Mittwoch, 18. Mai 2022








NZZaS, 15.5.2022


Wie wir lernten, mit der Bombe zu spielen 

Physik, Mathematik und Logik sind wunderbare Instrumente der Rationalität. Sie schufen auch die Grundlagen des modernen Kriegs: Nuklearwaffen, Computer, Spieltheorie. Alle drei Aspekte finden sich personifiziert in einem der brillantesten Geister des 20. Jahrhunderts, John von Neumann. Der Mathematiker leistete Pionierarbeit in der Nuklearphysik, in den Computerwissenschaften und in der Theorie politischer Konflikte. Und er war eine Inspirationsquelle für die Figur Dr. Strangelove im Kinofilm von Stanley Kubrik. 


Für John von Neumann waren alle Probleme rational lösbar, am besten durch Berechnung. Im «Manhattan Project» entwarf er zum Beispiel einen ingeniösen Bombenmechanismus zur Spaltung von Plutonium – der Mechanismus sollte dann Nagasaki dem Erdboden gleich machen. Neumann, ein rabiater Antikommunist, war Verfechter eines präemptiven Nuklearschlags gegen die Sowjetunion. 1955 schrieb er in seinem Aufsatz «Verteidigung in einem Atomkrieg»: «Es genügt nicht, zu wissen, dass der Feind nur fünfzig mögliche Tricks hat und man auf sie alle antworten kann. Man muss auch ein System erfinden, das fähig ist, gleichzeitig auf alle zu antworten (..) Die Frage ist nicht, ob die Sowjets losschlagen, sondern wann.» Als einer der ersten empfahl von Neumann interkontinentale Raketen mit nuklearen Gefechtsköpfen, und er prägte den Begriff der gegenseitigen Abschreckung, später bekannt als «mutual assured destruction» (MAD):  Gleichgewicht des Schreckens.


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Der Begriff des Gleichgewichts stammt aus der mathematischen Spieltheorie. Diese Theorie modelliert Konkurrenz- oder Kooperationsverhalten mathematisch anhand möglicher Strategien, die Spielern zur Verfügung stehen. Wenn ich nicht weiss, was der Gegner plant, liste ich alle seine möglichen Entscheide auf und überlege mir, wie ich mich in jedem einzelnen Fall optimal verhalten würde. Das kann unter Umständen eine sehr mühsame Aufgabe sein, aber mit leistungsfähigen Rechnern ist sie durchaus lösbar. Eine dieser Lösungen besteht darin, dass die Spieler eine Strategie finden, von der abzuweichen sich keinesfalls lohnt, was auch immer der Gegner tut. Ein solches Gleichgewicht nennt man nach seinem Entdecker – dem «Beautiful Mind» John Nash – Nash-Gleichgewicht. 


Die kalte Logik im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion war geprägt von diesem Gleichgewichtsdenken. Die Strategie beider Supermächte lautete: nukleares Aufrüsten. Keine Partei hat Gründe, davon abzuweichen. Keine Partei hat aber auch Gründe, loszuschlagen, denn dies würde nur einen fatalen Zweitschlag hervorrufen. 


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Der Gedanke ist alles andere als behaglich, in einer Welt zu leben, deren friedliche Existenz auf der Möglichkeit ihrer Vernichtung beruht. Und doch erfahren wir gerade jetzt brutal, wie dünn und verletzlich die Schicht des Friedens auf unserem Planeten ist. Nebenbei bemerkt, steht Putin mit seiner «schlimmstmöglichen Konsequenz» in der Tradition einer bekannten Drohrhetorik, wie sie etwa auch die Sowjetunion und die USA in der Kubakrise verwendeten. Der entscheiden-de Unterschied:  MAD sollte den Krieg verhindern, Putin dagegen droht in einem von ihm entfachten Krieg. 


Einer weitverbreiteten Meinung nach verdanken wir dem nuklearen «Gleichgewicht» das Aus-bleiben von globalen Konflikten seit 1945 – was geradezu als «nukleare Revolution» betrachtet wird. Aber die beiden Sicherheitsexperten Keir A. Lieber und Daryl G. Press sehen darin einen «Mythos». Zwar sei ein Dritter Weltkrieg seit 1945 ausgeblieben, schreiben sie in ihrem Buch «The Myth of Nuclear Revolution», unter dem Schutzdach der nuklearen Abschreckung würden aber die geopolitischen Konflikte weiter schwelen. Nicht Kooperation sei die Devise, sondern konkurrierendes Gewinnstreben nach globaler Macht, Verbündeten, Territorien, militärischer Superiorität. Was zu immer fragileren Pattsituationen führe.


