Montag, 29. Mai 2023

 





NZZ, 20.5.2023

Nonhuman Life Matters

Die grösste Gefährdung den Planeten beginnt im Kopf


Wir leben im Zeitalter des Anthropozäns. Der anthropos gestaltet angeblich mit Naturgewalt das planetarische Ökogefüge um, er zähmt die Roh-Natur und macht sie sich dienlich. Dabei strengt er sich an, seine Verfügungsmacht über andere Spezies durch ein evolutionäres Alleinstellungsmerkmal zu legitimieren. Aber sind wir wirklich eine Ausnahme-Spezies?


Im Tier treffen sich zwei fundamentale Fragen, eine ethische und eine erkenntnistheoretische. Erstens: Was rechtfertigt unsere Verfügungsmacht über andere Arten? Diese Problematik ist in der Tierethik seit Peter Singers Arbeiten über den Speziesismus allbekannt, viel und kontrovers diskutiert. Sie hängt entscheidend ab von der zweiten Frage: Was wissen wir eigentlich über die anderen Arten? 


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Recht wenig. Nehmen wir eine Tierart im aktuellen Fokus: Die Biene. Karl von Frisch, ein Pionier der Ethologie, bezeichnete das Bienenverhalten einmal als «magische Quelle»: Je mehr man ihr entnimmt, desto mehr gibt es zu entdecken. Und so verhält es sich wohl allgemein bei den Tieren: sie übersteigen eine vollständige wissenschaftliche Erklärung – sie sind biologische Transzendenzen. Einer der renommiertesten heutigen Verhaltensforscher - Frans de Waal -, fragte im Titel eines seiner Bücher denn auch geradewegs: «Are We Smart Enough To Know How Smart Animals Are?» ( 2016).


Die Frage widerspricht vordergründig den eindrücklichen Fortschritten der Verhaltensforschung in den letzten fünfzig bis sechzig Jahren. De Waals Buch und das jüngst erschienene des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Ed Yong – «Die erstaunlichen Sinne der Tiere» - bezeugen,  welches Füllhorn an Entdeckungen uns die gegenwärtige Ethologie bereithält. Dabei gewinnt ein Bild immer deutlicher an Kontur: Das Tier ist kein blosser organischer «Zombie», ohne Innenleben. Seine kognitiven Vermögen sind oft atemberaubend. Und so muss man de Waals Frage nach der «Smartheit» von uns Menschen deuten: Sind unsere Forschungsmethoden dem ganzen Spektrum artspezifischer Vermögen überhaupt angepasst? 


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Mit dieser Frage stechen wir in ein altes Problemnest der Ethologie. In ihrer Frühzeit, am Ende des 19. Jahrhunderts, hiess sie «Tierpsychologie». Man attestierte also dem Tier eine «Seele», und nicht selten stellte man seine innere Verfassung auf die gleiche Stufe wie jene von Kindern, Primitiven und geistig Gestörten. Oft erwiesen sich allerdings die vermeintlichen kognitiven Fähigkeiten der Tiere als Projektionen der Forscher. Den wissenschaftlichen Hardlinern unter den Zoologen roch eine solche Art von Tierforschung zu sehr nach unwissenschaftlicher, unobjektiver Vermenschlichung des Tiers, nach «Just-so-Zoologie». Sie zogen sich deshalb ins sichere Gehege der experimentellen Verhaltensforschung zurück. Über die «Seele» des Tiers liess sich in ihren Augen nichts wissenschaftlich Verlässliches aus¬sagen, also wurde sie Anathema. Zoologen, die  - wie etwa  Adolf Portmann - von der «Innerlichkeit» des Tieres sprachen, nahm man nicht ernst. Das waren halt Philosophen.


Gibt es wirklich keinen Zugang zum Innern des Tiers? Wir alle kennen den Mitmenschen durch sein Verhalten, die Art, wie er wohnt, isst, sich kleidet, mit den Leuten umgeht: wir kennen seine Umwelt. Es war die geniale Idee des Zoologen Jakob von Uexküll vor über hundert Jahren, sich dem Tier auf diese Weise zu nähern. Genauer fragte Uexküll: Was ist die Umwelt des Tiers? Und durch das penible Studium seiner Umwelt finden wir uns immer mehr in das Tier. Was eine Umwelt hat, ist Subjekt seines Verhaltens – also ist alles Subjekt, von der Mikrobe über die  Zecke bis zum Philosophen.


