NZZ, 28.4.2017
Eine alternative Theorie des Erkenntnisfortschritts
„Immer versucht. Immer
gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern,“
schreibt Samuel Beckett. Und er trifft damit genau das Wesen des wissenschaftlichen
Fortschritts.
Das klingt im Konzert heutiger
ruhmrediger Forschungserfolge zunächst einmal völlig dissonant. Projekte
trumpfen – nicht selten schon im voraus – mit nie dagewesenen Resultaten, mit
Durchbrüchen und Einsichten auf, die ihre Dividenden in neuen Technologien
abwerfen und die Menschheit in der - branchenüblichen - nächsten Dekade auf
eine neue Entwicklungsstufe heben würden. Oft ist das nicht mehr als
Leimausstreichen für Investoren und Politiker. Wissenschaft ist heute oft noch
kaum von Wissenschafts-Marketing zu unterscheiden. Umso mehr wäre an eine ihrer
Grundtugenden zu erinnern.
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Das Englische kennt den Ausdruck
„No-show“: ein erwarteter Flugpassagier, Patient oder Partygast taucht nicht
auf. In der Wissenschaft gibt es ebenfalls „No-shows“ in Experimenten. Der
erwartete Effekt tritt nicht ein. Die wissenschaftliche Erwartung drückt sich
ja in Prognosen aus. Theorien sagen Phänomene voraus, und wenn sich diese
Phänomene beobachten lassen, gilt dies in der Regel als ein Erfolg der Theorie,
als ein „Ja“ der Natur. Aber viel öfter zeigt sich der erwartete Effekt nicht.
Das ist kein Grund zur Resignation. Im Gegenteil.
In
einem wissenschaftlichen Experiment schneiden wir ein Stück aus der Welt
heraus, das uns besonderen Aufschluss über die Welt geben soll. Das Experiment beruht
auf Isolation, auf der grösstmöglichen Ausschaltung von Dreckeffekten oder
Störungen. Tatsächlich aber gelingt dies immer nur unvollkommen: die Welt ist
alles, was der Störfall ist. In diesem Sinne, könnte man sagen, gehört das
Scheitern apriori zum Experiment. Aber es gibt produktives Scheitern. Hier zwei
Beispiele, eines aus der Biologie und eines aus der Physik.
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Die
sogenannten G-Proteine sind eine Familie von Enzymen, das heisst von
biochemischen Vehikeln der Informationsübermittlung zwischen Zellen. Lange
wusste man nicht, wie sie aktiviert werden. Bis Alfred G. Gilman und sein Team
in den 1990er Jahren entdeckten, dass ein anorganisches Molekül, nämlich
Aluminiumfluorid, die Enzymkatalyse bewirkt. Und zwar fiel dies als „Dreckeffekt“
auf: Das Laborgeschirr, mit dem die Experimente durchgeführt wurden, enthielt
minime „unreine“ Spuren von Aluminiumfluorid, welches das Protein aktivieren
konnte. Der „Dreck“ auf dem Glas entpuppte sich auf einmal als wichtiges „Datum“.
Die Entdeckung erhielt den Nobelpreis. Die „Verunreinigung“ Aluminiumfluorid
wurde im Jahre 1997 sogar zum „Molekül des Jahres“ gekürt.
Auf
ähnliche Weise reissen Störungen plötzlich einen neuen, buchstäblich kosmischen
Horizont auf. Arno Penzias und Robert Wilson, zwei Astrophysiker, bauten in den
1960er Jahren in den Bell Laboratories ein supersensibles Teleskop, um schwache
Radiosignale aus entfernten Regionen unserer Milchstrasse zu empfangen. Die
Apparatur lieferte aber unerwartete, nicht zu beseitigende Störgeräusche. Penzias
und Wilson suchten zunächst lokale Ursachen, unter anderem nahes Stadtrauschen
New Yorks, atmosphärische Störungen, „weisses dielektrisches Material“ auf der
Aussenhülle des Teleskops: vulgo Taubendreck. Aber alle Erklärungsversuche
scheiterten. Nach einem Jahr frustrierenden Grübelns stiessen sie durch einen
Glücksfall auf die Hypothese des Princeton-Physikers Robert Dicke, wonach exakt
ein solches störendes Rauschen als Reststrahlung des Big Bang zu erwarten sei.
Die Störung wurde zu einer der wichtigsten Bestätigungen der kosmologischen
Urknalltheorie. Auch Penzias und Wilson erhielten den Nobelpreis.
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Es
klingt paradox: Wissenschaft ist erfolgreich, weil sie scheitern kann. Und das
erweist sich gerade heute, im „Post-Truth“-Zeitalter, als von unerwarteter
Bedeutung. In nicht wenigen Ohren klingt „nach der Wahrheit“ so, als hätten wir
die wissenschaftliche Moderne hinter uns gelassen. Aber Wissenschaft ist nie
moderner gewesen als heute, weil Wahrheit nie der Grund für ihren enormen
Erfolg war. Eine wissenschaftliche Theorie erweist sich normalerweise über kurz
oder lang als falsch oder zumindest als revidierbar; umgekehrt lassen sich mit
unbefriedigenden Theorien durchaus Erklärungserfolge erzielen. Das
Standardmodell der Elementarteilchen gilt bei vielen Physikern als ein solcher theoretischer
Behelf. Als das Higgsteilchen entdeckt wurde, welches das Standardmodell
vervollständigte, gab es Physiker, die ihre Enttäuschung nicht verhehlten, weil
diese „Bastelei“ von wirklich neuen Problemen ablenken würde.
