Sonntag, 27. Dezember 2020

 


Schneckentelegraf und Internet der Bäume

Das Risiko von Metaphern in der Wissenschaft


NZZ, 19.12.2020


Der „pasilalinisch-sympathetischen Kompass“

Im Oktober 1850 erschien in der französischen Zeitung „La Presse“ ein Artikel des Journalisten und Politikers Jules Allix. Er pries darin seinen Zeitgenossen den sogenannten „pasilalinisch-sympathetischen Kompass“ an, eine kuriose drahtlose Informationsübermittlung zwischen - Schnecken. Schnecken würden, gemäss einer Theorie von zwei Esoterikern, nach der Paarung ein feinstoffliches Medium absondern, das sie zeit ihres Lebens telepathisch verbindet, über beliebige Distanzen hinweg. 


Der Prototyp der Apparatur bestand aus zwei entfernt aufgestellten Kasten, in denen man nach der Paarung getrennte Schnecken auf Tellern gefangen hielt. Jedes Tier trug als Kennzeichen einen Buchstaben des Alphabets. Die Fühlhörner stellten also quasi die Tastatur dar. Die Idee: Erregte man die Schnecke A, dann würde dies auch der Paarungspartner A unverzüglich fernempfinden. Auf diese Weise liessen sich Buchstaben, Wörter und Sätze instantan übermitteln. Die Zeit war empfänglich für solche Ideen. Nicht nur hatte man die Bioelektrizität entdeckt, die Telegrafie faszinierte als neue revolutionäre Informationsübertragung. Die Rede war deshalb auch vom „Schneckentelegrafen“. Heute würde man vom Internet der Schnecken sprechen. 


Wood Wide Web

Allix’ Erfindung entpuppte sich als Betrug. Aber nicht das Technische interessiert hier, sondern etwas anderes: Wissenschafts- und Technikgeschichte sind immer auch Metapherngeschichte. Wir übertragen Metaphern von der Technik auf die Natur, und umgekehrt. Allix bediente sich der Telegrafen-Metapher zur Demonstration einer neuen Kommunikationsform bei Schnecken. Umgekehrt postulierte der berühmte Physiologe Emil Du Bois-Reymond, dass das „Wunder unserer Zeit, die elektrische Telegraphie“ schon in der „thierischen Maschine“,  also in der Natur „vorgebildet“ sei.


An die Stelle der „thierischen Maschine“ tritt heute die Computermetapher. Fragen wir also: Sind in der Natur Ansätze zum Internet „vorgebildet“? Ein schönes Beispiel bietet das Kommunikationsnetz des Waldes, wo es nicht nur rauscht, sondern Bäume auch miteinander „sprechen“. Pflanzen leben mit Pilzen in vielgestaltiger Symbiose. Der deutsche Botaniker Albert Bernhard Frank prägte dafür im 19. Jahrhundert den Begriff der „Mykorrhiza“: ein erstaunlich raffiniertes unterirdisches System nicht nur des Stoff-, sondern auch des Informationsaustauschs. Eine Analogie drängt sich geradezu auf. So könnte man zum Beispiel Pilzfäden im Waldboden als pilzartiges lokales Netzwerk bezeichnen: „fungoid local area network“ (FLAN). Was liegt näher, als hier von einer natürlichen Vorform des Internets zu sprechen – von einem „Wood Wide Web“? 


Il n’y a pas de hors-information

Information und Netzwerk sind zu Leitmetaphern – Paradigmen - unseres Zeitalters geworden. Leben ist nicht bloss Stoffwechsel, Leben ist ein semiotischer Prozess, ein permanenter vernetzter Informationsfluss zwischen Organismen. Die Buttersäure, die ich aus-dünste, ist für die Zecke Information, sich auf mich fallen zu lassen; das Nashorn, das im Kot seines Artgenossen schnüffelt, „liest“ Informationen über die Paarungsbereitschaft heraus; Glühwürmchen blinken, Heringe furzen sich, Flusskrebse pinkeln sich gegenseitig Informationen zu. Um ein geflügeltes Wort der Postmoderne abzuwandeln („Il n’ y a pas de hors-texte“, Jacques Derrida): Il n’ y a pas de hors-information. Es gibt kein „Ausserhalb“ der Information, weder in Kultur noch Natur.


