Dienstag, 14. März 2023





NZZ, 11.3.23


Eine Natur für alle gibt es nicht

Was ist gerechte Ökologie?


So real wie der physische Klimawandel, so real sind die sozialen Gräben, die er aufreisst, die Ungerechtigkeiten, zu denen er führt. Ein Artikel in der Zeitschrift «Race, Poverty and Environment», fasste schon 2009 die Situation bündig zusammen: «Afroamerikaner emittieren durch-schnittlich pro Kopf fast zwanzig Prozent weniger Treibhausgase als nicht-hispanische Weisse. Obwohl sie weniger verantwortlich sind für den Klimawandel, sind sie durch seine Folgen bedeutend verletzbarer als nicht-hispanische Weisse». 

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Und schon stecken wir mitten im Minenfeld der «Intersektionalität». Dieser Begriff bedeutet, dass eine Person aufgrund mehrerer Merkmale diskriminiert werden kann. Also nicht bloss als «schwarz», sondern als «schwarz und schwul».  Eine solche Überschneidung findet, wie der Eingangstext suggeriert, auch in der Ökologie statt. Bestimmte Gruppen von Menschen sind den Umwelteinflüssen empfindlicher ausgeliefert als andere.  

Diese Überschneidung fordert eine neue, eine gerechtere Art von Umweltschutz ein, den intersektionellen, wie ihn die junge amerikanische Umweltaktivistin Leah Thomas in ihrem Buch «The Intersectional Environmentalist» (2022) nennt. Sie schreibt: «Die fehlende Repräsentation von (..) marginalisierten Stimmen (..) hat zu einem ineffektiven Mainstream-Umweltschutz geführt, der nicht wirklich für die Befreiung aller Völker dieses Planeten eintritt. Soziale und ökologische Ungerechtigkeit werden von der gleichen Flamme genährt». 

Mit solchen Tönen verschafft sich – so scheint es - eine Generation Gehör, die endlich die These des jüngst verstorbenen Wissenschaftsphilosophen Bruno Latour ernst nimmt: Die wichtigsten planetarischen Probleme sind «hybrid»; solche also, in denen sich ökologische, ökonomische, kulturelle, soziale, politische Themenlinien überschneiden. Fragt sich, ob wir diese Probleme eher einer Lösung zuführen, wenn wir sie aus der Identitäts-Perspektive betrachten. Identity first? Je diverser die Ökologie, desto gerechter?

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Schnell erhebt sich die Gegenrede: Aber nötigt denn nicht gerade der planetarische Notfall dazu, von partikularen Identitäten und Interessen abzusehen? Solidarität statt Identität? Müsste nicht ein «planetarisches Wir» in uns allen erwachen? Tut es nicht. Verflixt an diesem «Wir» ist seine Abstraktheit. Wir alle sind gefährdet. Doch jedes Bemühen, dem «Wir alle» konkrete Gestalt zu verleihen, sieht sich umgehend vom Spaltpilz der Identität hintertrieben. Antithetisch zur Befreiungs- und Vereinigungsrhetorik hämmert Latour den schonungslosen Satz hin: «Wir verstehen nichts von den ökologischen Problemen, wenn wir nicht zugeben, dass sie uns spalten». 

Könnten uns dann nicht Wissenschaft und Technologie aus der Bredouille führen? Sie sind ja weniger von «identitären» Voreingenommenheiten belastet, sie zeichnen ein relativ objektives Bild der Lage und sie entwickeln wirksame Mittel, der ökologischen Krise zu begegnen: Science and technology first! Kunstschnee auf Gletschern, Meereswolken-Aufhellung, stratosphärisches Aerosol-Einspritzen, Zirruswolkenausdünnung! 

Derartige Projekte mehren sich, allerdings akzentuieren sie nur unsere Zwickmühle. Über Dekaden hinweg trug Technologie unter den Bedingungen kapitalistischer Raub- und Raffwut dazu bei, die Umwelt auszubeuten und zu zerstören. Sagen wir es klipp und klar: es handelt sich hauptsächlich um «westliche» Technologie. Und nun setzt man auf sie, um die Folgen dieser Ausbeutung und Zerstörung zu reparieren. Ist das nicht ein Teufelskreis? 

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Wir müssen mit ihm leben und ihn entschärfen lernen. Ebenso wenig wie ein «Wir alle» gibt es eine «Natur für alle». Es gibt die Natur des Indigenen, des Städters, des Tourismusmanagers, des Spiritualisten, des Künstlers, des Wissenschafters, die Natur der Wohlhabenden und der Mittel-losen, die Natur von Monsanto und die Natur des WWF. Kurz: Die Natur ist im Kopf, in ihre Definition fliesst implizite oder explizite immer ein bestimmtes Bild ein, das wir uns von ihr machen. Und dieses Bild steuert unsere Interessen. 

