Sonntag, 10. September 2023

 


NZZ, 6.9.23


Ist der Mensch zu intelligent, um zu überleben?

Stellen wir uns für einen waghalsigen Augenblick auf den Standpunkt der Evolution. Dann erscheint unsere Intelligenz als ein Paradox. Wir betrachten sie als einzigartiges Evolutionsprodukt, und leiten daraus eine entsprechend singuläre Stellung in der Natur ab. Welche Spezies hat denn kognitive Fähigkeiten ausgebildet, die zu Wissenschaft, Mathematik, Technik, Medizin, Literatur, Philosophie, Religion, Kunst führten? Umgekehrt: Welche Spezies bedroht mit ebendiesen kognitiven Fähigkeiten stärker ihr eigenes Fortbestehen auf der Erde?

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Wir führen unsere Intelligenz auf ein hochkomplexes Gehirn zurück, insbesondere auf ein Bewusstsein, das darauf basiert. Als «Spandrel» hat es der bekannte Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould bezeichnet. Der Begriff – deutsch «Zwickel» – stammt aus der Architektur, wo er eine dekorierte Fläche zwischen einem Rundbogen und seiner rechteckigen Umrandung bezeichnet: eigentlich überflüssigen Zierrat. Gould wies mit dem Begriff auf phänotypische Merkmale hin, die im Laufe der Evolution als Nebenprodukte echter Anpassung entstanden sind. 

Noch heute bewältigt unser Gehirn eine Unmenge an Informationen im Ur-Modus, in dem wir nicht in einen bewussten höheren Denkgang schalten müssen, sondern einfach die Automatismen unserer neuronalen Schaltkreise – das Unbewusste - arbeiten lassen. Offenbar sind die Kosten für Intelligenzleistungen hoch. Unser Gehirn verbraucht etwa 20 Prozent der dem Körper zugeführten Energie, um die biochemischen und elektrophysiologischen Kalkulationen im natürlichen neuronalen Netz in Gang zu halten. Und man kann sich fragen, ob ein solches «barockes» Organ nicht ein luxuriöser Überfluss der Natur sei. 

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Leben – vom Bakterium bis zum Bonobo - kennt eine atemberaubende Diversität von Intelligenzformen, die im Laufe von Jahrmilliarden im «Labor» der Evolution getestet worden sind. Was überlebt, trägt das Gütezeichen «verlässlicher» Intelligenz, einer arteigenen kognitiven Ausstattung, mit der eine Spezies über die existenziellen Runden kommt. Nun hat der Mensch innerhalb von zwei Jahrhunderten den Planeten zu einem sich erwärmenden Testlabor namens «Anthropozän» umgebaut, das alles andere als beständig sein dürfte. Unsere arteigene Intelligenz schlägt aus der Art der anderen Erdbewohner. Sie ist «überheblich». Erstens hat sie die fatale Fähigkeit, Instrumente zu erfinden, deren kumulierte Konsequenzen und Risiken sie nicht genügend kennt: Kern-, Gen-, KI-Technologie. Und zweitens schafft sie Problemverknäuelungen, an denen sie sich überhebt – sie vermag sie nur schwer, wenn überhaupt zu lösen. Wo technische «Rettung» ist, wächst die Gefahr auch. Der evolutionäre «Testbericht» über unsere Intelligenz steht also noch aus. 

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Spekulieren wir kurz: Eigentlich hätten wir ein gutes Jäger-und-Sammler-Gehirn. Auf dieser Stufe könnte der Mensch wohl endlos weiterwurschteln, ohne sein Habitat stark in Mitleidenschaft zu ziehen. Deshalb ist es nicht die Intelligenz allein, die uns in die existenzielle Bredouille treibt. Wirklich bedrohliche Potenzen entfaltet sie erst durch ihren «post-evolutionären» Ehrgeiz: wenn sie sich aus dem planetarischen Netz herauslöst, und die Natur zu «übervorteilen» sucht. Eine Spezies lebt auf relativ sicherem Boden mit der Intelligenz, die sie unter den evolutionären Bedingungen der Anpassung erworben hat. Aber der Mensch – und das ist der Punkt - hat eine «nicht angepasste» Intelligenz. Mit ihr verändert er die Bedingungen seiner eigenen Existenz bis zur Selbstauslöschung. Eine solche triumphale Dummheit macht ihn einzigartig im Tierreich. 

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Womit wir an die «Prinzipien der menschlichen Dummheit» erinnert werden, die der Wirtschaftshistoriker Carlo M. Cipolla 1988 aufstellte. Sein Modell erweist sich als akuter denn je. Cipolla betrachtet darin zwei Akteure, Hinz und Kunz, sowie die Vorteile respektive Nachteile, die sie aus ihrer Interaktion ziehen. Handelt Hinz so, dass für beide ein Vorteil herausspringt, ist die Aktion intelligent; bei Vorteil für Hinz und Nachteil für Kunz ist die Aktion betrügerisch (auf Hinzen bezogen); bei Nachteil für Hinz und Vorteil für Kunz unbedarft; bei Nachteil für beide dumm. 

Nachteil für beide - genau so kommen einem die Aktionen des Homo sapiens – des «weisen» Menschen - gegenüber allen anderen Arten auf dem Planeten vor. Die flagrante Ironie an der ganzen Situation: Der Mensch mit seinem entwickelten Bewusstsein ist sich ungenügend bewusst, dass er sich selber Nachteile schafft. Er ist also eigentlich dumm hoch zwei. 

Man kann in der Evolution eine riesige Experimentiermaschine sehen. Stünde sie vor der Auslage ihrer mehr oder weniger gut funktionierenden Bastelei, und könnte sie die Frage beantworten, was sie am meisten bedauert, dann würde sie wahrscheinlich die Entwicklung der menschlichen Intelligenz nennen.  



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