Manifestiert sich also im Pilznetzwerk zwischen den Bäumen, in diesem ganzen „sprachlosen“ Austausch von Nährstoffen, Hormonen, Toxinen eine Genealogie, an deren Ende der sprachliche Austausch der Menschen steht? Das ist eine gewaltige Frage, nämlich nach der Entstehungsspur des Geistes in der Natur.


Signal und Symbol

Zuallererst sind freilich klare Unterscheidungen gefragt. Ich beschränke mich hier auf zwei Grundarten der Information: Information zu etwas, und Information über etwas, kurz: Signal und Symbol. Eine Verkehrsampel signalisiert mir, zu warten oder zu gehen. Das Bild einer Ampel symbolisiert die Ampel – das Bild sagt mir nicht „Warte“ oder „Gehe“. Signal und Symbol informieren mich, aber im ersten Fall bewirkt die Information einfach eine Aktion, im zweiten Fall hat die Information einen „Inhalt“ über die Aktion hinaus, einen semantischen Mehrwert. 


Sprechen wir also von Informationsaustausch im Reich der Tiere, Pflanzen und Pilze, sollten wir sorgfältig auf diesen Grundunterschied achten. Wenn im Pilzmyzel des Waldbodens bestimmte Stoffe als Signale zwischen Bäumen fliessen, heisst das, dass die Signale Ursachen bestimmter Effekte sind, und nicht, dass die Bäume via Myzel miteinander über et-was „sprechen“. Das ist Märchensprache. Bei Tieren liegen die Dinge schon nicht mehr derart eindeutig zutage. Zumindest gewisse Primatenarten, etwa Meerkatzen, scheinen über eine primitive Vorform von Semantik zu verfügen. Ihre Alarmrufe sind differenziert, sie unterscheiden zwischen verschiedenen Feinden, was die Vermutung bestärkt, sie würden nicht bloss Signale zur direkten Handlung austauschen, sondern sich „über“ diese Feinde verständigen. Selbstverständlich muss die Artspezifität solcher Verständigung hervorgehoben werden. 


Die Falle des Anthropomorphisierens

Metaphern sind zweischneidig. Sie haben durchaus eine Erkenntnisfunktion. Sie können im Unähnlichen das Ähnliche sichtbar machen, die forschende Neugier auf nicht gestellte Fragen lenken, – sie können ein Phänomen buchstäblich „designen“, aus einem Hintergrund herausmodellieren. Wenn wir früher vor lauter Bäumen den Wald nicht sahen, so sehen wir jetzt dank der Metapher des Wood Wide Web auf einmal das Kommunikations-netz Wald. 


Aber Metaphern sind keine Erklärungen, sie markieren bloss deren Anfang. Pflanzen, die „lernen“ und „sich erinnern“, chemische Botenstoffe, die „Wissen“ von Baum zu Baum übertragen: das sind eingängige Bilder, die uns zweifellos im Verständnis natürlicher Phä-nomene helfen – bis zu einem gewissen Grad. Überschreiten wir diesen Grad, tappen wir in die Falle des Anthropomorphismus. Sie droht besonders in der Redeweise vom Internet der Bäume. Wir erklären Beziehungen zwischen Pflanzen mit Begriffen, die selber erklärungsbedürftig sind. Wir drehen uns im Kreis. Petitio Principii nennen dies die Philosophen - einer der gröbsten Denkfehler.  


Bio-Semiotik: Ein Grossprojekt für das 21. Jahrhundert

Dennoch: In der Internet-Metapher steckt heuristisches Potenzial. Sie könnte uns einen Blick lehren, der menschliche Kultur und Technik nicht „disruptiv“ von Natur und Evolution trennt. Unterschätzen wir nicht das natürliche Erbe, das wir mit anderen Lebewesen teilen; unterschätzen wir freilich auch nicht die grossen Unterschiede, welche den Menschen dank Kultur zum Animal symbolicum werden lassen. Öffnet man den Gesichtswinkel auf Tier-, Pflanzen- und Pilzreich so, dass auch der nicht-symbolische, nicht-semantische Zeichengebrauch als eine Form von Kommunikation erscheint, dann wird man auf einmal einer überraschenden Fülle von „Gesprächsformen“ in der nicht-menschlichen Natur gewahr. 


