Montag, 14. Februar 2022




NZZ, 11.2.22


Gesundheit ist meine Sache! Wirklich?

Kleiner Versuch, Impfskepsis nicht schwarzweiss zu verstehen

Es ist paradox: In der Pandemie gebührte doch gerade der modernen Medizin der grösste Kredit. Stattdessen halten «skeptische» Gesellschafts- und Politikkreise den Misskredit am Köcheln. Die Diagnose der Unterbelichtetheit, Ignoranz und Desinformation mag partiell auf sie zutreffen, aber die Skepsis ist Symptom eines tieferen Unbehagens. Es entstammt der Grundfrage, wer denn eigentlich Gesundheit und Krankheit definiere. Die Medizin allein?


Das Unbehagen fand bereits 1974 Ausdruck im vieldiskutierten Buch «Nemesis der Medizin» des streitbaren Theologen und Philosophen Ivan Illich. Der Untertitel im Deutschen lautet «Die Enteignung der Gesundheit». Gesundheit – so wird also unmissverständlich suggeriert – «eignet» einer Person, ist ihr unveräusserlicher persönlicher Besitz, den die moderne technisierte Medizin gerade durch ihren Vormarsch antaste und gefährde. Illich wirft den Medizinern vor, sie verkehrten ihr altes Motto «Vor allem nicht schaden» ins Gegenteil. Eine böse These, die im Besonderen die «nostalgische» Vorstellung der Heilkunst beschwört, gute Medizin würde auf die eigenen Kräfte des Körpers abstellen. Die These findet heute ihr Echo etwa in Appellen an ein Grund-recht auf körperliche Unversehrtheit, woraus man ein entsprechendes Recht auf Gesundheit ab-leitet. Impfen ist, so gesehen, nicht nur ein Akt des «Versehrens», sondern ein Verstoss gegen ein Menschrecht. 


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Gesundheit ist freilich nie bloss Eigenbesitz. Natürlich hängt meine Gesundheit von meinem individuellen Metabolismus ab. Wobei Metabolismus ja gerade bedeutet, dass mein Körper nur im ständigen «Austausch» mit anderen Körpern normal funktioniert. Das muss man nicht bloss stofflich, sondern auch symbolisch verstehen. Unser ganzer sozialer und kultureller Verkehr ist ein ständiger Austausch, basierend auf unseren Körpern als dessen Medium. Wir bilden in einer Gemeinschaft stets eine Art von Überkörper. Wir sind eingebettet in tradierte Verhaltensrepertoires, die auch ein implizites «Diktat» auf unsere Körper ausüben, über Normen, Sitten, Bräuche, Moden, Etikette. Ich bin nicht einfach mein Körper, ich bin zu meinem Körper immer auch erzogen worden, in Hygiene, Ernährung, Sexualität, sozialem Umgang. Und es ist denn auch nicht bloss eine funktionierende Physiologie, sondern ein in sie «eingeschriebener» Lebensstandard, der Gesundheit und Wohlbefinden gewährleistet. 


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Genau bei diesem sozialisierten Körper setzt die radikalste Kritik der modernen Medizin an, jene von Michel Foucault. Und sie erweist sich heute – buchstäblich - als äusserst virulent. In Foucaults Sicht ist moderne Medizin nie nur auf der zwischenpersönlichen Achse Arzt-Patient angesiedelt, sondern immer schon sozial imprägniert. Der Arzt in der Sprechstunde ist sowohl Person wie auch Institution. Und aus den Worten des Arztes spricht die Autorität seiner Disziplin; nicht einfach «Das ist dein Zustand», sondern «Das sollte dein Zustand sein oder nicht sein». Das heisst, die Medizin hat ein normatives, zumal staatlich legitimiertes Körperbild, auf dem Diagnostik, Prognostik, Prophylaxe und Therapie beruhen. Es stammt aus der Biologie: Der Körper ist ein komplexes organisches System. Dieses Körperbild habe ich, ob ich will oder nicht, zu akzeptieren; ich habe mich ihm unter klinischen Bedingungen – zum Beispiel in einer Computertomographie - sogar zu unterwerfen. 


Die Krux liegt darin, dass die Medizin ihr Körperbild fortgesetzt aus der Klinik in soziale Felder exportiert, die nur noch entfernt mit der Aufgabe des Heilens zu tun haben. Foucault spricht von einer «Medizinisierung» der Gesellschaft. Damit meint er nicht einfach die zweifellos bahnbrechenden neuen Untersuchungs- und Heilmethoden einer verwissenschaftlichten Heilkunde, sondern einen ganzen Komplex von sozialen Praktiken und Strategien, die damit verschränkt sind: Untersuchen, Pflegen, Verwalten, Überwachen, Optimieren, Disziplinieren. Heute beobachten wir die Medizinisierung anhand vieler – zum Teil sehr beunruhigender – Symptome. Ich führe kurz deren drei an.


