Mittwoch, 15. Januar 2020





NZZ, 11.1.2020

Die moralische Rampensau


Das Reden über die Moral, so beginnt der Philosoph Kurt Baier sein Buch „Der Standpunkt der Moral“ (1958), sei oft „recht abstossend. Moralische Vorwürfe erheben, moralische Entrüstung zum Ausdruck bringen, moralische Urteile fällen, einen moralische Tadel aussprechen, sich selbst rechtfertigen und überhaupt und ganz besonders moralisieren – wer mag das gern hören?“

Nun, es gibt heute durchaus einen Schlag von Leuten, die das offenbar mögen. Wer kennt sie nicht, diese penetrant missionierenden Levitenleser oft privilegierter Herkunft, die uns mit ihrem zur Schau gestellten Gewissen vorrechnen, wieviel Tonnen Kohlendioxid wir täglich verpuffen oder wieviele unterbezahlte, unterdrückte unterernährte Kinder in eine Jeans „investiert“ würden. „Virtue signalers“ - „Tugendsignalisierer“ - nennt man sie neuerdings im Englischen. Die abschätzige Konnotation rührt davon her, dass am Signalisieren der Verdacht der Verlogenheit klebt. Man könnte von „Gretisieren“ sprechen.

Ich bezichtige Greta Thunberg nicht der Unlauterkeit. Aber eine gewisse Effekthascherei spielt in ihrem Engagement zweifellos mit. Ist das schlecht? Statuiert Greta mit ihrer Tugend-Performance nicht das Exempel eines erwachten ökologischen Bewusstseins, einer „wokeness“, wie das jetzt unter ethischen Hipstern heisst? Die Frage müssten wir alle in generalisierter Form an uns selbst richten: Tue ich etwas Gutes oder will ich den anderen zeigen, dass ich etwas Gutes tue? Gibt es überhaupt einen klaren Unterschied? Eine Frage, wie geschaffen für unser Zeitalter der Verstellung und Zurschaustellung. Die Philosophen Justin Tosi und Brandon Warmke sind ihr in einem höchst brisanten Essay nachgegangen, und sie haben das zeitgeistige Phänomen auf einen Begriff gebracht: moralisches Selbstdarstellen („moral grandstanding“). Es lässt sich an fünf augenfälligen Symptomen erkennen: dick auftragen, härtere Konsequenzen fordern, Anklagen fabrizieren, sich exzessiv empören, selbstgerecht urteilen.

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Wer dick aufträgt, bringt keine neuen Argumente oder Gesichtspunkte in eine moralische Debatte, sondern echot einfach die Argumente anderer. Man will vor allem als moralisch respektable Person auftreten und wahrgenommen werden. Ein sozialpsychologisches Phänomen: Gruppenmitglieder tragen umso dicker auf, je mehr sie das Gefühl haben, den anderen etwas – zum Beispiel eine „korrekte“ Haltung - „beweisen“ zu müssen. Ähnlich setzt das Konsequenzen-Verschärfen bei einem bereits bestehenden moralischen Urteil an. Angenommen, ein Manager habe sich unethischer Geschäfte schuldig gemacht. Das Urteil ist klar: Er ist nicht mehr tragbar. Nun schaltet der Selbstdarsteller quasi einen moralischen Gang höher: Ich bin einverstanden, aber wenn uns wirklich um die Unternehmensethik zu tun ist, dann bin ich für die öffentliche Ächtung dieser Person. Durch dieses Hochfahren des Urteils wird gleichzeitig auch die Respektabilität des Urteilenden hochgefahren. Das kann zu einem moralischen Wettrüsten führen.

Anklagen fabrizieren – im Englischen höchst bezeichnend „trump up“ genannt – macht aus einer moralischen Mücke einen moralischen Elefanten. Der Selbstdarsteller, typischerweise begierig, in strittigen Fragen seine ethische Profilschärfe zu demonstrieren, wird deshalb nicht zögern, auch auf relativ unumstrittenem Terrain die „moralische Sache“ hervorzuheben. Er signalisiert dadurch, dass sein moralischer Riechkolben auf all den Unrat der Welt empfindlicher reagiert als andere.

