NZZ, 30.9.2016
Warum falsche Vorstellungen nicht aussterben
Für
viele, sich fortschrittlich dünkende Menschen stellt die Wissenschaftsgeschichte
so etwas wie eine Leiter dar, auf der wir immer höher steigen, dabei
Aberglauben und Ignoranz hinter uns lassend. Astronomie hat die Astrologie abgeworfen,
so wie die klassische Mechanik die aristotelische Bewegungslehre, die Chemie
die Alchemie, die Physiologie die paracelsische Pharmakologie oder die
Neurologie die Psychologie. Dadurch, dass wir Ideen falsifizieren, kommen wir
der Wahrheit ein Stück näher, lehrte der Philosoph Karl Popper.
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Stimmt
das? Sofort bietet sich eine Handvoll Gegenbeispiele an: Viele Leute glauben
heute noch an eine flache Erde, Exorzismus, Astrologie, Kreationismus, okkulte Heilkräfte
der Steine. Man könnte diese Epidemiologie des Aberglaubens fast ad libitum fortsetzen.
Soll man einfach sagen, diese Leute seien töricht und unbelehrbar? Das wäre nun
selber töricht. Einer der grössten Physiker des letzten Jahrhunderts, Niels
Bohr, antwortete einmal auf die Frage, ob er an das
Hufeisen über seiner Haustür glaube: „Natürlich nicht. Aber wissen Sie, es soll
auch nützen, wenn man nicht daran glaubt.“ Ob
er dies ernst meinte, sei dahingestellt. Jedenfalls ist das Beharrungsvermögen alter,
überständiger Ideen eine feststellbare Tatsache. Und es hat mehrere Gründe. Zunächst
einen kognitiven. Wir leben in einer zunehmend komplexeren Welt. Die
wissenschaftlichen Theorien, die uns das Geschehen erklären, wachsen uns über
den Kopf in immer abstraktere Höhen. Sie sind selbst für Eingeweihte oft kaum
mehr verständlich. Sie gewähren uns keine kognitive Heimat.
Betrachten
wir zum Beispiel das Horoskop. Es ist auch im Zeitalter der wissenschaftlichen
Prognose weit verbreitet und beliebt. Vielleicht gerade deshalb, weil es einer Epoche
entstammt, in der man an die Verknüpfung des menschlichen Schicksals mit dem
Gang der Sterne glaubte. Das Universum der Astrologie ist kein physikalisches,
sondern ein hermeneutisches: voller deutbarer Zeichen. Der Himmel geht mich
hier „persönlich“ etwas an, er „sagt“ mir etwas. Ich fühle mich „zuhause“,
anders als im kalten, trost- und sinnlosen Universum der Astrophysik. Wir
wissen zwar heute, dass es solche astralen Verknüpfungen nicht gibt, aber wir glauben nicht, was wir wissen! – Ich
nenne dies das Wissensparadoxon.
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Ein anderer
Grund für das Überleben
falscher Ideen liegt in der „Provinzialität“ unserer Alltagserfahrung. Unsere
Rede von Aufgang und Untergang der Sonne ist „provinziell“. Wir haben ja
durchaus die Botschaft des Wissens vernommen, dass dies der Standpunkt eines
überwundenen geozentrischen Weltbildes sei, aber uns fehlt der Glaube. Unsere
Intuition, die sich vor allem an Alltagssituationen orientiert, teilt uns wenig
über die Rotation der Erde oder die Gekrümmtheit der Erdoberfläche mit. Es
braucht schon ein bisschen Überlegung und genaue Beobachtungsgabe. Je mehr sich unsere
Theorien von diesen Alltags-Intuitionen entfernen, desto mehr verlangen sie
eine Adaptation unserer Gehirne an die ungewohnten Situationen.