Wenn Umweltprobleme immer sozial und ökologisch «hybridisiert» sind, dann liegt die Crux in der richtigen Einschätzung: Was soll man als vordringlich behandeln? So trug ein rezenter Zeitungsartikel den Titel «Retten wir nicht das Klima, sondern Menschen».  Nun erweist sich gerade die binäre Logik dieses Lösungsvorschlags  als Teil des Problems. Gewiss, wo die ökologische Komponente überwiegt - Meeresverschmutzung oder Kohlendioxidkonzentration - , da sind die besten wissenschaftlichen und technischen Mittel opportun für die Lösung. Aber hybride Probleme sind in der Regel tückisch, das heisst, nicht eindeutig. Nur schon die Formulierung erweist sich als problematisch. Was ist «das» Klimaproblem? Der Kohlendioxid-Ausstoss? Das ungebremste Wirtschaftwachstum? Die Dominanz des globalen Kapitalismus? Das Entwicklungsgefälle zwischen industrialisierten Ländern und Schwellenländern? Die Gefrässigkeit des «weissen» Lebenstils? 

Je nach Prioritätensetzung sieht die Antwort anders aus. Ökologische Probleme lassen sich nicht «reduktionistisch» lösen. Eine «oberste» oder «letzte» Erklärungsetage fehlt. Die Suche nach Grundursachen (oder moralisch: Grundübeln) erweist sich als illusionär, weil jede solche Ursache sich als Wirkung anderer Ursachen herausstellt: tückische Probleme sind Ursache-Wirkungs-Knäuel. Oder anders gesagt: Es gibt eigentlich nur Symptome, deshalb ist jede Problemlösung Symptombekämpfung. Auch die intersektionelle Ökologie.

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Eine auswegslose Situation? Ich sehe in ihr eher den Anlass zu einer «planetarischen» Bewusstwerdung, das Erwachen aus einer Illusion. Latour nennt sie die «gefährliche Fiktion eines als einheitliche Menschheit agierenden Universalakteurs». «Wir alle» eine Fiktion. Das sind harte Worte. Selbstverständlich legitimieren sie nicht die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten auf der Erde. Vielmehr machen sie eine elementare Trivialität schmerzlich bewusst: Jeder Mensch will sein Leben leben. 

Die Trivialität hat ihre Unschuld verloren. Die Globalisierung versetzt «uns alle» in einen neuen Zustand der Verschränktheit. Mein Leben am Ort A bleibt häufig nicht ohne Folgen für das Le-ben anderer Menschen am weit entfernten Ort B. Ohne Wissen und Absicht kann ich ihre Lebensweise mehr oder weniger empfindlich beeinflussen; zum Beispiel durch meine Ess- und Bekleidungsvorlieben,  meinen Kauf eines bestimmten Handys, mein Freizeitverhalten, meinen Heizöl- und Benzinverbrauch. 

Drastischer formulierte dies ein Brasilianer 1987 in der Brundtland-Kommission: Das Leben hier (verkürzt: im globalen Norden) bedeutet Überleben dort (im globalen Süden): «Ihr sprecht sehr wenig vom Leben, ihr sprecht viel zu viel vom Überleben. (Aber) die Möglichkeiten des Überlebens beginnen, wenn die Möglichkeiten des Lebens verschwunden sind. Und hier in Brasilien gibt es Menschen – besonders in der Amazonas-Region - , die immer noch leben, und sie wollen nicht, dass man ihr Leben auf die Überlebensstufe hinunterstuft». 

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Gerechte Ökologie hiesse sonach: Es gibt andere Lebensformen als «westliche», es gibt andere Lebensformen als menschliche, und alle reden im planetarischen «Parlament» mit, reklamieren das Recht auf eine Eigenexistenz.

Schön wäre es. Latour stellt sich eine Art von terrestrischer Gemeinschaft vor, im Sinne des anti-ken «oikos»: Haus, Heim, Familie. Sie vereinigt Lebewesen vom Menschen bis zur Mikrobe, ja, auch das Anorganische und Artifizielle unter dem Dach «wir alle». Da schwirrt einem definitiv der Kopf. Eine solche Welt wird es nie geben. Dennoch ist das Denken wichtig, dass so etwas fehlt. Das Fehlende als kreative Ressource ökologischer Politik! Die Welt ist alles, was der Fall ist - aber auch, was nicht der Fall ist, jedoch sein könnte. Ich würde deshalb auf die Maxime Trotzdem setzen. 


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