Demokratie
ist recht besehen ein überaus erstaunliches Phänomen, schon fast ein Wunder. Es
erinnert an das, was man in der Komplexitätsforschung Emergenz nennt. In meinem
Hirn sind Millionen von Neuronen aktiviert und tanzen nach einer
undurchschaubaren Choreografie, und – bing – „emergiert“ daraus mein Zorn über
einen bestimmten Politiker. Millionen von Stimmbürgern entscheiden sich
individuell für eine politische Sache, oft aus undurchsichtigen und eigennützigen
Gründen, meist auch, ohne ausreichend über die Sache informiert zu sein, und –
bing – aus der Kakophonie der Einzelstimmen „emergiert“ die Vox populi. Und was
wirklich verblüfft: Oft resultiert ein recht vernünftiger Kollektiventscheid,
wie xenophob, sexistisch, rassistisch, wutgetrieben oder schlicht dumm der
individuelle Entscheid auch sein mag. Wie kann das so vertrackte und
schwerfällige Gebilde Demokratie „vernünftig“ sein? Politiker nehmen dies gern
zum Anlass, vom „weisen Volkswillen“ zu schwadronieren. Unter Ökonomen ist auch die
„Schwarmintelligenz“ ziemlich in.
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Aber das ist
bestenfalls Metaphorik, schlimmstenfalls populistische Metaphysik. Sie erzeugt nur
den Schein einer Erklärung. Tatsächlich stellen Sozial- und
Politikwissenschafter heute vermehrt die Frage, ob denn die Demokratie das passende
politische System zur Lösung der akuten Probleme bereithalte. Und zwar setzt
die Frage direkt beim Bürger an: Gibt es den wohlüberlegenden, wohlinformierten
- den rationalen Wähler? Und wenn nicht, ist dann eine demokratische Wahl oder
Abstimmung wirklich etwas anderes als ein mehr oder minder gut beratenes
Multiple Choice? Und Hand aufs Herz: Wer hat nicht schon auf diese Weise gewählt?
Es gibt ja
durchaus spektakuläre Gegenbeispiele zur „Weisheit“ des Volkswillens, etwa den
Brexit-Entscheid oder die Wahl des neuen Präsidenten der USA. Sie scheinen die
These des Ökonomen
Bryan Caplan zu bestätigen: Der „rationale Wähler“ ist ein Mythos (Bryan
Caplan: The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Policies,
2007). Gewiss ist es ein stolzes Recht, seinen Stimmzettel in die Urne zu
werfen. Aber mit diesem Recht kontrastiert die Macht des Durschnittswählers,
den Gang der Dinge zu beeinflussen. Und die erweist sich auch in einer
Demokratie als gering. Und gerade aufgrund der extrem
kleinen Chance sehen nicht wenige Wähler in der Stimmabgabe vor allem die Gelegenheit,
ihrer Ohnmacht und Frustration Ausdruck zu verleihen. Die Ohnmacht des
Wut-Wählers ist der ideale Brennstoff für den Machtwillen des politischen Hitz-
und Hetzkopfs.
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Wenn es den
„rationalen Wähler“ nicht gibt, dann gibt es zumindest den „rationalen Lenker“.
Zumindest ist das die Meinung des politischen Philosophen Jason Brennan, der gerade
ein Buch mit dem sprechenden Titel „Against Democracy“ publiziert hat. Das Brexit-Referendum
war „undemokratisch“, so Brennan, weil es den Bürger mit seinem Wissensstand –
mehrheitlich - überforderte. Brennan sieht hier allgemein ein Defizit von
Demokratien: Sie setzen eine nicht existente Kompetenz beim Durchschnittsbürger
voraus. Und mit dieser These befindet er sich in langer Tradition, die zurückreicht
bis zu Platons „Staat“. Der Durchschnittsathener, so Platon, ist träge,
lasterhaft, zerstreut. Der demokratische Bürger lässt sich in seiner Freiheit
von so vielen Einflüssen treiben, dass seine politische Stimme eigentlich eine
Zufallsstimme ist. Platon zeichnet geradezu eine Psychopathologie der
demokratischen Freiheit, in welcher der Bürger in seiner Orientierungslosigkeit
und Verwöhntheit zwangsläufig „reif“ wird für die Tyrannis. Die Lösung sieht
Platon in einer Herrschaft der wissenden Elite – damals der Philosophen - : in
einer Epistokratie. Und eine solche epistokratische Therapie verschreibt Brennan
den heutigen Demokratien.
Wir kennen
schon lange den Ruf nach Politikmanagern, welche die akuten Probleme effizient lösen.
Aber dahinter steckt natürlich die nun selbst äusserst fragwürdige Annahme,
dass mehr Wissen auch automatisch mehr politische Autorität und Kompetenz verleihe.
Die Idee, das Geschick einer Gesellschaft einer Elite zu überantworten, die
„weiss“, was gut ist, und nur das Beste für uns will, führt geradewegs in eine
Despotie der Wohlmeinenden. „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten
einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine
Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann
machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." – (Der Spiegel, 27. Dezember 1999). Aber
schon Immanuel Kant meinte, eine Regierung, die ihr Volk so behandelt wie ein
Vater seine unmündigen Kinder, die nicht wüssten, was für sie nützlich oder
schädlich sei, wäre „der größte denkbare Despotismus” (Über den Gemeinspruch).