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Hinzu
tritt der Autoritätsglaube. Wir hören das Echo von Max Plancks berühmtem Diktum:
„Irrlehren der Wissenschaft brauchen 50
Jahre, bis sie durch neue Erkenntnisse abgelöst werden, weil nicht nur die
alten Professoren, sondern auch deren Schüler aussterben müssen.“ Ein schönes Beispiel
liefert der Fall der notorischen „Zungenkarte“. Der deutsche Physiologe David
Paul Hänig fand zu Beginn des letzten Jahrhunderts heraus, dass die Zunge
Geschmackszonen aufweist. Die elementaren Geschmacksqualitäten würden an
entsprechenden Stellen mit „geringfügig“ verschiedenen Intensitäten empfunden:
süss an der Zungenspitze, bitter an der Zungenwurzel, sauer und salzig
seitwärts. Hänigs Buch wurde in den 1940er Jahren vom angesehenen amerikanischen
Psychologen Edwin G. Boring ins Englische übersetzt, nur erachtete es dieser
als hilfreicher, anstelle von Hänigs Diagrammen eine einfache und eingängige Karte
der Geschmackszonen zu erstellen, wobei er verschwieg, dass die Unterschiede
eigentlich „geringfügig“ seien. Die Zungenkarte war geboren, ein Bestandteil
der Lehrbücher bis in die 1970er Jahre. Boring dixit, ergo verum est!
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Falsche Ideen können
auch immun gegenüber der Wirklichkeit sein, weil sie die Wirklichkeit überhaupt
erst schaffen helfen. Zum Beispiel die ökonomische. Nach der globalen
Finanzkrise listete der australische Wirtschaftswissenschafter John Quiggin
fünf „Zombie-Ideen“ auf, die nun eigentlich hätten beerdigt werden müssen. Insbesondere
die sogenannte Markteffizienzhypothese, die in einer Version besagt, dass die
im Finanzsektor generierten Preise das optimale Kriterium zur Abschätzung einer
jeglichen Investition darstellen, weil alle Information bereits in den Preisen
enthalten ist. Genau dies wurde durch die Krise falsifiziert. Aber die Hypothese
war, so Quiggin, „zu zweckdienlich, um einfach aufgegeben zu werden.“ Too big
to fail, auch bei Ideen.
Ein kleines
wissenschaftstheoretisches Lehrstück ist zumal die Verteidigungsstrategie der Advokaten
der Hypothese. Sie erinnert an das Giftorakel, das der Kulturanthropologe
Edward E. Evans-Pritchard in den 1920er Jahren bei den Zande in Zentralafrika
beobachtet hatte. Um eine Antwort auf eine schwierige Frage über die Zukunft zu
erhalten, gibt der Wahrsager einem Huhn Gift. Je nachdem, ob das Huhn überlebt,
trifft die Voraussage zu oder nicht. Die Kraft des Orakels wird nicht angezweifelt.
Liegt es falsch, dann greift man zu dem, was Evans-Pritchard „sekundäre Elaboration“
nennt. Man erfindet Zusatzhypothesen, vulgo: Ausreden. Zum Beispiel hat man
nicht die richtige Substanz verabreicht, ist sie alt und verdorben, spielt Hexenzauber
hinein oder ist der Wahrsager schlicht inkompetent. Durch sekundäre Elaboration
behauptet sich letztlich jeder Mumpitz.
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Sind wir aufklärungsresistent? Hier
könnten neuere Beobachtungen Aufschluss geben, die von den Kognitionspsychologen
Andrew Shtulman und Joshua Valcarel vom Occidental College, Los Angeles,
gemacht worden sind. Sie konfrontierten naturwissenschaftlich unterrichtete
Studenten mit einer Reihe von Aussagen aus diversen Fächern, deren
Wahrheitsgehalt sie möglichst schnell und intuitiv einschätzen mussten. Die
Studenten neigten oft zu älteren, überwundenen Ideen, obwohl sie eines
„Besseren“ belehrt worden waren. Shtulman und Valcarel kommen zum Schluss: „Wenn
Studenten wissenschaftliche Theorien lernen, die früheren, naiven Vorstellungen
widersprechen, was geschieht dann mit diesen früheren Ideen? Unsere Resultate
legen nahe, dass naive Theorien durch wissenschaftliche Theorien verdrängt,
aber nicht ersetzt werden.“ Wir lernen Neues, aber verlernen Altes nicht.