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Die Reichweite von Uexkülls Idee – einer Art von «kopernikanischer Revolution» im Denken über das Tier - erschliesst sich uns eigentlich erst heute, und sie entfaltet ihre Heuristik umso mehr, als den Ethologen ein ungleich potenteres Instrumentarium zur Verfügung steht, in der Gestalt von Kognitionstheorie, evolutionärer Neurobiologie und ausgeklügelten Experimentiermethoden. Die moderne Verhaltensforschung hat sich zu einer faszinierenden Disziplin entwickelt, um das Zentrum des Tiersubjekts mit seinem nicht-menschlichen, artspezifischen Mentalleben herum. Deshalb spricht man heute auch von kognitiver Ethologie. 


Und trotzdem bleibt das Problem der Anthropozentrik. Es erscheint unlösbar – weil der Mensch sich nicht von der menschlichen Perspektive lösen kann. Aber nimmt denn nicht jede Art die Welt artzentrisch wahr? Der Schimpanse schimpansozentrisch, die Ratte rattozentrisch, die Amöbe amöbozentrisch? Das ist die falsche Frage. Tiere kennen das Problem gar nicht. Der Anthropozentrismus ist gerade kein «natürliches» Faktum, sondern eben – menschengemacht. Und der Mensch hat die Fähigkeit – hier stolpern wir über ein mögliches Alleinstellungsmerkmal - , sich zumindest von gewissen Zentrismen zu lösen: er ist ein «exzentrisches» Lebewesen, als das ihn der Philosoph Helmut Plessner charakterisierte. Kopernikus stiess uns aus dem Zentrum des Universums,  Darwin  aus dem Zentrum der Evolution, Freud aus dem Zentrum des Ich-Bewussteins. 


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Heute steht eine weitere Dezentrierung an. Die neue Verhaltensforschung zeigt, dass andere Spezies ebenfalls Anlagen zum «Geistigen» aufweisen: Emotion, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Werkzeug¬gebrauch, Imagination, Sozialität, Humor, Altruismus, Todesahnung ... eine fortgesetzte «Enttäuschung» humaner Einzigartigkeit, dieser chronischen Obsession. Natürlich kann und soll man über das spezifisch Humane an solchen Merkmalen debattieren – speziell darüber, was menschliche Kultur und Sprache dazu beitragen - , aber ob wir daraus je ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal gewinnen können, bleibt fraglich. 


Gewiss, Schimpansen schreiben keine Sonette, und Wale komponieren keine Sonaten. Sollten sie das? Die Fähigkeiten, die wir bei anderen Spezies untersuchen, sind ja vom Menschen her definiert. Aber kennen wir Menschen denn all die Subtilitäten etwa der Kommunikation unter Schimpansen und Walen? Wie will man herausfinden, was andere Spezies können, wenn man davon ausgeht, was sie nicht können? De Waals Sarkasmus ist berechtigt, wenn er von einer Forschung spricht, «die sich mehr an kognitiven Defiziten anderer Spezies begeistert als an ihren Fähigkeiten.» 


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Die Anmassung, eine Ausnahme-Spezies auf dem Planeten zu sein, ist eine philosophische. Sie begann in der Neuzeit damit, dass René Descartes Tiere zu organischen Apparaten - «ausgedehnten Sachen» - erklärte, über denen der Mensch steht, weil er eine «denkende Sache» ist. 


Nun ist es gerade die Idee der Verfügungsmacht, die Lebendes zu Apparaten werden lässt. Sie konkretisiert sich darin, dass wir nach Schätzungen pro Jahr 100 Milliarden «apparatisierte» Lebewesen für Nahrung, Kleidung, Forschung und andere Zwecke töten. Sie manifestiert sich im sechsten planetarischen Massensterben. Sie manifestiert sich in der Gentechnologie. Diese hat die Schwelle zu einer zweiten Evolution bereits überschritten, in der man Tiere für bestimmte menschliche Zwecke massschneidert. Die Fauna der Zukunft wird immer mehr natürlich-künstlich sein. Inklusive Mensch. 


Die amerikanische Philosophin Donna Haraway mahnte uns schon in den 1990er Jahren an, unsere Spezies-Arroganz zu hinterfragen.  Der Anthropozentrismus hat uns in eine gefährlich entfremdete Position abgerückt. Wir sind eigentlich Aliens auf dem Planeten. Wir betrachten Natur, als ob wir nicht dazu gehörten, als befänden wir uns in einer Blase. Diese Blase nennt sich «technische Zivilisation». Darin liegt eine abgrundtiefe Ironie. Denn der Mensch ist nicht der einzige Planetengestalter. Vor über Jahrmilliarden taten dies bereits die kleinsten Lebewesen, die Mikroben. Und der Mensch verschafft ihnen gerade durch den Klimawandel die günstigsten Lebensbedingungen. Vielleicht könnten sie dereinst die Blase zum Platzen bringen und den Planeten – ohne Legitimationsprobleme - wieder für sich allein haben. Im Bakteriozän? 



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