Mit dieser Empfindlichkeit korreliert die Empörungsbereitschaft. Empörung und Betroffenheit verbreiten sich wie moralischer Herpes. Es scheint, als liesse man sich von der Annahme leiten, moralische Integrität messe sich an der Stärke der Indigniertheit. Der emotionale Ausdruck ist zweifellos oft das wahrnehmbarste und stärkste Indiz für innere moralische Bewegtheit. Aber solche Bewegtheit hat nichts mit der Richtigkeit der moralischen Überzeugung zu tun. Nur der sicht- und hörbar Empörte oder Betroffene ist der „ethisch Kompetente“: das ist der Fehlschluss des Strassenmobs. - Übrigens erschöpft sich Empörung irgendwann.  

Wirklich problematisch ist der Monopolanspruch auf die Richtgkeit, die „Selbstevidenz“ des eigenen Standpunktes. Für die Begründung oder Verteidigung des eigenen Standpunkts sehen Selbstdarsteller oft keinen Bedarf. Ihre Sicht auf andere Gesichtspunkte ist ein einziger blinder Fleck. Wer ihren moralischen Standards nicht entspricht oder sie nicht akzeptiert, zeigt Begriffsstutzigkeit, ist nicht „woke“ genug, die Argumente zu verstehen. Was sich allerdings leicht verstehen lässt, ist die Tendenz zur Rechthaberei und damit zur Polarisierung, die sich in der selbstevidenten, selbstgerechten moralischen Monopolhaltung abzeichnet.

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Diese Symptome zeigen eines: Der moralische Selbstdarsteller lebt im sozialen Komparativ. Er will nicht nur gut, er will besser dastehen als andere. Und dieses Bedürfnis sieht sich besonders auf den Online-Bühnen gefördert. Man vernimmt hier ja ständig, was andere über einen denken, und diese Exposition lässt sich am besten dadurch aufrecht erhalten, dass man quasi zur moralischen Rampensau wird. Rousseau sprach 1755 in seiner berühmten Abhandlung über die Ungleichheit von der Mutation der natürlichen Selbstliebe (amour de soi), als notwendiger Grundlage genügsamer Selbsterhaltung, zur Selbstsucht (amour propre), die unersättlich ist und die Menschen einander zu Feinden macht.

Der moralische Impuls hat eine klar erkennbare Richtung: Weg vom Ego. Moralisches Selbstdarstellen verläuft antiparallel: Hin zum Ego. Trotzdem ist der Selbstdarsteller oft geschickt darin, den Eindruck zu erwecken, es ginge ihm primär um öffentliche Belange. Und er hat in einem perversen Sinn sogar recht. Denn öffentliche Belange sind für ihn das Medium der Selbstdarstellung. Zwischen Selbstinteresse und öffentlichem Interesse besteht kein Widerspruch. Die Öffentlichkeit, die Moral: das bin ICH.

Der wohl schädlichste Einfluss des moralischen Selbstdarstellens – hier dem Bullshit nah verwandt - dürfte darin liegen,  dass es sich zu einem Herd des Zynismus entwickeln kann. Ich komme noch einmal auf das Beispiel von Greta Thunberg zurück. Die aufkeimenden Zweifel an ihrer Performance sind symptomatisch für den kränkelnden moralischen Diskurs dieser Tage. Man vertraut dem ganzen Mummenschanz der Tugend, all diesen einstudierten Gebärden und Posen der Rechtschaffenheit und Me-Too-Betroffenheit, schlicht nicht mehr. Ja, Infiziert vom Verdacht des Selbstdarstellens nehmen wir auf einmal dieses Phänomen auch bei Leuten wahr, die es aufrichtig meinen. Der giftige Infekt hat das gesellschaftliche Bindegewebe befallen. 

