Freitag, 18. Mai 2012

Samstag, 5. Mai 2012

Reisen als Geistesstörung



Was neue Arten für Biologen, sind neue Krankheiten für Mediziner. In beiden liegt der Reiz, ihre Entdecker durch Namensnennung zu verewigen. Im Jahre 1886 erblickte der junge Arzt Philippe Tissié eine solche Gelegenheit beim Fall eines gewissen Jean-Albert Dadas, über den er eine Dissertation schrieb: „Les Aliénés voyageurs“, also zu Deutsch: „Geistesgestörte Reisende“.  Dadas, Angestellter einer Gasgesellschaft in Bordeaux, hatte erstaunliche Fussreisen durch Europa unternommen. Sie führten ihn über Prag, Berlin, Posen nach Moskau, wo er in Verdacht geriet, einem anarchistischen Zirkel anzugehören  (Zar Alexander II. war gerade ermordet worden), schliesslich endeten sie unter abenteuerlichen Umständen in Konstantinopel. Weil Dadas auf seinen Eskapaden oft von Amnesie befallen war, musste Tissié seine „geistesgestörte“ Reise mithilfe von Hypnose rekonstruieren.
Dadas war ein „Dromomaniak“, ein zum Wandern und Reisen Getriebener (ähnlich wie Forrest Gump im gleichnamigen Film, der aus Liebeskummer durch ganz Amerika joggte, an der Spitze eines mithechelnden Trosses von Aficionados). Mit seinem „geistesgestörten Reisenden“ erregte Tissié die Aufmerksamkeit der Psychiater in ganz Europa. Der grosse Neurosenmediziner Charcot wartete bald mit einem eigenen Fall von „Fugue“ oder „Dromomanie“ auf, wie das Syndrom genannte wurde. Auch deutsche und italienische Ärzte beobachteten plötzlich Anfälle von „Wandertrieb“ bzw. „determinismo ambulatorio“. Charcot vermutete in der Störung einen lang anhaltenden Epilepsieanfall. Die Diskussion um Dromomanie war freilich nach zwanzig Jahren abgeklungen, Spötter würden wohl sagen, dass es sich hier um jenen Typus von Gebresten handelt, die nur existieren, weil es einen Namen für sie gibt.
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Wie auch immer, das Thema reizt: Reisen als Krankheit, als „Störung“, als Sucht? Die wiederkehrenden Last-Minute-Anfälle europäischer Normalbürger, ihren Wohn- und Arbeitsort fluchtartig zu verlassen, um sich in Kenia auf Safari zu begeben, in Korallenriffs auf den Seychellen zu tauchen, asiatische Tempelruinen zu bestaunen – kippt unsere Hypermobilität allmählich um in Dromomanie?

Das Motiv der (vergeblichen) Flucht ist schon lange bekannt. Es wurde von Hans Magnus Enzensberger in seinem mittlerweile klassischen Essay „Theorie des Tourismus“ vor über fünfzig Jahren beschrieben. Und im Grunde hat sich seither kaum viel geändert. Im Gegenteil: Der Tourismus ist als jene globale Tretmühle konsolidiert, der zu entfliehen er uns verspricht. Aber er treibt nicht Handel mit der Flucht, sondern mit dem Versprechen. Und dessen Nichteinlösung ist sein Motor. Der Tourist weiss das insgeheim, wie der Süchtige in der Regel von seiner Sucht weiss. Enzensberger: „Die Trostlosigkeit ist dem Touristen vertraut. Blind greift er nach den heftigsten Mitteln, um die Langeweile zu verscheuchen, obwohl er doch im Grunde von der Vergeblichkeit seiner Flucht weiss, noch ehe er sie unternimmt.“

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Früher bewegte man sich, um Fremdes kennen zu lernen, heute holt man es sich per Mausklick heran. Kompensieren wir diese Immobilitat durch dromomanisches Herumreisen, wie der Texaner Jack Vroom, der sich für eine halbe Million Dollar ein lebenslang gültiges Ticket bei der American Airlines gekauft hat und seither herumfliegt, ohne jemals wirklich irgendwo anzukommen? Braucht die Tourismus-Maschine, pointiert gefragt, den überreizten, d.h. im Grunde unbefriedigten, gelangweilten Konsumenten als universelles Schmiermittel? Denn wie der Konsum einer beliebigen Ware soll ja auch der Konsum einer Reise Bedürfnisse gerade nicht befriedigen oder nur soweit befrie­digen, dass neue Bedürfnisse genährt werden. Zum Tourismus gehört die Rückkehr nach Hause. Die Reise ist eben eine „Tour“, und vor allem: ein Zugewinn an Bedeutung  dieses Zuhauses - sei es auch nur, dass man es mit Beutestücken in Form von Souvenirs oder Dias ausschmückt. Aber wenn der Tourist auf Touren gehalten, die Tretmühle durch Abhängigmachen in Gang gehalten wird, gibt es in diesem Sinn keine Rückkehr mehr, nur das Immer-weiter-so. Das Fernweh wird zum Wirtschaftsfaktor par excellence. Die heutige „durchgedrehte“ Reiseindustrie gibt eine tiefe Unbehaustheit des Menschen zu erkennen. Das Weg-von-hier-wollen kommt nirgendwo mehr an, weder dort noch hier, weder im Fernen noch im Zuhause. Es läuft leer. Und gerade eine solche innere Haltlosigkeit ist ein anderer Name für Sucht.

