Freitag, 8. Mai 2020







NZZ, 2.5.2020

Das Coronoptikum
Die Tücken der panoptischen Technologie


In exemplarischer Schärfe führt uns die Coronakrise die fundamentale Herausforderung einer liberalen Demokratie vor: das Virus-Trilemma. Wir können zwischen drei Optionen A, B und C entscheiden; wobei die Wahl von je zwei Optionen sich nicht mit der dritten verträgt. Im gegenwärtigen Krisenfall lautet die Option A: Ansteckungs- und Todesrate minimieren; Option B:  Das Wirtschaftsleben so wenig wie möglich einschränken; Option C: „Illiberale“ Massnahmen treffen, indem man bürgerliche Freiheiten beschneidet. Westliche Demokratien tendieren zu Optionen A und B, schrecken vor Option C zurück. Denn ein Übermass an staatlicher Intervention widerspricht der liberalen Grundidee.

Wir beobachten gegenwärtig, wie ostasiatische Länder das Trilemma anders zu lösen versuchen, mit dem Hauptgewicht auf Option C: Gesundheits-Überwachung auf Kosten bürgerlicher Freiheiten. Und Befürchtungen werden laut, dass wir uns der ostasiatischen Situtation annähern; dass wir uns auch unter demokratischen Regimes schliesslich mit dieser demokratie-inkonsistenten Option abgegeben müssen. Einige wittern im Lockdown und Social Distancing bereits Kontrollgelüste staatlicher Institutionen im Namen des Notstandes.

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Option C reanimiert eine Idee des 19. Jahrhunderts: das Panoptikum. Der Philosoph Jeremy Bentham verlieh ihr in einer Architektur des zentralen Kontrollblicks Gestalt, der jede Ecke und Nische ausleuchtet, in Gefängnis, Spital, Fabrik, Schule. Das Panoptikum von heute braucht keine Architektur. Es nennt sich Internet der Dinge. In ihm überwachen wir uns selbst. Wir tragen Technologie –  „Wearables“ - , die das Monitoring perfektioniert. All die smarten Geräte tun vor allem eines: sie senden unausgesesetzt Daten in die unsichtbare Cloud, die uns als eine elektronische Atmosphäre umhüllt.

Ein normales Handy weist heute zahlreiche Sensoren auf, welche das permanente Tracking und Tracing der Nutzerwege erlauben. Wir rüsten uns mit einem künstlichen Sensorium aus, das sich zweifellos als hilfreich herausstellen kann, gerade in einer Situation der Epidemie. Zu ihrem Hauptcharakteristikum gehört ja die Ungewissheit: Welche Personen sind angesteckt, welche weiteren haben sie angesteckt, in welchem Mass und in welchen Gruppen ist die Ansteckung fortgeschritten? Fragen, die einen panoptischen Blick durchwegs rechtfertigen. Die Entwicklung des künstlichen Sensoriums baut auf die Rechenstärke der Computer; und die ist enorm.

Das weckt latente Begehrlichkeiten. In dem Masse, in dem die Kontroll- und Test-Technologie besser und billiger wird, bietet sie sich Wissenschaftern und Politikern als probates Mittel an, das datifizierte Verhalten des Bürgers für eine präzise epidemiologische Kartierung zu nutzen. Das Englische kennt bereits den Ausdruck „Coronopticon“. In Singapur, Taiwan oder Südkorea lassen sich die Spuren „viraler“ Mitbürger verfolgen. Man kann auf dem Handy Warnungen empfangen, wenn ein „Verdachstfall“ in der Umgebung auftaucht. Wie gesagt: Die fernöstlichen Massnahmen sind nicht so fern, dass sie uns im Westen nichts angingen. Über biometrische Erfassung im Namen nationaler Sicherheit wird auch in Europa - zumal in der Schweiz - diskutiert. Allenthalben entwickeln Softwaredesigner Apps, welche den Handynutzer aufrufen, Daten über sein Verhalten zu liefern. Vorerst noch freiwillig. Und was, wenn die Situation gebietet, diese Freiwilligkeit aufzugeben? Wer gebietet eigentlich darüber, was die Situation „gebietet“? Die Exekutive, die Experten, das Zentralkomitee?