Wahrheit
im Sinne unumstösslicher Gewissheit ist ein Hindernis im Forschungsprozess, sie
gehört eigentlich gar nicht dahin. Insbesondere sind „letzte“ Theorien buchstäblich
das Letzte, was die Wissenschaft braucht. Sie strebt nicht nach Wahrheit in
diesem Sinn, sondern nach erfolgreichem, nach besserem Scheitern. Echte
wissenschaftliche Ideen sind falsch auf heuristische Weise: sie führen von
falsch zu weniger falsch. Das vernichtendste Urteil Wolfgang Paulis über eine
Idee lautete: Sie ist nicht einmal falsch. Im Übrigen die treffendste
Charakterisierung des Bullshits. Eine Bullshit-Idee kann nicht scheitern. Was
wiederum ihre Beliebtheit unter Dummköpfen erklären dürfte.
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In diesen Zusammenhang gehört auch die Revision eines
gängigen Bildes des Wissenschafters. Gewöhnlich sehen wir in ihm jemanden, der
Probleme löst. Entscheidender am Fortgang der Forschung ist aber das Schaffen
von nichttrivialen, unerwarteten, weiterführenden Problemen, das Entdecken von
Rätseln. Man sagt von Newton, er habe mit dem Gravitationsgesetz eines der fundamentalen
Probleme des Universums gelöst. Das ist aber nur die eine Hälfte der
Geschichte. Er betrat damit auch ein neues Terrain des Unwissens: Was ist das
für eine seltsame Kraft, die alle Körper im Universum über ungeheure Distanzen
hinweg zusammenhält? Die Physikergenerationen nach Newton scheiterten mit ihren
Antwortversuchen, bis Einstein auf einen verblüffenden Gedanken kam: Die Kraft ist
nicht etwas im Raum zwischen den Körpern, sie ist die von den Körpermassen
erzeugte Raumzeit-Geometrie selbst. Diese Theorie beantwortet die Frage nach
der Fernwirkung, stellt nun aber heute die Physiker vor das fundamentale
Problem, die Physik der Raumzeit mit der Physik der Quanten zu vereinen. Man
könnte sagen: Einstein verbesserte das Scheitern Newtons. Wie es weitergeht,
weiss niemand. Wir wissen nicht, was wir nicht wissen.
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Wir kennen Standardfloskeln im Stil von „Wie ein
Forscherteam herausgefunden hat, tragen menstruierende Frauen vorzugsweise die
Farbe Rot“. Häufig handelt es sich um Quark in wissenschaftlicher Verpackung.
Aber dahinter verbirgt sich ein ernsthaftes Problem, das auch mit dem Scheitern
zu tun hat. Die empirische Forschung kennt einen besonderen Typus von negativen
Resultaten: falsche Positive. Man liest aus der Korrelation von Daten einen
Zusammenhang heraus, der nicht real, sondern zufällig ist - Fake-Entdeckungen.
Die Statistik kennt seit 70 Jahren den
Signifikanztest. Er beruht auf der Berechnung eines Werts, der angibt, welchen
Zufallsanteil – also falsche Positive – eine Datenanalyse aufweist. Er sollte –
gemäss Standard - nicht mehr als 5 Prozent betragen. Tatsächlich lässt sich aber
relativ einfach zeigen, dass man bei signifikanten Resultaten mit einer viel
höheren Zufallsrate als 5 Prozent rechnen muss, die Wahrscheinlichkeit einer
Fake-Entdeckung also viel höher liegt. Nichtsdestoweniger gilt der
Signifikanzwert - besonders in der psychologischen und pharmakologischen
Forschung - als Goldstandard eines erfolgreichen Experiments. Wie Kritiker
schon seit zwei Jahrzehnten monieren, hat dies zu einem Anwachsen von
Fake-Entdeckungen geführt. Man spricht auch von einer Replikationskrise – also
im Grunde von einer Krise der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit.
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Die Idee des besseren Scheiterns könnte vor allem im heutigen
Klima des fiebrigen Publish-or-Perish temperierend wirken. Bekanntlich
publiziert ein Wissenschafter, der einen Job erhalten und vor allem auch seinen
Job behalten will, auf Teufel komm raus. Das hat, wie der britische Biostatistiker
David Colquhoun unlängst kritisch bemerkte, zu einer „Sklavenkultur geführt, in
der Armeen von Postdoc-Assistenten dazu angehalten werden, immer mehr Papers
für den Ruhm ihres Chefs und ihrer Universität zu produzieren, so dass sie
nicht mehr Zeit für die elementaren Dinge ihres Geschäfts finden.“ Und dazu
gehört das Scheitern.
Es gibt keine Schule des Scheiterns, aber man kann ein Ethos
des Scheiterns fördern. In seinem berühmten Vortrag am Caltech rief Richard
Feynman den Studenten zu: „Don’t fool yourself!“. Zum Narren kann sich eine Forschung
machen, die keine Zeit zum Scheitern hat.