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Ich hüte mich, dem modernen Tourismus pauschal Suchtcharakter zu unterstellen. Dennoch scheint mir Langeweile darin eine wesentliche Rolle zu spielen. Sie resultiert aus der Vorhersehbarkeit, dem Immergleichen des eigenen Lebens. Langeweile und Dromomanie sind insgeheim verwandt. Der Maler Dino, die Erzählfigur in Alberto Moravias berühmtem Roman „La Noia“ (Die Langeweile), beschreibt seinen schwachen Vater als Opfer chronischer Langeweile, der unter einem Ehekoller litt und deshalb von seiner Frau Geld auslieh, um sich auf Reisen zu flüchten. Ein Dromomaniak? Dromomanie kann einen vielleicht gerade dann am heftigsten befallen, wenn der Bewegungsraum sehr eingeschränkt ist. Zum Beispiel im Gefängnis. Albert Speer, der Nazi-Architekt, plante in seiner Zelle akribisch Reisen um die halbe Welt. Er schritt im Innenhof des Gefängnisses Berlin-Spandau die Strecke von Berlin nach Heidelberg ab, als Willensübung gegen Langeweile, wie er das nannte. Speers Dromomanie wuchs ins Extravagante. Er entwarf minutiös aus Reiseführern, Enzyklopädien und Karten imaginäre Reisen nach Asien, über Sibirien nach Nordamerika, bis nach Guadalajara in Mexiko. Er berechnete jeden zurückgelegten Kilometer. Aber selbst das vertrieb seine Langeweile nicht. „Die Monotonie kann kaum in meinen Notizen wiedergegeben werden,“ schrieb Speer, „die immerwährende Gleichheit von mehr als sechstausend Tagen ist unbeschreibbar.“

Auf Reisen suchen wir Abstand vom „Gefängnis“ unseres Alltags und oft manövrieren wir uns ironischerweise gerade durch die zähe Verbissenenheit der Suche – wie beim Treten im Sumpf -  tiefer in diesen Alltag hinein. Unsere Gewohnheiten sind die treuesten – und lästigsten - Reisebegleiter. Besonders heute, wo diese Gewohnheiten zunehmend durch mobile Gadgets bestimmt werden. Man schaut sich in Angkor Wat nicht die Tempelruinen an, sondern die Bilder von Angkor Wat auf dem iPhone. Reiseunternehmer bieten inzwischen Kreuzfahrten für Workaholics an, die auf dem Schiff ihrer Arbeitswut die Zügel schiessen lassen können. Vielleicht setzte der Tourismus früher die Normen des Gewöhnlichen ausser Kraft, heute zementiert er sie.

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Das ist kein kulturpessimistischer Befund. Der Tourismus hat zwar das Reisen von Grund auf verändert, nun kommt es darauf an, ihn neu zu interpretieren. Wie? Heinrich Heine, einer der ersten und sensibelsten Tourismuskritiker, hat einen bedenkenswerten Ansatz vorgelegt. In seiner „Harzreise“ schreibt er: „.. unser Le­ben in der Kindheit (ist) so un­endlich bedeutend, in jener Zeit ist uns alles gleich wichtig, wir hören alles, wir sehen alles, bei allen Eindrücken ist Gleichmässigkeit statt dass wir späterhin absichtli­cher wer­den (..), das klare Gold der An­schauung für das Pa­piergeld der Reiseprospekte mühsam einwechseln..“

Ich habe Heines Text leicht abgeändert, „Reiseprospekt“ für „Bücherdefinition“ eingesetzt. Bedeutung und Brisanz bleiben erhalten. Denn die Suche nach dem „klaren Gold der Anschauung“ ist die Suche nach dem verlorenen Blick, welcher uns Orte und Dinge nicht in vorfabrizierten Wahrnehmungsmustern, sondern in ihrer Andersheit, in ihrer Neuheit und Unverbrauchtheit, in ihrem „paradiesischen“ Zustand zeigt. Natürlich gibt es diesen Zustand nach dem „Sündenfall“ des modernen Tourismus nicht mehr. Aber vielleicht können wir uns ihm auf andere Art nähern, dadurch nämlich, dass wir uns ersatzweise des touristischen Blicks entwöhnen, jede Person auf ihre Weise. Ich tue das zum Beispiel, indem ich mir auf Reisen stets die kleine Übung auferlege, einmal auch etwas vom „Sehensunwürdigen“ der Gegend zu sehen, wo ich mich aufhalte: unscheinbare Winkel einer Stadt, öde suburbane Siedlungen, Industriebrachen, Sperrgebiete, Niemandsland – „Nicht-Orte“, hat sie der französische Soziologe Marc Augé genannt. Wo es nichts zu sehen gibt, lernt man wieder sehen, mit eigenen Augen.

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Das althochdeutsche Wort „risen“ bedeutet „sich erheben“, „steigen“ (freilich auch „(nieder)fallen, stürzen“; d.h. Reisen ist nicht nur ein Weg-und-Zurück, sondern immer auch ein Auf-und-Ab). So gesehen, müsste Reisen als Sich-erheben aus Alltäglichem, Gewohntem, Angehocktem verstanden werden; auch als Entfremden, nicht zuletzt von sich selbst. Das wohl kostbarste Souvenir, das wir von einer Reise zurückbringen, ist das Stückchen Fremdheit, das uns einen andern Blick auf die Welt und uns selbst ermöglicht; die Einsicht, dass alles anders sein könnte, als es ist. Eigentlich brauchen wir dazu keine Ferne und Exotik. Reisen in diesem Sinn kann ich von einer Tramendstation zu andern.

„Panama ist überall“, schrieb der Kinderbuchautor Janosch – eine wunderbare Losung. Wenn mir die Kindlichkeit gelingt, Panama überall zu sehen, gewinnt die Welt wieder etwas von ihrem fremden, widerständigen, unverbrauchten Charakter zurück, der uns durch Gewohnheit, Trägheit und sagen wir es deutlich: auch durch Reisen abhanden zu kommen droht.

Kurz:  Wer reisen kann, kann dies auch ohne zu reisen.



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