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Solche Fragen suggerieren immer Dramatis personae, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Aber dieses Bild ist zu einseitig, zu anthropozentrisch. Es blendet ein Problem aus, das in der Technologie selbst steckt, und heute schon imminent ist. Der amerikanische Technikphilosoph Langdon Winner hat es 1980 – noch vor dem Internet - in eine allgemeinere Frage gekleidet: Do Artifacts Have Politics? Gibt es Technologien, die durch ihre Natur und durch die Bedingungen ihres Funktionierens die sozialen und politischen Formen um sie „diktieren“? Platon brauchte das Bild des Schiffs als eines Artefakts, das eine hierarchische soziale Form vorgibt. Eine „liberale“ Ordnung auf dem Schiff führt es nicht durch stürmische See. Auf analoge Weise führt auch eine Demokratie nicht durch die unruhigen Gewässer einer Epidemie. Es braucht einen Kapitän, einen Offiziersstab und klare Unterstellungsverhältnisse.

Sind also hypertechnisierte Gesellschaften „Schiffe“, die demokratische Verhältnisse schlecht vertragen, und zwar nicht bloss im Ausnahmefall eines Sturms, sondern auch im Normalfall ruhigeren Gewässers? Bewegen wir uns unabwendbar auf Option C zu, vor allem, wenn man mit weiteren  Pandemien – ohnehin mit katastrophischen Ereignissen - zu rechnen hat?

Schaut man genauer hin, sieht man, dass die Technologie des Panoptikums sich bereits als Normalfall eingebürgert hat. Man spricht viel von „Digital Health“, Selbst-Monitoring um seiner Gesundheit willen. Dabei sollte man hellhörig sein, denn Gesundheit wird unter der Hand häufig betriebsökonomisch definiert, also im Sinne einer Lebensführung als „Best Practice“. Hinzu kommt etwas anderes. Die neuen Technologien, die man ja meist in offizieller Diktion „zum Besten“ des Nutzers einsetzt, entwickeln inoffiziell eine nichtintendierte Eigendynamik. Bekanntlich verhalte ich mich anders, wenn ich beobachtet werde, ja, sogar schon, wenn ich mich beobachtet fühle. Tracking und Tracing machen im Endeffekt aus dem Nutzer einen humanen Fortsatz des technischen Beobachtungssystems.

Selbstverständlich kann ich mir das so zurechtlegen, dass ich genauer Buch über meine persönlichen „Rekorde“ führen möchte. Auf den zweiten Blick entpuppt sich dieses „Bio-Enhancement“ als nicht so harmlos. Man sieht sich immer weniger mit eigenen Augen, immer mehr mit den „Augen“ des Geräts. Es emanzipiert sich vom Benutzer, je smarter es wird, und es nimmt unser Ureigenstes, unseren Körper, in normativen Beschlag. Die Biodaten, die es mir liefert, informieren mich nicht nur über meinen Ist-Zustand, sondern über meinen Soll-Zustand. Wenn ich täglich Blutdruck, Puls, Cholesterinspiegel überprüfe, geschieht dies im Hinblick auf eine Vorgabe. Die Vorgabe kann von mir selber stammen. Zunehmend wahrscheinlicher ist aber, dass ich mich unmerklich den Vorgaben angleiche, welche von den „Wearables“ diktiert werden. Genau das bezweckt „autonome Technologie“. Die Designer bauen nicht Geräte, sondern Gewohnheiten. Gewohnheiten üben auch einen normativen Druck aus. Ein Teil der Computertechnologie entwickelt sich zur „Captology“, sie sucht den Nutzer via Artefakte zu einem bestimmten Verhalten zu beeinflussen (CAPT: „Computers As Persuasive Technologies“).

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Ohne hier nun über technologischen Paternalismus zu menetekeln, scheint mir der kritische Blick auf das Potenzial einer panoptischen Technologie notwendig zu sein. Sie kann sich vom Ausnahmezustand der Pandemie loslösen und über sie hinaus die Politik des Normalzustands nachhaltig prägen. Im Hinterhalt lauert die Verführung, „Infektion“ einfach umzudefinieren. Wenn man restriktive bis repressive Sanktionen um der Gesundheit eines Volkskörpers willen legitimiert, warum sollte man dies nicht auch um der „Gesundheit“ eines politischen Systems willen tun können? In Orwellschem Neusprech liesse sich dann sagen: Sicherheit ist gleich Gesundheit. Wer die Sicherheit eines Systems in Frage stellt, stellt dessen Gesundheit in Frage, sprich: ist ein politisches Virus. Kritik des Regimes erscheint dann als „pathogen“ und „virulent“, und provoziert adäquate „Prophylaxe“ und „Therapie“. Sind viele Bürger unzufrieden mit dem Regime, handelt es sich um eine „Epidemie“. Dann schickt man eine Armee von Tracking-Detektiven zur Identifizierung von „infizierten“ kritischen Bürgern los. Das ist die Logik der Ausweitung der Ausnahmezone. Der politische Autoritarismus hat sie bereits für sich entdeckt. Treffen wir hier eine bessere Vorsorge als bei der Coronapandemie.

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