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In uns steckt das tief verwurzelte Bedürfnis nach Anerkennung und diese Anerkennung holen wir uns immer auch durch das Selbstdarstellen. Die Rampensau lauert in uns allen. Es kann also nicht um eine pauschale Verurteilung dieser Verhaltensweise gehen. Wir stossen hier auf die uralte Frage nach dem Kern des tugendhaften Verhaltens, eine Frage, die wir nie eindeutig beantworten können. Aber um zu ermessen, wie weit es mit unserer Moral gekommen ist, muss man über zwei Jahrtausende zurücksetzen, zur Ethik von Aristoteles. Er unterschied zwischen Handlungen, die aus charakterlichen Gründen moralisch sind, und solchen, die bloss so erscheinen. „Handlungen im Bereich des Sittlichen (haben) nicht ohne weiteres den Charakter des Gerechten oder Besonnenen, wenn sie selbst einfach in charakterlicher Erscheinungsform auftreten, sondern es muss auch der handelnde Mensch selbst in ganz bestimmter Verfassung wirken.“

Ein einziges Wort beschreibt diese Verfassung: Selbstkritik. Meist schätzen wir uns moralisch zu hoch ein. Deshalb greifen wir ja in Debatten auch gerne zur Moralkeule. Wir wollen imponieren. Tugend signalisieren. Und genau darin liegt die Gefahr: Man unterzieht den eigenen Standpunkt gar nicht mehr der Prüfung. Wer Tugend als Instrument benützt –  als Maske, Prügel, Ego-Pusher - , hat sich von ihr verabschiedet.


Sonntag, 5. Januar 2020







NZZ, 3.1.2020


Quantentheorie des Tisches

Arthur Stanley Eddington, eine Eminenz der Astrophysik im 20. Jahrhundert, dachte nicht nur über Sterne nach, sondern auch über Tische. Vor über neunzig Jahren stellte er sich eine ganz banale Frage. Der Tisch ist ein gewöhnliches Stück Materie, eine stabile, solide, permanente Unterlage der Schreibtätigkeit. Tisch Nummer 1, nennt ihn Eddington. Daneben gibt es einen Tisch Nummer 2: „(Er) besteht zum grössten Teil aus Leere. Spärlich eingestreut in diese Leere sind zahlreiche elektrische Ladungen, die mit grosser Geschwindigkeit hin und her sausen; spärlich, denn ihr Gesamtvolumen beträgt weniger als den milliardstel Teil von dem Volumen des ganzen Tisches. Nichtsdestoweniger erweist sich sein seltsamer Aufbau als völlig funktionsfähiger Tisch.“ Wie bringen wir die beiden Sichten auf einen Nenner?

Heute stellen Quantenphysiker eine ähnliche Frage: Der Tisch ist ein Riesensystem aus Quanten­objekten; wie lässt er sich als klassisches Ding verstehen? Mit dieser Frage rutscht man unweigerlich in die kryptische Tiefe eines fundamentalen Problems.

Zunächst einmal deshalb, weil sich gesunder Menschenverstand und Quantenphysik schlecht vertragen. Das führte schon früh zu einer Art von Abkommen zwischen „normalem“ und physikalischem Denken, in der berühmten Kopenhagener Interpretation von Niels Bohr. Er insistierte, dass Ereignisse im Kleinen den Gesetzen der Quantentheorie unterworfen sind, wogegen die Beobachtung dieser Ereignisse mit Apparaten erfolgt, also der klassischen Physik gehorcht. Bohr hielt insbesondere eine Physik zwischen klassischen und Quantenobjekten für nicht formulierbar.

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Dieses Bohrsche Diktat erscheint vielen Physikern bis heute als ungereimt. Denn erstens ist die Quantentheorie die universelle Theorie der Materie; warum sollten also ihre Gesetze nicht auch für Tische gelten? Und zweitens zeigen sich Quanteneffekte zusehends auch auf „klassischer“ Stufe. Der Unterschied zwischen klassischer und Quantenwelt kann also nicht an der Grösse der Objekte liegen.

Woran dann? An zwei Säulenkonzepten der Quantentheorie: der Zufälligkeit physikalischer Ereignisse und der Interferenz von physikalischen Zuständen. Betrachten wir den Münzwurf. Es existieren zwei mögliche Zustände: Kopf oben (K) oder Zahl oben (Z). Angenommen, wir halten das Resultat nach dem Wurf verborgen. Wir beschreiben die Situation so: Die Münze befindet sich im Zustand K oder Z, nur wissen wir nicht, in welchem der beiden. Wir können höchstens sagen, die Wahrscheinlichkeit, sie in einem der Zustände vorzufinden, betrage im Idealfall ½. Das ist eine typische statistische Aussage aus der Ungewissheit heraus. Gewissheit besteht aber darüber, dass sich die Münze „in Wirklichkeit“ im Zustand K oder Z befindet, unabhängig von unserem Wissen.