Leitmetaphern oder Paradigmen bestimmen das Studium der Naturphänomene: sie geben die allgemeine Frage- und Interpretationsrichtung vor. Die Idee, dass Biologie im Wesentlichen Zeichenwissenschaft, „Bedeutungslehre“ ist, stammt vom grossen Pionier der Ökologie, Jakob von Uexküll. Er formulierte sie vor gut einem Jahrhundert. Und seit vier bis fünf Jahrzehnten entwickeln die Biologen Modelle der Zoo- und Phytosemiotik, also von Zeichenprozessen im Animalischen und Vegetativen. Das Internet könnte hier quasi die Rolle eines metaphorischen Katalysators spielen. Aufs Ganze gesehen gewänne so ein post-cartesianisches Forschungsprogramm an Kontur und Relevanz, das mentales Leben nicht allein uns Menschen vorbehält, sondern solches Leben in artspezifischer Ausprägung auch in der nicht-menschlichen Natur wahrnimmt. Wir würden eine echte Naturgeschichte des Geistes zu schreiben beginnen – ich sehe darin das grosse Projekt des 21. Jahrhunderts.


Sonntag, 20. Dezember 2020

Homo fingens - der gaukelnde Mensch



NZZ-Podium, 20.10.2020





Ich lege im heutigen Podiumsthema – „Die Erfindung der Wahrheit“ – das Gewicht bewusst nicht auf die Wahrheit, sondern auf das Erfinden, die Fiktion. Denn nichts scheint mir den Menschen treffender zu charakterisieren als das Fingieren, das Fabulieren, Simulieren. Er ist nicht nur ein Homo faber, sondern auch ein „Homo fingens“: ein fingierender, erfindender, gaukelnder Mensch. Lassen Sie mich diesen „Homo fingens“ kurz an drei Phänotypen konkretisieren, die alle mit Sprache und der sprachlichen Vermittlung von Wahrheit zu tun haben: am Romanautor, am Wissenschafter und  - nun ja: am Journalisten. 


***


Ein Roman erzählt eine erfundene Geschichte. Lügt er deshalb? Kaum jemand behauptet so etwas. Aber auch kaum jemand nimmt das, was in einem fiktiven Werk steht, für bare Wahrheit. Weder wahr noch eine Lüge – was dann? Hier stellt sich die Frage nach dem Tertium datur, nach einer eigenen Kategorie des Nicht-die-Wahrheit-sagens. Es gibt ein bekanntes Postulat in der Sprachphilosophie, das der Fiktion einen sogenannten nicht-assertorischen Charakter zuschreibt: sie zielt nicht ab auf Aussagen, die wahr oder falsch sein können. Deshalb reagieren wir in der Regel auf fiktive Falschheiten anders als auf Falschheiten, die von Wissenschaftern, Politikern oder Journalisten geäussert werden. 


Der Romanautor hat primär eine evokative Aufgabe. Er beschwört fiktive Welten. Indem er vorgibt – „fingiert“ -, über eine reale Person zu reden, nimmt er eine bestimmte Sprachfunktionen in Anspruch: die Referenz, das Feststellen eines Sachverhalts. Er muss aber nicht ausserhalb des Textes verifizieren, was er innerhalb des Textes schreibt. Natürlich kann er Fehler machen. In der Regel beeinträchtigen solche Fehler nicht die Qualität des Romans. Der Romanautor tut so, als ob er Feststellungen über die Welt träfe. Und dieses Sprachspiel des Als-ob nennen wir die Kunst des Romaneschreibens, die Kunst des Kontrafaktischen. Der Autor lädt uns ein, an diesem Spiel teilzunehmen und insoweit wir uns darauf einlassen, tun auch wir, als ob die fiktiven Figuren existierten. Wir schliessen mit dem Autor einen narrativen Pakt. Fiktion beruht auf dieser magischen Kollusion von Autor und Leser. 