Der
Psychologe Kevin Dunbar von der University of Maryland untersuchte die
intuitiven Physikkenntnisse von Studenten genauer. Dabei stellte er fest, dass
viele der Befragten „überwundenen“ Ansichten zuneigten, etwa jener von
Aristoteles, wonach schwere Kugeln schneller fallen als leichte. Eine Ansicht,
die Galilei in einem berühmten Gedankenexperiment ad absurdum führte. Warum
also lassen uns solch „absurde“ Vorstellungen nicht los? It’s the brain, stupid!
Die wissenschaftliche „Zurückgebliebenheit“ lokalisierte Dunbar im
dorsolateralen präfrontalen Cortex, einem Areal, das sich bei Heranwachsenden
erst spät entwickeln soll. Es spiele eine entscheidende Rolle im Verdrängen von
ungewollten, ungewohnten Ideen. Physikstudenten müssten, so Dunbar, ihren
dorsolateralen präfrontalen Cortex bemühen, um ihre naiven „aristotelischen“
Vorstellungen zu unterdrücken und auf diese Weise zu reifem physikalischen
Denken zu gelangen.
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Diese Erkenntnis suggeriert ein anderes Bild
als jenes der Leiter. Alles
Wissen ist geschichtlich, das heisst, es gleicht einem Stück Erdboden mit
seinen sedimentierten Schichten; zuoberst unsere eigene rezente Epoche,
darunter frühere Lagen.
In ihnen
liegen die Wissens-Residuen aus alter Zeit bewahrt. Wir mögen sie als Überreste
eines vorwissenschaftlichen Denkens bezeichnen, aber im Sedimentmodell des
Wissens gewinnen sie eine vitalere Bedeutung: Sie bilden den Grund, auf dem
unser Wissen in immer luftigere und abstraktere Höhen hinaufwächst. Sie sind
der notwendige geistige Humus solchen Wachstums. In ihm stecken gewiss viele
Denkleichen, die besser beerdigt blieben; aber aus ihm stossen immer wieder
einmal Triebe an die Oberfläche, erwachen zu neuer Blüte. Ideen, welche die
Vorsokratiker als reine Denkübung erwogen – die Atomhypothese oder die
Viele-Welten-Theorie –, lagen Jahrtausende begraben, bis sie in den Schichten
des 20. Und 21. Jahrhunderts zu physikalischer „Seriosität“ erwachten.
Oder
betrachten wir das Beispiel der Homöopathie, die schon lange als Disciplina non
grata verschrien ist. Besonders die Idee eines „Wassergedächtnisses“ hat in
letzter Zeit an Aufmerksamkeit gewonnen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir
mit Wasser eine banale und vitale Substanz vor uns haben, die aber noch lange
nicht genügend erforscht ist. Sie manifestiert einen überwältigenden Reichtum
von Molekülstrukturen: Cluster. Das hat Chemiker und Informationstheoretiker auf
den Gedanken der strukturellen Informationsübertragung gebracht: Wenn nicht die
Zusammensetzung, sondern die Struktur einer Substanz ihre Eigenschaften
ausmachen, dann könnte es ja sein, dass die homöopathische Lösung quasi die
strukturelle Information – den „Geist“ - des Heilmittels „eingeprägt“ erhält,
selbst wenn sie kein einziges Molekül der heilenden Materie mehr enthält.
Das ist nun
allerdings ein höchst spekulativer und theoretisch nicht ausgeführter Gedanke.
Und es bestehen grosse Zweifel, dass er Licht in die Black Box des Schüttelns
und Verdünnens von homöopathischen Elixiren bringt. Es hilft hier auch nicht
der Hinweis weiter, dass die Wirksamkeit bisher weder endgültig bewiesen noch
widerlegt werden konnte. In solchen Fällen dürfte ein durchdachtes Mass an
„Orthodoxie“ angebracht sein: Die Wirksamkeit von chemischen Mitteln hat sich
auf so vielen Feldern bestätigt, dass es vielleicht doch an der Zeit wäre, die
homoöpathische Idee endgültig zu begraben. Eine einfache erkenntnistheoretische
Lektion erteilt sie uns dennoch: Sagen wir niemals vorschnell, eine Idee sei
gestorben. Totgesagtes lebt vielleicht gerade in der Wissenschaft am längsten.