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Nun operiert spieltheoretische Rationalität im luftleeren Raum einer Modellsituation. Und das Modell ist bekanntlich nicht die Wirklichkeit. Bestimmte spieltheoretische Überlegungen liefern schon im Modell nicht zwingend die beste Lösung, sondern verstricken uns in Dilemmata. Ein Lehrbuchbeispiel ist das sogenannte Gefangegendilemma. Zwei Straftäter sitzen isoliert in Untersuchungshaft. Der Staatsanwalt schlägt ihnen einen Deal – ein «Spiel» - vor. Gestehen beide nicht, erhalten sie 3 Jahre Gefängnis; gestehen beide, 8 Jahre; gesteht nur der eine, der andere nicht, dann erhält der erste 1 Jahr, der andere 10 Jahre, und umgekehrt (die Zahlen sind hier nicht von Belang). Was lohnt sich? Es gibt in der Beantwortung der Frage zwei Perspektiven. Von aussen gesehen, wäre Kooperieren, also Nicht-Gestehen, die optimale Strategie für beide. Aber sie misstrauen einander. Sie wollen sichergehen und wählen aus ihrer Perspektive deshalb das suboptimale «Nash-Gleichgewicht»: Gestehen. Viele Konfliktsituationen, zivile und militärische, las-sen sich nach der Struktur dieses Dilemmas zwischen Kooperation und Konkurrenz modellieren. 

 

Wie gesagt, handelt es sich hier um eine idealisierte Situation. Die Spieltheoretiker reichern sie fortwährend mit realistischeren Elementen an. Zum Beispiel mit «Brinkmanship», dem Spiel am Rand des Abgrunds der Eskalation. Thomas Schelling, einer der amerikanischen Chefstrategen im Kalten Krieg, hat es bündig so beschrieben: «Brinkmanship bedeutet die Manipulation des geteilten Risikos in einem Krieg; die Ausnutzung der Gefahr, dass jemand unbeabsichtigt über den Rand treten und den anderen mitreissen könnte. Wenn zwei Kletterer zusammengebunden sind, und wenn einer den anderen einzuschüchtern versucht, indem er vortäuscht, hinunterzufallen, dann muss ein Moment der Ungewissheit oder der unvorhergesehenen Irrationalität im Spiel sein, damit es funktioniert.» 


Genau dies tut jetzt der Zündler im Kreml. Immer wieder wurde in den Medien darüber spekuliert, ob er übergeschnappt sei. Dabei treibt er Brinkmanship. Und hier spielen nicht nur Waffen, sondern immer auch Worte eine gewichtige Rolle. Das Infame am Einsatz der Worte ist, dass man nicht erkennen kann, ob sie eine Absicht anzeigen oder vortäuschen – ob man also glaubwürdig droht. Putin droht nicht direkt, er spielt mit verdeckten Karten, er sagt nicht, wo für ihn der Rand des Abgrunds liegt. Das entscheidet er insgeheim. Was natürlich die Prognose- und Handlungsoptionen des Westens einschränkt.  


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Hinzu kommt heute eine weitere Dimension. Nicht nur menschliche Unbedachtheit spielt vermehrt eine Rolle. Als besonders beunruhigend, gerade im Kontext globaler Vernetztheit und der Automatisierung vieler Transaktionen, erweist sich der «Shit-happens-Faktor»: der Zufall, die Möglichkeit eines unvorhergesehenen Fehlers im System. Man fragt sich unweigerlich, weshalb wir in der ganzen nuklear überfrachteten Weltlage bisher von einem Atomkrieg verschont geblieben sind. Seit der Kubakrise waren wir bereits ein paar Male erschreckend nahe dran. Zum Bei-spiel 1983. Stanislaw Petrow, Satellitenüberwacher im sowjetischen Nachrichtendienst, empfing 1983 über das Frühwarnsystem die Nachricht, dass sich amerikanische Interkontinentalraketen näherten. Er stufte dies zum Glück als Fehlalarm des neuen Computers ein und konnte seine kämpferischer eingestellten Vorgesetzten beruhigen. 


Die Beziehung zwischen den USA und der Sowjetunion war damals auf einen Punkt eingefroren, der eine solche Aktion als erwartbar erscheinen liess. Der Alarm hätte also zu keinem falscheren Zeitpunkt kommen können. (Definitiv kalt läuft es einem über den Rücken, wenn man an die berüchtigte «Tote Hand» denkt, ein russisches Führungssystem für Nuklearwaffen. Im Fall, dass ein Erstschlag die Entscheidungsträger eines Landes eliminierte, würde das Waffensystem automatisch den Zweitschlag ausführen. Die apokalyptische Maschine - «doomsday machine» - soll im nuklearen Arsenal immer noch auf Pikett sein).


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Vordergründig irrationales Verhalten kann oft eine spieltheoretische Rationalität verbergen. Aber umgekehrt gilt auch: Die Rationalität der Spiellogik kann mörderisch sein – selbstmörderisch. Und dann bedeutet mehr Rationalität, dass der Mensch «irrational» handelt, sprich: nicht spiellogisch, sondern mit gesundem Menschenverstand. Der russische U-Boot-Offizier Wassili Archipow war ein solcher Regelbrecher. Er verweigerte in einer kritischen Phase der Kubakrise das Abschiessen eines nuklear bestückten Torpedos auf amerikanische Zerstörer. Und er verhinderte dadurch nach Ansicht vieler Historiker einen nuklearen Holocaust. Ob das stimmt, sei dahingestellt, jedenfalls sind jetzt angesichts von verbrecherischen Hasardspielern à la Putin und seinen Mitkläffern Spielverderber gefragt wie Petrow und Archipow. Möglichst viele. 


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