NZZ, 22.12.2017
Lügen
kann jeder. Fake dagegen ist eine Kulturtechnik, eine kommunikative Kompetenz. Fake
braucht auch ein spezifisches Soziotop – soziale Medien. Wenn es heute zum
gängigen Ton gehört, mit dem Finger auf Fakeproduzenten zu zeigen, sollten wir
uns dabei bewusst sein, dass Fake die Komplizenschaft von Produzenten und
Konsumenten voraussetzt. Wie Kitsch gedeiht Fake prächtig im konspirativen
Klima jener, die sich darauf einigen, das Unechte, Unwahre, Vorgetäuschte als
Falschwährung im kulturellen Tausch zu pflegen. – Aber halt, ruft man mir jetzt
zu, was masst du dir an, von Falschwährung zu reden! Weisst du denn, was die
richtige Währung ist? Und unversehens sitzt man im schönsten postmodernen
Schlamassel. Es hat eine philosophische Geschichte - jene des
Vertrauensschwundes in Instanzen verlässlichen Wissens. Ich beschränke mich
hier auf drei Diskreditierungen: des Sachdiskurses, der universellen Standards
wie Wahrheit und Objektivität, sowie des Expertentums.
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Die
erste Diskreditierung beruht auf einem einfachen, perfiden Trick, bekannt als
„argumentum ad hominem“. Im Englischen spricht man auch von „Bulverism“. Der
Ausdruck stammt vom Schriftsteller Clive S. Lewis, genauer von seiner fiktiven
Figur Ezekiel Bulver, der hörte, wie seine Mutter die Beweisführung seines
Vaters, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei grösser als die dritte
Seite, mit den Worten abschmetterte: Du sagst das nur, weil du ein Mann bist. Eine
Diskursverweigerung, letztlich die schwerste intellektuelle Verachtung des Anderen.
Man könnte sie als Prinzip der versteckten Verunglimpfung bezeichnen. Nicht
das, was man sagt, zählt, sondern, wer es sagt.
Dem Anderen wird unterstellt: Eigentlich denkst du nicht, dein Denken
ist bloss Symptom von tiefer liegenden Mächten und Motiven.
Bulverismus ist als politische Taktik in der jüngeren
Geschichte notorisch. Die Linke praktizierte ihn in den 1970er Jahren häufig
als Ideologiekritik, als Entlarvung des „wahren“ Kerns einer Aussage, nämlich
des kapitalistischen Interesses. Rechte konterten, die Linken seien nichts als
willfährige Marionetten der Sowjets. Der Mensch als Sprachrohr, des Kapitals
bzw. des Kommunismus. So ging das munter hin und her. Heute setzt sich der
Bulverismus fort in den Auseinandersetzungen zwischen Populisten und
Anti-Populisten. Auf beiden Seiten wird der Andere erst einmal zum diskursunwürdigen
Gegenüber erklärt, um ihn dann Verachtung spüren zu lassen: die
Hochqualifizierten, die „Elite“ hier,
die Unterqualifizierten, der „Sack von Kläglichen“ dort. Als probate
Kommunikationsform fungieren Shitstorming, Bashing, Mobbing. Man diskutiert
nicht mit dem Gegner, man „entfreundet“ ihn.
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Das gängige Argument für die Abwertung des Sachlichen führt meist
an, dass die „Sache selbst“ im Grunde vekappte Interpretation, Meinung, Theorie
sei, also menschlich „kontaminiert“. In der Regel darf der Erz-Desillusionierer
Nietzsche als prominente Stütze dienen:„ (Die) Wahrheiten sind Illusionen, von
denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und
sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun
als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“
Wie kaum ein anderer hat der wohl einflussreichste Philosoph
der Postmoderne, Richard Rorty, seine ganze Denkschärfe in den Dienst der
Verbreitung dieses Bildes gestellt. Gerne verglich er die epistemologische Frage
„Glaubst du an die Wahrheit?“ mit der theologischen Frage „Glaubst du an
Gott?“. Und dieser Killervergleich traf genau ins Herz der neuzeitlichen Philosophie,
nämlich die Annahme, es gebe einen „Gottesgesichtspunkt“, von dem aus wir die
Welt erkennen, „wie sie ist“.