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Die Quantentheorie liefert eine andere Interpretation. Um ein Teilchen – Photon, Elektron, Atom oder Molekül – zu beschreiben, brauchen wir die sogenannte Zustandsfunktion. Sie repräsentiert den Informationsstand über das Teilchen und seine beobachtbaren Eigenschaften. Wollten wir nun den Münzwurf quantenphysikalisch durchführen, benötigten wir so etwas wie „Quantenmünzen“. Tatsächlich gibt es sie, zum Beispiel in der Gestalt von Elektronen. Elektronen lassen sich anhand ihrer Eigendrehimpuls- oder Spinzustände unterscheiden, etwa „Spin up“ (U) und „Spin down“ (D). Statt zu würfeln, präparieren wir also mit einer geeigneten Vorrichtung den Elektronenspin nach dem Zufallsprinzip. Dem Münzenzustand K entspricht der Elektronenzustand U, dem Zustand Z der Zustand D.

Aber dieser Quantenzufall unterscheidet sich vom klassischen in einem mysteriösen Punkt. Nach dem Wurf befindet sich die Münze jeweils in einem eindeutigen Zustand K oder Z. Das Elektron  dagegen befindet sich nach dem „Wurf“ nicht in einem eindeutigen Zustand U oder D, vielmehr in einer Superposition seiner beiden möglichen Zustände: es weist zugleich einen Spin aufwärts und abwärts mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten auf. Die beiden Zustände interferieren wie Wellen – eine unumgängliche Konsequenz der Quantentheorie.

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Gut, das ist Theorie, könnte man sagen, aber lässt sich denn ein solcher Spukzustand des Elektrons experimentell nachweisen? Die Frage impliziert eine andere: Was heisst überhaupt experimenteller Nachweis? Man braucht dazu einen Beobachtungs- oder Messapparat. Klassisch gesehen registiert der Apparat einen Zustand des Elektrons. Quantentheoretisch beschreibt man das anders: Elektron- und Apparatezustand interferieren. Nach der Beobachtung befinden sie sich in einem einzigen Gesamtzustand, einer Superposition Elektron-plus-Apparat. Nun ist der Apparat in der Regel ein grosses Objekt, bestehend aus einer Riesenzahl von Teilchen. Das Elektron in seinem Spukzustand interagiert unvermeidlich mit einer wachsenden Untermenge dieser Teilchen. Charakterisierte der Spukzustand anfänglich noch das isolierte Elektron, verteilt er sich zunehmend auf die Umgebung. Wir können diesen Vorgang mit einer Wasserwelle vergleichen. Bei einer isolierten Welle ist der lokale Wellenberg gut sichtbar. Trifft sie auf andere Wellen, verschwindet dieser Berg ziemlich schnell: er verrauscht in der Umgebung. Gänz ähnlich verrauscht der Spukzustand des Elektrons in in der Apparateumgebung, oder wie man sagt: er dekohäriert. Der Quantenspuk verschwindet. Stattdessen beobachtet man ganz klassisch die Spin-Eigenschaft U oder D, aber nicht beide gleichzeitig.

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Der deutsche Physiker Heinz-Dieter Zeh schlug diese Dekohärenz-Interpretation bereits in den 1970er Jahren vor, stiess damit allerdings auf Unverständnis und Ablehnung. Seit gut zwei Jahrzehnten gelingt es nun aber den Physikern dank einer zunehmend ausgeklügelteren Technologie immer besser, Elektronen, Atome, Moleküle und sogar Makromoleküle wie Fulleren in Spukzuständen zu präparieren. Der Kniff dabei ist, dass man die Objekte unter „Quarantäne“ halten muss, um den Quanteneffekt hervortreten zu lassen. Diverse Versuche – etwa im Wiener Team des Physikers Anton Zeilinger - wiesen nach, dass diese Effekte in dem Masse verschwinden, in dem man eine Interaktion mit der Umgebung zuliess. Der französische Physiker Serge Haroche erhielt für seine Experimente zur Dekohärenz 2012 den Nobelpreis.