***


Im Gegensatz zum Romanautoren macht der Wissenschafter assertorische Aussagen, das heisst, er fingiert nicht, er hält sich an die Fakten. Er sagt nicht: Ich evoziere eine Welt der Elementarteilchen, bitte tritt ein - er sagt: Die Welt besteht aus Elementarteilchen. Punkt. So zumindest lautet das Klischee. 


Es bedarf einer Korrektur. Die modernen Naturphilosophen der ersten Stunde traten an die Natur wie an einen fremden Text heran, den sie zu entschlüsseln suchten. So schreibt Descartes in seinen „Regeln zur Leitungs des Geistes“ (Regel 10):  „Wenn wir etwa ein Schriftstück lesen wollen, das durch unbekannte Zeichen unkenntlich gemacht ist, so zeigt sich hier zwar keine Ordnung, aber wir fingieren eine, teils um alle Vorurteile zu prüfen, die man in bezug auf die Schriftzeichen (..) haben kann (..), teils um die Ordnung so anzu-legen, dass wir alles erkennen, was wir aus (den Schriftzeichen) deduzieren können .“


Das ist eine bemerkenswert genaue Charakterisierung des neuzeitlichen exakten Wissenschaftsstils: Er hält uns dazu an, eine hypothetische Ordnung zu „fingieren“, und die Fiktionen anhand von Deduktionen und Experimenten zu prüfen. Der Wissenschafter fragt also nicht nur nach dem faktischen „Was ist?“, sondern immer auch nach dem kontrafaktischen „Was könnte sein?“ Zum Beispiel: Was wäre, wenn die Erde kugelförmige Gestalt hätte; was wäre, wenn es Paralleluniversen gäbe; was wäre, wenn alle Lebensformen sich einem vertrackten evolutionären Zufallsspiel verdankten? „Was wäre, wenn ... ?“ –  das ist die Urfrage des Romanautors.  


Kurz: Nur wer erfindet, findet. Heutige Fakten sind gestrige Fiktionen. Die grössten Leistungen der forschenden Neugier entstammen einem kontinuierlichen Gespräch über „er-fundene“ Dinge, auch und gerade in der Wissenschaft. Vieles stellte sich als tatsächlich inexistent heraus. Allerdings gehören heute auch Dinge zum technischen Alltagsinventar, deren Existenz man noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezweifelte: Atome und Elektronen. Antimaterie - zum Beispiel das Positron - galt in den 1930er Jahren als inexistent, ja, absurd, heute braucht man sie in bildgebenden Verfahren der Medizin, in der Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Sagen wir nie: Das gibt es nicht! Bald gibt es vielleicht dank Gentechnologie Einhörner mit Flügeln.


***


Journalisten pflegen – zumindest bis vor kurzem -  das Ethos des Ermittlers. Nun hat in den letzten zwei Dekaden ein Journalismus an Gehör und Einfluss gewonnen, der sich von diesem Ethos abkehrt und sich dem Ethos des Beschwörers zuwendet. Er bedient sich der Mittel des Romanschreibens, aber er ist nicht Fiktion. Er ist Fake. 


Das Fake parasitiert sozusagen die investigative und die evokative Aufgabe. Die Fiktion erzählt Geschichten über eine erfundene Welt. Das Fake erfindet Geschichten über die reale Welt. Beim Roman akzeptieren wir die Erfindung. Ja, wir werten sie als Kunst. Ein Fake dagegen kann noch so herausragende literarische Qualitäten aufweisen, die Falschheit sei-ner Aussagen disqualifiziert es als Lüge. Der narrative Pakt, der den Romanleser mit dem Autor verbindet, kann dem Fake gerade nicht als Basis dienen. Aussagen von Conan Doyle über Sherlock Holmes oder von Günter Grass über Oskar Mazerath sind keine Lügen, Aussagen von Claas Relotius über seine todkranke Schwester oder von Tom Kummer über Sharon Stone dagegen schon. 