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Zentral
in einer digitalisierten Demokratie ist die Informationsbeschaffung. Von ihren
Techniken hängt die Meinungsbildung wesentlich ab. Aber die politische
Entscheidungsfindung hinkt dem Kurs und Tempo des technischen Fortschritts
hinterher. Im gegenwärtigen Big-Data-Boom beginnt auch die Wissenschaft den
politischen Entscheidungsprozess zunehmend als Informationsverarbeitung zu
konzipieren. Die Differenz der politischen Systeme erscheint in dieser Optik als
Differenz der Sammel- und Analyseprozeduren von Daten. Diktaturen favorisieren
zentralisierte Prozeduren, Demokratien verteilte. Der Historiker Yuval Noah
Harari vertritt in seinem neuen Buch „Homo deus“ (2016) die These, der Kalte Krieg sei vom
Kapitalismus gerade deshalb gewonnen worden, weil dieser den Technologien der
verteilten Informationsverarbeitung zum Durchbruch verholfen habe. Das erscheint
dick aufgetragen, aber richtig daran ist immerhin so viel, dass man den Vorgang
der Demokratisierung einer Gesellschaft durchaus als Schritt in Richtung der
Informatonsverteilung charakterisieren könnte.
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Genau
in diesem Schritt steckt allerdings eine Tücke der Demokratisierung. Wieviel
Verteilung der Information verträgt sie? Die Frage erhält im Kontext der Social
Media einen geradezu dramatischen Unterton. Information wird ja nicht bloss
verteilt, sie wird ausgegossen in einer nie dagewesenen Flut, in der wir uns
kaum noch zu orientieren vermögen. Gerade die amerikanischen
Präsidentschaftswahlen haben uns demonstriert, wie das Netz überspült wird von viralem
Bullshit. Es gibt eine regelrechte Industrie von „hoax news“, also von Jux- und
Falschnachrichten. Wie unterscheiden wir zwischen wahren und falschen News? Wir
unterscheiden nicht. Wir filtern. Wir tendieren im Netzdiskurs dazu,
Nachrichtenströme durch den Passevite unsere Voreingenommenheiten zu drehen.
Und nichts verbreitet sich im Netz so effizient wie Geschichten, welche die
eigene Voreingenommenheit bestätigen. Übrig bleibt, was wir „immer schon wussten“,
will sagen: eigentlich nicht wissen oder wissen wollen.
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Ist
das ein Argument gegen die Demokratie? Im Gegenteil, ein Appell, Demokratie,
ja, Politik neu zu denken. Demokratieverdruss ist Verdruss über eine politische
Realität, die eigentlich nicht mehr viel mit der Res publica zu tun hat; in der
suprastaatliche Akteure wie Globalkonzerne, Banken, Investoren, Rating-Agenturen
immer mehr partikulare Handlungs- und Entscheidungsmacht an sich reissen und
Regierungen nicht selten zu Erfüllungsgehilfen degradieren. „Postdemokratie“
nannte der englische Soziologe Colin Crouch dieses Szenario schon vor über zehn
Jahren.
Immer
mehr Bürger demokratischer Staaten nehmen ein elementares Defizit wahr: sie wählen
Vertreter, welche ihre Interessen nicht vertreten. Der Schluss daraus ist einfach:
Wir vertreten uns selber! – Das muss nicht die Abschaffung der Institutionen
der repräsentativen Demokratie bedeuten, vielmehr ein Aufbrechen ihrer Selbstverständlichkeiten.
Dazu gehört zum Beispiel der „blinde Glaube auf den Urnengang“. Die
Formulierung stammt aus dem kürzlich erschienenen Buch des belgischen
Schriftstellers David Van Reybroeck „Gegen Wahlen“ (2016). Seine Idee: Erweiterung
des herkömmlichen repräsentativen Systems zu einem „birepräsentativen“, in dem
die Bürgerinitiative und ähnliche „Bottom-up“-Bewegungen ein stärkeres Gewicht
in den politischen Entscheidungsprozessen erhielten.
Neu
ist diese Idee ja nicht – auch nicht unumstritten. Denn damit lässt sich das Gebräu
im populistischen Giftkessel famos am Köcheln halten. Aber den Kerngedanken
darin sollten wir ernst nehmen: Demokratie braucht den Glauben an die lokale
Wirkung, weniger abstrakt: an Das-Leben-in-die-eigene-Hand-nehmen. In einer
Zeit globaler Unübersichtlichkeit will man sehen, was die eigene Entscheidung
bewirkt, und das geschieht im Kreis von Bekannten, Nachbarn, Quartierbewohnern,
in der urbanen Umgebung, kurz: im Lokalen. Eignung für Demokratie ist das eine,
Lust an der Demokratie das andere. Und diese wächst auf dem Boden der lokalen
„Polis“.
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Das
hat nichts mit dem Volk zu tun. „Das“ Volk gibt es nicht, es gibt Menschen und Menschengruppen,
einheimische und fremde, gebildete und weniger gebildete, junge und alte, intergrierte
und marginalisierte – Menschen, die ihre bestimmten Interessen vertreten und im
friedlichen Widerstreit eines heterogenen Miteinanders leben. Ein Ideal,
zugegeben. Aber diesem Ideal nachzuleben, gehört zur Essenz der Demokratie. Demokratie
ist eine Fiktion, die wir zu realisieren suchen, sagt der Philosoph Charles Taylor.
Vom „Volk“ oder gar von „Volksnähe“ zu reden ist dagegen unbekömmliche
Metaphysik, die mit der Demokratie nur Schindluder treibt.