Die seltsame Wiederkunft des
Panpsychismus
Bis ins 19. Jahrhundert hinein, als die Naturwissenschaften
definitiv die Vorherrschaft im Welterklären erlangten, hielt sich die
Vorstellung, dass das Universum im Grunde regiert sei von einer kosmischen Akteurin
namens Weltseele. Sie durchdringt alles Existierende und sorgt für einen
Zusammenhang und Zusammenhalt von allem: die Welt ist ein beseelter
Makro-Organismus. Diese Idee trat zunehmend zurück vor der viel mächtigeren und
traktableren Idee der Welt als eines Makro-Mechanismus, oder heute: eines
Makro-Algorithmus.
Wir erleben gegenwärtig eine Wiederkunft der Weltseele. Die
Idee gewinnt in den Naturwissenschaften und vor allem in der Wissenschaftsphilosophie
an Diskussionswürdigkeit. Man spricht vom Panpsychismus oder Kosmopsychismus. Die
Gründe dafür liegen in der Entwicklung der Wissenschaft selbst. Und zwar sind
es zwei Brennpunkte, die das Interesse der einschlägigen Forscherkreise binden
und bündeln: Universum und Gehirn. Beide haben mit einem sogenannten „harten
Problem“ zu schaffen.
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Je mehr die moderne Kosmologie über das Universum
herausfindet, desto mehr gewinnt auch eine Frage an Kontur und Gewicht: Unser
Leben und unser Bewusstsein hängen von derart vielen fein abgestimmten Zufällen
in der Geschichte des Universums ab – könnte da „mehr“ als Zufall im Spiel
sein? Wäre etwa die starke Wechselwirkung nur etwas kleiner als ihr tatsächlicher
Wert, enthielte das Universum nur Wasserstoff. Würden die Massen des Elektrons
und der Quarks vom tatsächlichen nur wenig abweichen, wären die Bildung von
Atomen und dadurch jede chemische Komplexität physikalisch unmöglich, und so
weiter. Das Fresko dieser „Zufälligkeiten“ ist überwältigend.
Selbst
wenn man nun die Entwicklung der Urmaterie zur hochkomplexen Hirnmaterie einmal
als gegeben hinnimmt, stellt sich ein weiteres Problem: Wie erzeugt diese
Hirnmaterie unsere Wahrnehmungen, Schmerzen, Gedanken, Wünsche? Die
Neurowissenschaften verfügen zwar über immer ausgeklügeltere Modelle der
materiellen Gehirnprozesse, die sich während unserer bewussten Handlungen
abspielen, zum Beispiel die Theorie der integrierten Information von Giulio
Tononi. Die Erklärung des Auftauchens – der „Emergenz“ – von Bewusstsein aus
den Wechselwirkungen der Neuronen ist indes ein nicht eingelöster Anspruch. Die
Lücke klafft nach wie vor, die zu füllen die Neurowissenschaften bisher nicht
in der Lage waren.
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Könnte der herkömmliche wissenschaftliche Ansatz grundsätzlich
zu kurz greifen? - Diese kecke Frage stellt heute zum Beispiel der Philosoph Philip
Goff, und zwar gleich vollmundig: „Wir müssen unser Verständnis der Materie
radikal neu überdenken, um Bewusstsein zu erklären; ähnlich wie Einstein Raum
und Zeit radikal neu konzipierte.“
Ausgangspunkt des Panpsychismus ist ein angebliches
Erklärungsdefizit der Physik. Sie beschreibe „nur“ mathematisch die
„Aussenansicht“ der Materie, die Wechselwirkungen der Elementarteilchen, nicht
ihre „innere Natur“. Das zeugt nun freilich, höflich gesagt, nicht gerade von
einem grossen Verständnis der Physik. Zwar beschreibt die Quantentheorie Masse,
Ladung oder Spin tatsächlich nicht mehr wie die klassische Physik als der
Materie „anhaftende“ Eigenschaften, sondern als momentane und lokale Zustände
eines Feldes. Felder sind die „intrinsische“ Realität der Physik: ein Pool
virtueller Teilchen. Daraus erklären sich die Eigenschaften der Materie auf Mikroebene
und sie führen zum Verständnis von Eigenschaften der Materie auf Makroebene –
erfolgreich in zahlreichen Gebieten der Physik, Chemie, Biochemie und Biologie.
Und tatsächlich gibt es heute Versuche, Bewusstseinsphänomene als Quanteneffekte
zu deuten, zum Beispiel in der Theorie von Stuart Hameroff und Roger Penrose.
Sie ist alles andere als akzeptiert.