Man kann Relotius, Kummer und Konsorten als Indikatoren des heutigen Mediotop betrachten. In ihm verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion immer mehr. Wenn also der Borderline-Journalismus – so nennt ihn Kummer – dieses Mediotop als sein natürliches Habitat definiert, dann artikuliert er die zentrale erkenntnistheoretische Frage: Gibt es ein verlässliches Mittel, Fakten von Fabeln zu unterscheiden? Können wir Menschen eigentlich nicht nicht fabulieren? Wir leben nicht nur in einem Zeitalter des Mul-ti-Kulturalismus, sondern auch des Multi-Expertismus oder des Egalitarismus der Experten. Das erfahren wir ja gegenwärtig in der Coronakrise. Das Vertrauen in die Wissenschaft schwindet. Horden von selbsterklärten Experten fallen nun in dieses Vertrauensvakuum ein, lassen sich auf allen Gebieten nieder, von der Klimatologie bis zur Bakteriologie. Und nicht selten vertauschen sie Kausalfragen mit Schuldfragen: ein gedeihlicher Sumpfboden für Konspirationstheorien.


Wir geraten in einen Vertrauenszirkel. Um zu entscheiden, welchen Experten zu trauen sei, muss ich auf weitere Experten rekurrieren, also ihnen vertrauen. Ich lande so letztlich beim Vertrauen in meine eigene Urteilsfähigkeit, und ich weiss gleichzeitig, dass ich dieser Urteilsfähigkeit ebenfalls kein absolutes Vertrauen schenken kann. Aus diesem Zirkel führt kein Ausweg. Wir berufen uns auf das eigene Urteil, ohne es hinreichend begründen zu können. Das bedeutet nicht, dass wir immer grundlos urteilen, sondern dass wir unser Urteil als stets prüfbedürftig betrachten. Also nicht nur „Wage zu wissen“, sondern auch „Wage, dein Wissen zu prüfen“. Das charakterisiert den aufgeklärten Homo fingens. 


***


Was mich am Ende doch noch zum Begriff der Wahrheit führt. Ich möchte vom Willen zur Wahrheit sprechen. Er ist konservativ. Und was bewahren wir mit ihm?  Ganz einfach, Vertrauen in den anderen: ein Wohlwollen, das ihm nicht a priori täuschenden Vorsatz, feindliche Haltung oder Verschwörungsabsichten unterstellt. Nur ein solches Wohlwollens garantiert so etwas wie einen verbindlichen Wirklichkeitsbezug. Und man kann es nicht erfinden, man muss es erarbeiten, mühsam und immer wieder. Wahrheit steht und fällt mit diesem Wohlwollen. 




Mittwoch, 2. Dezember 2020








NZZ, 28.Nov. 2020 


Intellektuelle Ansteckung 
Eine Epidemiologie der Ideen 


 Es gibt Ansteckung durch Viren, und es gibt Ansteckung durch Gedanken – im Netz auch „Meme“ genannt. Während biologische Epidemien eher unerwünscht sind, kann man das von intellektuellen Epidemien nicht unbedingt behaupten. Ausbrüche von Ideen aus der „Nische“ eines einzelnen Denkers kennzeichnen entscheidende Disruptionen einer kultu-rellen Entwicklung. Auch wenn sich gegenüber biologischen Analogien immer ein gewisses Fingerspitzengefühl empfiehlt, erscheint es verlockend, den intellektuellen Ansteckungs-prozess einmal aus epidemiologischer Sicht anzuleuchten. 

 *** 

 Analogisieren wir also freiheraus. Wir sind empfänglich für gewisse Ideen und immun gegen andere. Einmal angesteckt, können wir, nach einer bestimmten Inkubationszeit, an-dere anstecken. Nehmen wir ein Beispiel aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts, die Psychoanalyse. Sie ist, nach dem bissigen Wort von Karl Kraus, die Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält. Freuds Schriften trugen den infektiösen Stoff, der anfällige Leser wie Jung, Abraham oder Ferenczi ansteckte. Diese wurden nach einer Inkubations-zeit zu Wirten des psychoanalytischen Virus. Dabei entwickelte Jung eher eine erworbene Widerstandsfähigkeit gegen die Krankheit, wogegen der Widerstand der Wiener Ärzteschaft wohl einer angeborenen Immunität entsprach. Die Geschichte der Psychoanalyse in ihrer ersten Phase liest sich wie die Chronik einer Epidemie. Analoges lässt sich auch etwa über Newtons Mechanik, Darwins Evolutionsthe-orie, Cantors Mengenlehre, Keynes Beschäftigungstheorie sagen. Die Epidemien sind kei-nesfalls auf die Wissenschaft beschränkt. Man denke an das Gedankengut von Christus, Buddha oder Mohammed – wahre religiöse Pandemien -, von Kant, Marx oder Nietzsche. Sie sorgten für Gedankenepidemien in ihren Kreisen. Die quartären Ausläuferwellen errei-chen uns noch heute. 

