu entlarven! Wokeness bedeutet ein Bewusstsein für die oft unsichtbaren und «normalen» Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen im sozialen Leben. Wokeness-Kitsch dagegen ist eine Dauererregtheit, die überall Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen wittert, nach Triggern der Empörung Ausschau hält. Eine Indignatio praecox. Wir empören uns, um uns gut zu fühlen. Und das heisst vor allem: besser als die anderen. 

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Hier zeigt sich das Grundmotiv: Wir zuerst! Wir sind woke, ergo sind wir. Ein Paradox: Ständig redet man von einer Vielfalt der Identitäten, von Non-Binarität, aber der Wokeness-Kitsch operiert mit dem polarisierenden Knüppel der Binarität: Wir – Personae gratae - versus die anderen – Personae non gratae. Dabei lastet auf den anderen ständig der Rechtfertigungsdruck, nicht so zu sein wie die Woken: Bevor du etwas sagst, entschuldige dich, dass du ein weisser, europäischer, alter, privilegierter, heterosexueller Mann mit satter Rente bist! Und glaube ja nicht, die Woken zu verstehen!

Wokeness-Kitsch ist sich sicher, einem «richtigen» Bewusstsein verpflichtet zu sein, während er die anderen eines «falschen» Bewusstseins bezichtigt. Dabei leitet ihn die Annahme, moralische Integrität messe sich am Grad der Indigniertheit. Der emotionale Ausdruck zeigt zweifellos oft am wahrnehmbarsten und stärksten die innere moralische Bewegtheit an. Aber umgekehrt zu meinen, sicht- und hörbare Empörtheit sei das «authentische» Symptom guter Moral, zeugt eher von pubertierender Motzmentalität.  

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Natürlich gibt es viele Gründe, «erste Tränen» zu vergiessen. Der Tod von George Floyd ist ein Skandal, und man versteht hier eindeutig und spontan, was «Black Lives Matter» bedeutet. Der Spruch kann jedoch – als «zweite Träne» –  zum billigen und aufdringlichen Mittel der Selbstdarstellung mutieren, und schlimmer: Konformitätsdruck ausüben. Kunderas Definition des Kitschs hatte ihre bittere politische Herkunft in der Erfahrung mit der erstickenden und gleichschaltenden Atmosphäre des Sowjetsystems. Es scheint fast, als brauche es heute keinen Parteiapparat, keinen äusseren Zwang mehr. Er ist verinnerlicht, als hirnwaschender Moralismus seichter Gleichgesinntheit. 

Aber der Strom «zweiter Tränen» trübt den Blick auf die skandalösen Zustände. Das kümmert den Wokeness-Kitsch nicht. Er wirft sich in die Pose der Rechtschaffenheit und Betroffenheit, hält die Empörungsökonomie am Köcheln. Zielt ab auf Lustgewinn durch Aufmerksamkeitsschacher. Am schädlichsten ist das Bestreben, die Sprache flach zu bügeln. Die Angst geht um, mit jeder Äusserung eine Phobie zu verraten und so in eine Fallgrube des Nicht-Woken zu geraten. Aber Angst essen Geist auf. Sprache ist ein Werkzeug des Geistes. Um ihn lebendig zu erhalten, braucht es die blühende «Inkorrektheit» vieler Sprachgebräuche, die einander durchdringen, und ja: Grenzen verletzen. Die Indignatio praecox will etwas anderes. Sie legt die Reizschwelle bestimmter Wörter tief, damit sie umso leichter und schneller den Wortbenutzer als nicht woke «inkriminieren» kann.

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Es gibt Stimmen, die den Wokeness-Kitsch für eine Bagatelle halten. Sofern damit gemeint ist, dass man minoritären Eiferern nicht über Gebühr Aufmerksamkeit schenken soll, kann man nur zustimmen. Aber es geht nicht eigentlich um diese Minoritäten, sondern um die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik. Echte Kritik braucht keinen Safe Space. Sie steht und fällt mit der Freiheit, alles sagen zu können. 

Das bedeutet keinen Freipass für jede Invektive und für jeden Bullshit, vielmehr die Anerkennung eines Ethos des Debattierens und Argumentierens. Wir müssen es lernen, üben, pflegen und stets wieder prüfen. Ein solches Ethos bildet so etwas wie eine implizite Verfassung geistiger Freiheit, die kognitive Tugenden wie Unvoreingenommenheit, Tatsachentreue, genauen Blick hochhält. Indigniertheit kommt nicht vor. Und die sich vordrängelnde Identitätspositur «Ich als X..» hat genau dann einen Wert, wenn sie etwas zur Sache beiträgt. Wer eine solche Verfassung nicht akzeptiert, lehnt also geistige Freiheit ab, ebnet ihren Feinden und Verächtern das Feld. Gegenüber ihnen sollte man nun wirklich woke sein. 



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