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Zunächst die Medikalisierung. Der Pharma-Markt überschwemmt uns mit Medikamenten. Gegen immer mehr Gebresten gibt es eine «Pille». Dieser Pillenblick beruht auf einer besonderen Konzeption von «störenden» Verhaltensweisen. Wenn mich unkontrollierte Zornesausbrüche heim-suchen, kann ich zum Störfall werden. Nun geraten meine Zornesausbrüche in die Optik der Pathologisierung. Und schon gelten sie als «intermittierende explosible Störung». Dagegen hilft viel-leicht ein Medikament. Ähnlich sehen sich zahlreiche Verhaltensweisen auf einmal als medizinisches Problem diagnostiziert. Klinische Deutungen und Diagnosen fliessen zunehmend in den Blick auf uns selbst ein. Das Medikament übernimmt eine disziplinierende Aufgabe. Und in diesem Sinn sekundiert die Medizin einer Sozialtechnologie, die immer auch eine Beeinflussung und Lenkung individueller Lebensweisen anvisiert. 


Eng damit verbunden ist der zweite Aspekt. Die hochentwickelte Biotechnologie mutiert von der Heilkunst zur Optimierung der Körpermaschine, ihrem Enhancement. Seit längerem appliziert man zum Beispiel Wachstums¬hormone bei Kindern, die aufgrund eines hormonellen Defizits kleinwüchsig sind. Diese Hormone wirken auch bei Kindern ohne Defizit. Eltern können nun je nach ihren Vorstellungen und Begehrlichkeiten Nachkommen nach Mass konzipieren: zum Bei-spiel einen Sohn à la Michael Jordan. Was ursprünglich als Mittel gedacht war, ein biologisches Defizit zu beheben, wird am Ende zum Werkzeug, die Biologie nach eigenen Vorstellungen zu korrigieren. Eine Mutter «konzipiert» ihr Kind dann nicht mehr im Sinne der Geburt, sondern buchstäblich des Entwurfs.


Drittens die Überwachung. Seuchen bot man traditionell Einhalt durch Disziplierung der Bevölkerung, etwa mittels Durchsetzung von Hygienevorschriften, Identifizierung von Ansteckungsher-den, Kontrolle der Infektionswege. Totalitäre Regimes praktizieren heute diese Seuchenpolitik, indem sie das Regieren zur «medizinischen» Aufgabe pervertieren. Kritik aus der Bevölkerung gefährdet die «Gesundheit» des Systems. Sie erscheint dann als «pathogen», und provoziert adäquate politische «Immunabwehr». Sind viele Bürger unzufrieden mit dem Regime, handelt es sich um eine «Epidemie». Dann schickt man eine Armee von künstlich intelligenten Tracking-Polizisten zur Identifizierung von «infizierten» kritischen Bürgern los. 


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Ob ich krank werde oder nicht, ist meine Sache! - Man interpretiert diesen Trotz heute gern als Ausdruck eines Freiheitswillens. Aber der Freiheitswille des individuellen Körpers erreicht irgendwann die Schwelle, wo er die Stabilität des sozialen Überkörpers stört und gefährdet – und damit wiederum auch sich selbst. Komplexitätsforscher sprechen von der «Kritikalität». Geringfügigste Änderungen in einem Gesundheitssystem können zu unvorhergesehenen Ereignissen – vielleicht zum Kollaps - führen. Eine Massnahme wie Impfpflicht bedeutet also nicht die Errichtung eines «totalitären» Systems, sondern Entschärfung seiner Kritikalität. 


Ich interpretiere Impfskepsis viel eher als eine Reaktion auf den Standard-Heilansatz der technisierten Medizin: die partielle (Selbst-) Entmächtigung des Patienten. Was damit gemeint ist, macht eine Definition des Oxford English Dictionary deutlich: «Der Patient ist eine Person, die Schmerz, Leid, Unbilden usw. erduldet, gelassen, ohne Unbehagen oder Klage, in ruhiger Erwartung.» Die ruhige Erwartung ist dem zornigen Unbehagen des Bürgers gewichen, der nicht einfach «Erdulder» sein will. Er ermächtigt sich selbst. Und zwar nicht in dem Sinn, dass er auf moderne medizinische Behandlung verzichtet, sondern wagt, sich seines eigenen Körperverstandes zu bedienen. An die Stelle des Patienten tritt der körpermündige Citoyen. Körpermündigkeit auch im Sin-ne von Solidarität – das könnte der Anfang einer aufgeklärten Kultur der Gesundheit und Krankheit sein. Oder doch bloss eine Utopie? 


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