 *** 

 Eine gute Idee entwickelt sozusagen epistemische Virulenz. Für die Virulenz brauchen die Epidemiologen eine Kenngrösse, die sogenannte Ansteckungsrate oder Reproduktionszahl R. Sie gibt an, wie viele weitere Personen ein infizierter Virusträger durchschnittlich an-steckt. Bei der Verbreitung von Viren gilt es natürlich, diese Rate zu vermindern, bei der Verbreitung von Ideen dagegen, sie zu vergrössern, das heisst, Beeinflussungsketten oder -netze zu schaffen, über lange Zeitläufte hinweg. Man nennt das landläufig „Tradition“. Haben auch Ideen eine Reproduktionszahl? Ein Team aus Physikern und Wissen-schaftshistorikern suchte 2005 die Frage affirmativ in einem Artikel zu beantworten. Und zwar wählten die Autoren als Musterbeispiel die sogenannten Feynman-Diagramme, ein vom Nobelpreisphysiker Richard Feynman in den späten 1940er Jahren ersonnenes inge-niöses mathematisches Instrument, das gestattet, langwierige Berechnungen von Quanten-wechsel¬wirkungen effektiv durchzuführen. Dieses hochpotente Ideen-Virus löste in ein-schlägogen Kreisen eine Epidemie aus. In penibler Kleinarbeit sichteten die Autoren des Artikels die Zitierungen von Feynman-Diagrammen in Fachzeitschriften und erstellten eine Chronologie der Verbreitung der Idee. Der Verlauf lässt eine typische Sigmakurve erken-nen: starker anfänglicher Anstieg, dann zunehmende Abflachung. Überdies schätzten die Autoren die Reproduktionsrate des Ideen-Virus in diversen Ländern ab: in den USA betrug sie 15, in Japan bis zu 75.

 ***

 Selbstverständlich beantworten solche numerischen Übungen nicht die relevanten epide-miologischen Fragen, vor allem: Was macht eine Idee so virulent? Weil sich in gewissen Intellektuellenkreisen viele „Superspreader“ aufhalten? Die Autoren des besagten Artikels schlugen eine andere Erklärung vor: „Die Ausbreitung der Feynman-Diagramme (..) zeigt eine enorme Virulenz, nicht aufgrund ungewöhnlich hoher Kontaktzahlen, sondern auf-grund der Langlebigkeit der Idee.“ Das ist höchst aufschlussreich, denn die Erklärung präsentiert auch den wissenschaftlichen Fortschritt in einem epidemiologischen Licht. Langlebigkeit einer Idee bedeutet oft die Dominanz von wissenschaftlichen „Mandarinen“ und ihren Schülern auf einem Gebiet. Sie kann die Ausbreitung alternativer, konkurrierender Ideen-Viren behindern. Es bildet sich sozusagen die Herdenimmunität einer wissenschaftlichen Schule gegenüber anderen Ideen aus. Gemäss Max Plancks berühmtem Zitat schreitet die Wissenschaft mit einem Begräbnis nach dem anderen vorwärts. Das heisst, neue Theorien können oft nur dann Fahrt auf-nehmen, wenn die Eminenzen einer Disziplin abtreten und die Immunität ihrer etablierten Ideen schwindet. 

