Mittwoch, 10. Mai 2017

Besser scheitern

NZZ, 28.4.2017






Eine alternative Theorie des Erkenntnisfortschritts

„Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern,“ schreibt Samuel Beckett. Und er trifft damit genau das Wesen des wissenschaftlichen Fortschritts.
Das klingt im Konzert heutiger ruhmrediger Forschungserfolge zunächst einmal völlig dissonant. Projekte trumpfen – nicht selten schon im voraus – mit nie dagewesenen Resultaten, mit Durchbrüchen und Einsichten auf, die ihre Dividenden in neuen Technologien abwerfen und die Menschheit in der - branchenüblichen - nächsten Dekade auf eine neue Entwicklungsstufe heben würden. Oft ist das nicht mehr als Leimausstreichen für Investoren und Politiker. Wissenschaft ist heute oft noch kaum von Wissenschafts-Marketing zu unterscheiden. Umso mehr wäre an eine ihrer Grundtugenden zu erinnern.
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Das Englische kennt den Ausdruck „No-show“: ein erwarteter Flugpassagier, Patient oder Partygast taucht nicht auf. In der Wissenschaft gibt es ebenfalls „No-shows“ in Experimenten. Der erwartete Effekt tritt nicht ein. Die wissenschaftliche Erwartung drückt sich ja in Prognosen aus. Theorien sagen Phänomene voraus, und wenn sich diese Phänomene beobachten lassen, gilt dies in der Regel als ein Erfolg der Theorie, als ein „Ja“ der Natur. Aber viel öfter zeigt sich der erwartete Effekt nicht. Das ist kein Grund zur Resignation. Im Gegenteil.
In einem wissenschaftlichen Experiment schneiden wir ein Stück aus der Welt heraus, das uns besonderen Aufschluss über die Welt geben soll. Das Experiment beruht auf Isolation, auf der grösstmöglichen Ausschaltung von Dreckeffekten oder Störungen. Tatsächlich aber gelingt dies immer nur unvollkommen: die Welt ist alles, was der Störfall ist. In diesem Sinne, könnte man sagen, gehört das Scheitern apriori zum Experiment. Aber es gibt produktives Scheitern. Hier zwei Beispiele, eines aus der Biologie und eines aus der Physik.

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Die sogenannten G-Proteine sind eine Familie von Enzymen, das heisst von biochemischen Vehikeln der Informationsübermittlung zwischen Zellen. Lange wusste man nicht, wie sie aktiviert werden. Bis Alfred G. Gilman und sein Team in den 1990er Jahren entdeckten, dass ein anorganisches Molekül, nämlich Aluminiumfluorid, die Enzymkatalyse bewirkt. Und zwar fiel dies als „Dreckeffekt“ auf: Das Laborgeschirr, mit dem die Experimente durchgeführt wurden, enthielt minime „unreine“ Spuren von Aluminiumfluorid, welches das Protein aktivieren konnte. Der „Dreck“ auf dem Glas entpuppte sich auf einmal als wichtiges „Datum“. Die Entdeckung erhielt den Nobelpreis. Die „Verunreinigung“ Aluminiumfluorid wurde im Jahre 1997 sogar zum „Molekül des Jahres“ gekürt.

Auf ähnliche Weise reissen Störungen plötzlich einen neuen, buchstäblich kosmischen Horizont auf. Arno Penzias und Robert Wilson, zwei Astrophysiker, bauten in den 1960er Jahren in den Bell Laboratories ein supersensibles Teleskop, um schwache Radiosignale aus entfernten Regionen unserer Milchstrasse zu empfangen. Die Apparatur lieferte aber unerwartete, nicht zu beseitigende Störgeräusche. Penzias und Wilson suchten zunächst lokale Ursachen, unter anderem nahes Stadtrauschen New Yorks, atmosphärische Störungen, „weisses dielektrisches Material“ auf der Aussenhülle des Teleskops: vulgo Taubendreck. Aber alle Erklärungsversuche scheiterten. Nach einem Jahr frustrierenden Grübelns stiessen sie durch einen Glücksfall auf die Hypothese des Princeton-Physikers Robert Dicke, wonach exakt ein solches störendes Rauschen als Reststrahlung des Big Bang zu erwarten sei. Die Störung wurde zu einer der wichtigsten Bestätigungen der kosmologischen Urknalltheorie. Auch Penzias und Wilson erhielten den Nobelpreis.

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Es klingt paradox: Wissenschaft ist erfolgreich, weil sie scheitern kann. Und das erweist sich gerade heute, im „Post-Truth“-Zeitalter, als von unerwarteter Bedeutung. In nicht wenigen Ohren klingt „nach der Wahrheit“ so, als hätten wir die wissenschaftliche Moderne hinter uns gelassen. Aber Wissenschaft ist nie moderner gewesen als heute, weil Wahrheit nie der Grund für ihren enormen Erfolg war. Eine wissenschaftliche Theorie erweist sich normalerweise über kurz oder lang als falsch oder zumindest als revidierbar; umgekehrt lassen sich mit unbefriedigenden Theorien durchaus Erklärungserfolge erzielen. Das Standardmodell der Elementarteilchen gilt bei vielen Physikern als ein solcher theoretischer Behelf. Als das Higgsteilchen entdeckt wurde, welches das Standardmodell vervollständigte, gab es Physiker, die ihre Enttäuschung nicht verhehlten, weil diese „Bastelei“ von wirklich neuen Problemen ablenken würde.