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Davon unterscheidet sich der panpsychistische Ansatz
radikal. Auf die Frage „Wie kommt der Geist in die Materie?“ wartet er mit der verwegenen
Antwort auf: Er kommt gar nicht hinein, er ist schon drin, als „innere Natur“
der Materie. Das klingt recht sehr nach einer Revolution. Nur ist die Antwort
ein Rohrkrepierer.
Goff schreibt der Materie eine „bewusstsein-involvierende“
Komponente zu. Was dies bedeutet, wird nicht erläutert, sondern quasi als ein
Grundpostulat dekretiert. Von dieser Komponente wissen wir einzig, dass sie in Gehirnen
Bewusstsein erzeugt. Wie sie dies tut, erklärt man natürlich nicht mit der
Eigenschaft „bewusstsein-involvierend“; ebenso wenig wie man die Nässe des
Wassers durch eine „nässe-involvierende“ Eigenschaft der Moleküle erklärt, oder
die Wirkung eines Schlafmittels durch die „schlaf-involvierende“ Eigenschaft
seiner Substanzen.
Für Goff gibt es allerdings kein Halten mehr. Er unterschiebt
dem Universum die Rolle eines Akteurs, der schon in der Urphase der
Planck-Epoche (in den ersten 10 hoch -43 Sekunden) dafür sorgte, dass alles
„richtig“ ablaufen würde. Goff schwingt sich in seiner kosmischen Akrobatik zu
atemberaubenden Höhen auf: „Wenn das Universum in der Planck-Epoche seine
Gesetze so fein justierte, dass in den nächsten künftigen Jahrmilliarden Leben
entstehen konnte, dann muss es in einem gewissen Sinn auch der Folgen seines
Agierens bewusst gewesen sein.“ Goff postuliert daher eine „Grunddisposition
des Universums“, welche die komplette potenzielle Nachfolgegeschichte bereits
in nuce repräsentiert. Anders gesagt: Die Geschichte des Universums muss schon in
einem „kosmischen Bewusstsein“ präsent gewesen sein. - Es gibt Geistiges in der
Welt, weil die Welt geistig angelegt ist. Und warum ist die Welt geistig
angelegt? Weil es Geistiges in der Welt gibt.
Goff rechnet allen Ernstes damit, dass seine schwachbrüstigen
Andeutungen über die innere Natur der Materie bald einmal den Status eines „alternativen“
Paradigmas erlangen würde, das Fragen erlaubt wie „Was ist das Bewusstsein
einer elektrischen Ladung?“ oder „Wie ist es, ein Elektron zu sein?“ Spätestens
hier stellt sich allerdings eine nicht so harte, aber seriösere Frage: Was ist
bei diesem Philosophen eigentlich grösser, die Ignoranz, Naivität oder Chuzpe?
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Dennoch ist der Panpsychismus ernstzunehmen, aus einem
anderen Grund: als Symptom eines Bedürfnisses nach metaphysischem Trost. Eine
Welt, die von einer Seele durchwirkt und durchweht wird, spendet vielen
Menschen ein existenzielles Grundvertrauen des Zuhauseseins. Kosmologie und
Neurobiologie liefern uns keine solchen Weltbilder. Sie werfen uns in das kalte
Bad eines Universums um die absolute Nulltemperatur herum - eines Universums,
das sich nicht um uns kümmert. Hier schaudert uns buchstäblich metaphysisch. Und
diesem Schauder begegnet der Mensch traditionellerweise mit dem Glauben.
Der Verdacht, beim Panpsychismus handle es sich um eine
verkappte Glaubensüberzeugung, erhärtet sich, wenn man einen anderen Paladin
des Panpsychismus, den Philosophen Godehard Brüntrup, vernimmt: „Wäre es nicht
faszinierend, wenn die einfachste und eleganteste Erklärung des Universums
gleichzeitig eine wäre, die mit dem Schöpfungsglauben harmoniert?“ – Ach woher!
Das ist höchstens für ein Denken faszinierend, das schon weiss, was es sich
beweisen will; dem es um Bekenntnis, nicht um Erkenntnis geht. Also gerade
nicht für die Wissenschaft. Wirklich irritierend ist, wie immer wieder Versuche
unternommen werden, theologische Konterbande in die Wissenschaft
einzuschleusen, unter dem Vorwand, einen fachlichen Disput zu führen. Man betreibt
hier nicht Physik, sondern Metaphysik, in wissenschaftlichen Jargon eingekleidet.
Genau dann, wenn sie den Anspruch einer „besseren“ Lösung für die harten wissenschaftlichen
Probleme erhebt, entlarvt sie sich als das, was sie ist: Fake Science. Und für
diese gilt immer noch das Urteil des Physikers Wolfgang Pauli: Sie ist nicht
einmal falsch!