Aber dieser Gesichtspunkt ist illusionär, denn der
menschliche Blick erweist sich als immer schon überformt oder getrübt durch
Kultur, Gemeinschaft, Tradition. Es gibt kein neutrales Auge. Das klang in den
1980er Jahren wie ein Fanal der Befreiung, hatte sich doch – zumindest in der
westlichen Philosophie – die „absolutistische“ Doktrin etabliert, mit den
Naturwissenschaften eine beispiellose erkenntnistheoretische Suprematie
errungen zu haben. Physik, Mathematik, Chemie, Biologie galten als „neutrales
Auge“, das allein versteht, im Buch der Natur zu lesen. Dieses Bild war zur
Zeit Galileis ein geschickter rhetorischer Schachzug zur Durchsetzung der neuen
Naturphilosophie. Heute ist es reine Ideologie.
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Die Postmoderne bekämpfte sie erfolgreich. Aber die
Bekämpfung pervertierte selbst wieder zur Ideologie, zur Ideologie des
„Anything goes“. Sie lockt Bullshitter jeglicher Trübung aus ihren Nischen. Genau
hier entfaltet die postmoderne Nivellierung ihre wohl gefährlichste Konsequenz:
in der Tendenz zum zeitgeistigen Tribalisieren des Wissens und damit zum
Diskreditieren des wissenschaftlichen Expertentums. Fake Science schiesst ins
Kraut. Es gibt Tausende von einschlägigen Zeitschriften. Jeder kann sich jetzt als
Experte ausgeben. Der Flacherdler, der aus seinem intellektuellen Krähwinkel
die Kugelgestalt der Erde leugnet, stellt seine Theorie als „Alternative“ zur
Physik auf. Und so gehört es zu einer heutigen (Un-)Sitte, jeden Hafenkäse als
„Alternative“ zur „Orthodoxie“ anzupreisen, von Astrologie über Dianetik bis
zur Quantenheilung.
Viele dieser „Alternativen“ lassen sich schnell als Unsinn
entlarven, aber darum geht es nicht. Der Punkt ist, dass sie sich quasi „im
gleichen Spiel“ wähnen, weil ein oberster Schiedsrichter fehlt. Das ist besonders
zu einer Zeit potenziell fatal, da unsere hochtechnisierten, mit hyperkomplexen
Systemen durchsetzten Gesellschaften dringender denn je objektive Ergebisse und
Erkenntnisse aus den Wissenschaften benötigen. Wenn der Satz „There is no
alternative“ irgendwo seine Gültigkeit hat, dann hier.
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Eigentlich steht der Ursprung der neuzeitlichen Philosophie
unter dem Vorzeichen des Fakes. René Descartes’ „Meditationen“ sind ein Zeugnis
dafür. In zeitgenössischer Sprache könnte man sie in einem Satz verdichten:
Alles ist Fake News. Wie Descartes schreibt: „Alles nämlich, was ich bisher am
ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung
der Sinne. Nun aber bin ich dahintergekommen, dass diese uns bisweilen
täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die
uns auch nur einmal getäuscht haben.“ Man ersetze „Sinne“ durch „Medien“ und
man hat eine perfekte Beschreibung der aktuellen Lage vor sich.
Descartes nahm bekanntlich Gott als Garanten der Wahrheit in
Anspruch. Dieser entzündet im Menschen das „natürliche Licht“ der Vernunft, das
Instrument absoluter Erkenntnis. Aber Gott – die Wahrheit - hat einen
Konkurrenten, den „bösen Geist“ – man könnte sagen: den Obersten Bullshitter -
, der immer darauf aus ist, uns mit Fake einzudecken: „So will ich denn
annehmen, dass nicht der allgütige Gott die Quelle der Wahrheit, sondern
irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe allen
seinen Fleiss daran gewandt, mich zu täuschen; ich will glauben, Himmel, Luft,
Erde, Farben, Gestalten, Töne (..) seien nichts als das täuschende Spiel von
Träumen, durch die er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt.“
Ich gehe nicht so weit, den bösen Geist Descartes’ in den
neuen Medien zu lokalisieren. Aber die neuen Technologien können uns heute wie
ein allmächtiger, verschlagener Geist in elektronischen Träumen wiegen. Was bei
Descartes noch Meditation war, ist heute nahezu Realität. Man gibt jedoch mit
der Idee der absoluten Wahrheit nicht die Idee auf, dass ein Unterschied
existiert zwischen dem, was ist, und dem, was man sich zusammenphantasiert. Ist
„der menschliche Geist einmal im Auffinden der Wahrheit verzweifelt,“ schreibt
Descartes’ Zeitgenosse Francis Bacon, „ so wird er in allem schwächlich und man
wendet sich dann lieber unterhaltsamen Disputen zu.“ Die Gegnerin des Fakes ist
nicht die Wahrheit, sondern die Wachheit – deutlicher: die kämpferische Solidarität
aller Wachgebliebenen.