 *** 

Bisher war von guten Ideen die Rede. Wie steht es mit schlechten? Zumal mit der „Patho-genität“ von Ideen? Die Frage ist von akuter Bedeutung. „Verseuchter“ Content - Falschin-formationen, Spinnertheorien, Gerüchte - verbreitet sich in den sozialen Netzwerken buch-stäblich pandemisch. Analogisieren wir auch hier. Bei einer Krankheit konkurrieren in der Regel mehrere Erre-gerstämme um Vorherrschaft und Überleben in einer Wirtepopulation. Abseitige Weltan-schauungen, Halb- und Unwahrheiten lassen sich entsprechend als intellektuelle „Pathoge-ne“ betrachten. Sie stehen in einem ständigen Konkurrenzkampf mit „gesunden“ Ideen. Alle buhlen sie um Aufmerksamkeit, das heisst, sie suchen ansteckbare Wirte. Man könnte eine robuste Population dadurch definieren, dass in ihr die „gesunden“ Ideen Gelegenheit haben, die „pathogenen“ an einer weiten Ausbreitung zu hindern. Wenn die Population nun aber zerfällt in lauter abgeschlossene Teilpopulationen, können auch „pathogene“ Ideen-Viren ihre Nischen finden, in der sie ungefährdet fortbestehen. Soziale Netzwerke geben die idealen Ansteckungsherde und Brutstätten solcher Virenstämme ab, und sie befeuern dadurch eine geistige Segregation beängstigenden Ausmasses. 

 ***

 Zurzeit befällt uns das Komplott-Virus. Und wie es scheint, ist seine Reproduktionszahl hoch - was zur Annahme verleitet, das Virus sei Produkt der sozialen Netzwerke. Aber es ist viel älter - uralt. Weil es unbelehrbar und angstgetrieben das ewig gleiche Erzählmuster rezykliert, das man in einen Satz verdichten kann: Epidemien haben immer ihre Schuldi-gen. Zum Beispiel beschuldigte man 1321 während der Lepraepidemie in Frankreich die Kranken selbst der seuchenverbreitenden Konspiration. Der Historiker Carlo Ginzburg zitiert in seinem Buch „Hexensabbat“ aus einem Bericht des berüchtigten Inquisitors Ber-nard Gui, wonach die angeblichen leprösen Verschwörer giftiges Pulver in Brunnen, Quel-len und Flüsse gestreut hätten, um die Gesunden anzustecken. Kranke seien verhaftet, ein-gesperrt, gefoltert und verbrannt worden. Nichts Neues unter der Sonne auch heute. Das Komplottmuster über das Virus SARS-CoV-2 sieht sich je nach Präferenz aktualisiert mit chinesischen Kommunisten, USA-Geheimdiensten, mit der Bill-Gates-Stiftung, der Big Pharma oder den obligaten Invasoren von Alpha Centauri. 

 *** 

 Analogisieren wir noch einmal: Bullshit ist ein pandemisches intellektuelles Virus. Seine Epidemiologie beruht auf drei Grundprinzipien: 1) Produzieren von Bullshit ist leicht, Ent-sorgen dagegen unverhältnismässig schwieriger. 2) Der „Beweis“ von Bullshit braucht kei-ne Intelligenz, seine Widerlegung dagegen sehr viel. 3) Viraler Bullshit verbreitet sich schneller als alle Versuche, ihn zu korrigieren und zu widerlegen. Im Augiasstall der Social Media ist daher kein „Impfstoff“ gegen Bullshit in Sicht. Grund zur Resignation? Betrachten wir die gegenwärtige Lage eher als Initiation zu einem zeitgemässen Stoizismus. Mikroben gelten seit ihrer Entdeckung primär als „Kontaminati-on“, als Beschmutzerinnen und Keimträgerinnen des Schlechten: biologischer Dreck, den es zu beseitigen gilt. Dasselbe lässt sich vom intellektuellen Dreck – vom Bullshit – sagen. Stoizismus heisst jetzt: Leben unter dem Gesichtspunkt des Drecks, in dem wir alle ste-cken. Bullshit-Tracking ist das Gebot der Stunde. Und eine eminente Bildungsaufgabe, längerfristig gesehen.

NZZ, 9.4.24 Sokrates und der ChatGPT Schreiben in der postliterarischen Welt Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, er...