Wahrheit im Sinne unumstösslicher Gewissheit ist ein Hindernis im Forschungsprozess, sie gehört eigentlich gar nicht dahin. Insbesondere sind „letzte“ Theorien buchstäblich das Letzte, was die Wissenschaft braucht. Sie strebt nicht nach Wahrheit in diesem Sinn, sondern nach erfolgreichem, nach besserem Scheitern. Echte wissenschaftliche Ideen sind falsch auf heuristische Weise: sie führen von falsch zu weniger falsch. Das vernichtendste Urteil Wolfgang Paulis über eine Idee lautete: Sie ist nicht einmal falsch. Im Übrigen die treffendste Charakterisierung des Bullshits. Eine Bullshit-Idee kann nicht scheitern. Was wiederum ihre Beliebtheit unter Dummköpfen erklären dürfte.

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In diesen Zusammenhang gehört auch die Revision eines gängigen Bildes des Wissenschafters. Gewöhnlich sehen wir in ihm jemanden, der Probleme löst. Entscheidender am Fortgang der Forschung ist aber das Schaffen von nichttrivialen, unerwarteten, weiterführenden Problemen, das Entdecken von Rätseln. Man sagt von Newton, er habe mit dem Gravitationsgesetz eines der fundamentalen Probleme des Universums gelöst. Das ist aber nur die eine Hälfte der Geschichte. Er betrat damit auch ein neues Terrain des Unwissens: Was ist das für eine seltsame Kraft, die alle Körper im Universum über ungeheure Distanzen hinweg zusammenhält? Die Physikergenerationen nach Newton scheiterten mit ihren Antwortversuchen, bis Einstein auf einen verblüffenden Gedanken kam: Die Kraft ist nicht etwas im Raum zwischen den Körpern, sie ist die von den Körpermassen erzeugte Raumzeit-Geometrie selbst. Diese Theorie beantwortet die Frage nach der Fernwirkung, stellt nun aber heute die Physiker vor das fundamentale Problem, die Physik der Raumzeit mit der Physik der Quanten zu vereinen. Man könnte sagen: Einstein verbesserte das Scheitern Newtons. Wie es weitergeht, weiss niemand. Wir wissen nicht, was wir nicht wissen.

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Wir kennen Standardfloskeln im Stil von „Wie ein Forscherteam herausgefunden hat, tragen menstruierende Frauen vorzugsweise die Farbe Rot“. Häufig handelt es sich um Quark in wissenschaftlicher Verpackung. Aber dahinter verbirgt sich ein ernsthaftes Problem, das auch mit dem Scheitern zu tun hat. Die empirische Forschung kennt einen besonderen Typus von negativen Resultaten: falsche Positive. Man liest aus der Korrelation von Daten einen Zusammenhang heraus, der nicht real, sondern zufällig ist -  Fake-Entdeckungen.
Die Statistik kennt seit 70 Jahren den Signifikanztest. Er beruht auf der Berechnung eines Werts, der angibt, welchen Zufallsanteil – also falsche Positive – eine Datenanalyse aufweist. Er sollte – gemäss Standard - nicht mehr als 5 Prozent betragen. Tatsächlich lässt sich aber relativ einfach zeigen, dass man bei signifikanten Resultaten mit einer viel höheren Zufallsrate als 5 Prozent rechnen muss, die Wahrscheinlichkeit einer Fake-Entdeckung also viel höher liegt. Nichtsdestoweniger gilt der Signifikanzwert - besonders in der psychologischen und pharmakologischen Forschung - als Goldstandard eines erfolgreichen Experiments. Wie Kritiker schon seit zwei Jahrzehnten monieren, hat dies zu einem Anwachsen von Fake-Entdeckungen geführt. Man spricht auch von einer Replikationskrise – also im Grunde von einer Krise der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit.
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Die Idee des besseren Scheiterns könnte vor allem im heutigen Klima des fiebrigen Publish-or-Perish temperierend wirken. Bekanntlich publiziert ein Wissenschafter, der einen Job erhalten und vor allem auch seinen Job behalten will, auf Teufel komm raus. Das hat, wie der britische Biostatistiker David Colquhoun unlängst kritisch bemerkte, zu einer „Sklavenkultur geführt, in der Armeen von Postdoc-Assistenten dazu angehalten werden, immer mehr Papers für den Ruhm ihres Chefs und ihrer Universität zu produzieren, so dass sie nicht mehr Zeit für die elementaren Dinge ihres Geschäfts finden.“ Und dazu gehört das Scheitern.

Es gibt keine Schule des Scheiterns, aber man kann ein Ethos des Scheiterns fördern. In seinem berühmten Vortrag am Caltech rief Richard Feynman den Studenten zu: „Don’t fool yourself!“. Zum Narren kann sich eine Forschung machen, die keine Zeit zum Scheitern hat.






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