Anderen Physikern – wie etwa Wojciech Zurek -, genügt die Kohärenztheorie nicht. Denn die Quantentheorie sagt ja bloss, dass ein Elektron sich nach seiner Interaktion mit dem Messapparat in einer Superposition von vielen möglichen Elektron-plus-Apparat-Zustän­den befindet. Ein Experimentator registriert aber in der Regel einen einzigen aktuellen Zustand des Apparats, der ihn über den Zustand des Elektrons informiert. Zurek nennt ihn Zeigerzustand („Pointer“-Zustand). Der Spukzustand des Elektrons ist zum Beispiel kein solcher Zeigerzustand. Zurek postuliert nun, dass im Messvorgang eine Selektion aller möglichen Quantenzustände stattfindet, so, dass am Ende nur noch ein privilegierter Zustand übrig bleibt, der Zeigerzustand. Auf ihn verweist zum Beispiel der Experimentator, der sagt: Im Zähler klickt es, das zeigt das Auftreten eines Elektrons an. Quantentheoretisch heisst das: Da dekohäriert die Quantensuperposition Elektron-plus-Zähler zu einem Zeigerzustand. Wir haben es also mit einer Art von „Quanten-Darwinismus“ zu tun. Im Apparat überleben nur bestimmte „fitte“, sprich: klassische Zustände. Zurek bezeichnet dies als „Einselection“: „environment-induced-super­selection“ („umgebungsverursachte Superauswahl“).

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Spätestens jetzt verlangt es einen nach einer Atempause: In welche anaeroben Denkhöhen muss man sich versteigen, um ein Alltagsobjekt quantenphysikalisch zu verstehen? Eugene Wigner, einer der mathematischen Architekten der Quantentheorie, sprach vor sechzig Jahren von der „unverständlichen Effizienz der Mathematik in den Naturwissenschaften“. Man könnte in diesem Sinn auch von der unverständlichen Effizienz der Quantentheorie sprechen. An ihr ist ein erkenntnistheoretischer Streit entbrannt. Es gibt die Quantentheorie als effizientes Recheninstrument zur Prognose physikalischer Phänomene – und es gibt die Quantentheorie als philosophisches Instrument zur Interpretation der Welt. Viele Physiker rufen: Begnügen wir uns mit dem Rechnen, lasst das Interpretieren! David Mermin hat dies zum bekannten Wahlspruch gemacht: „Shut up and calculate!“ So leicht lässt sich allerdings das Fragen und Theoretisieren nicht verbieten. Mermins Schlagwort hat einen weniger bekannten Zusatz: „But I won’t shut up“. –

Und Eddingtons Tische? Heute, im Quanten-Zeitalter, müssen wir von drei Tischen sprechen. Tisch Nummer 1 und 2, und Quanten-Tisch Nummer 3. Die klassische Physik fragt: Wie ist ein Tisch aus unzähligen individuellen Teilchen aufgebaut? Die Quantenphysik fragt umgekehrt: Welche und wieviele Beschreibungsmöglichkeiten gibt es für einen Tisch aus unzähligen individuellen Quantenobjekten? Sie spricht von Tisch Nummer 3 als einem einzigen Gesamtzustand, einer monströsen Superposition aller möglichen Tische. Erst durch die Wechselwirkung mit der weiteren Umgebung dekohäriert Spuktisch Nummer 3 zum wirklichen Tisch Nummer 1. Das reale Möbel, an dem ich dies hier und jetzt schreibe, ist also im Grunde das dekohärente Resultat der quantendarwinistischen Auslese einer riesigen theoretischen Möbelkollektion durch den Rest der Welt ...

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Alles klar?  Formulieren wir die Antwort so: Dekohärenz und Quantendarwinismus liefern eine weitere Interpretation der Quantenphysik. Sie tritt als neue Stimme dem Konzert der Interpretationen bei. Jede Einzelstimme trägt eine mehr oder weniger plausible Melodie vor, aber gemeinsam ertönt eine dirigentenlose Kakophonie. Jede Interpretation macht die Quantentheorie ein wenig mysteriöser – einige sagen auch: spinnerter. Und darin liegt eine tiefe Ironie des Tischs. Ich bin im Grunde nicht das, was du meinst, ich sei es, sagt er uns, aber für Spekulationen über Quantenspuk diene ich nach wie vor gerne als solide Schreibgrundlage.

NZZ, 9.4.24 Sokrates und der ChatGPT Schreiben in der postliterarischen Welt Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, er...