NZZ; 28.11.24
Das Omelett und die vielen Eier
Der neue Mensch – ein antizivilisatorisches Projekt
Eine der schrecklichsten Ideen der Menschheitsgeschichte ist jene des besseren oder neuen Menschen. Sie verleiht den ungeheuerlichsten Schandtaten die infame Dignität des Befugten, ja, Heroischen. Der Weg zum besseren Menschen fordert seine Opfer. «Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen», lautet die Lenin zugeschriebene Devise. Viele, sehr viele Eier, dafür sorgte Stalin. Dafür sorgten Mao, Pol Pot und all die anderen mörderischen Eierzerschlager.
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Die Crux der Idee des neuen Menschen lässt sich in zwei Fragen verdichten. Die erste: Wer definiert den neuen Menschen? Und die zweite: Was tut man mit dem alten Menschen? In den revolutionären Entwürfen der Menschenverbesserer manifestiert sich wiederkehrend die Anmassung, zu wissen, wie der Mensch tickt, was er will, welche Lebensform für ihn die beste ist, wie man sie verwirklicht. Ein intellektueller «Radikalismus» sondergleichen, der nur dann harmlos bleibt, wenn er nicht zur praktisch-politischen Durchsetzung drängt – und das tut er leider fast immer.
Die Geschichte braucht nicht noch einmal erzählt zu werden, welche realen Formen die Idee des neuen Menschen im 20. Jahrhundert annahm. Bisher hat sie ihr Biotop vor allen in totalitären Systemen gefunden. Und es ist durchaus richtig, Nationalsozialismus, Faschismus und Kommu-nismus als Warnbeispiele herbeizuziehen. In ihnen allen trieb der Keimgedanken des neuen Menschen sein Unwesen: des rassenreinen Ariers, des beliebig manövrierbaren Arbeiter-Soldaten, des «neuen Italieners», der vor allem glaubt, gehorcht und kämpft. Natürlich handelt es sich um Konditionierpraktiken. Aber indem man sie desavouiert, verabschiedet man nicht not-wendig den ideellen Kern in ihnen. Der neue Mensch spukt nach wie vor in zahlreichen Köpfen.
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Das heisst, der totalitäre Charakter steckt schon in der Logik des Gedankens. Der neue Mensch stellt einen Idealtypus dar. Ideale sind immer Abstraktionen. Sie «ziehen» vom Menschen, wie wir ihn kennen, unerwünschte Merkmale «ab». Sie bosseln ihn gedanklich zurecht, und fordern auf, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Die Realisierung des Ideals erfolgt nun freilich nicht in der Reibungslosigkeit des Gedankens. Sie bedeutet realiter stets Homogenisierung der Bevölkerung, durch Propaganda, Manipulation, Erziehung, Dressur, Zwang. Der neue Menschentyp hat sich der Abstraktion zu unterziehen, und wer das nicht tut, spürt deren reale physische Gewalt. Sie bedeutet das Ausmerzen von Abweichlern, Minderheiten, «Feinden» der Gesellschaft. Man tötet nicht Menschen, man tötet Angehörige einer abstrakten Kategorie.
In der Metapher des Omeletts drückt sich die inhärente Menschenverachtung am ungeschminktesten aus. Sie erreicht die Spitze des Zynismus dann, wenn die Propheten des neuen Menschen eine Bevölkerung als «Experimentiermasse» betrachten, welche die Opferbereitschaft aufzubringen hat, der Idee zum Durchbruch zu verhelfen. So etwa Che Guevara, zur Zeit der Kubakrise und eines drohenden Nuklearkonflikts. Er gebrauchte ein der Omelett-und-Eier-Metapher verwandtes Bild. Er lobte die Fähigkeit des kubanischen Volkes, das sich «geleitet durch einen Führer von historischer Grösse, bis zu einer selten in der Geschichte erlebten Höhe entwickeln konnte. Es ist das fiebererregende Beispiel eines Volkes, das bereit ist, sich im Atomkrieg zu opfern, damit noch seine Asche als Zement diene für eine neue Gesellschaft.»
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Mit dem Mauerfall 1989 verloren die revolutionären Gesellschaftsentwürfe ihre utopische Strahlkraft. Nun bietet sich neuerdings nicht primär die Gesellschaft, sondern der individuelle Körper als Ansatzpunkt der Verbesserung an - des «Enhancement»: der Erweiterung, Verstärkung, Steigerung. Der menschliche Körper – zumal sein Gehirn - ist, da man seine Komponenten bis in die molekulare Struktur zu erkennen beginnt, beliebig gestaltbar. Die Spielräume, die moderne Digital- und Biotechnologien eröffnen, lassen jene der dystopischen Fiktionen eines Orwell und Huxley hinter sich. Man zerschlägt jetzt die Eier nicht mehr, man baut sie so um, dass sie inhärente Anlagen zum Omelett haben. Ein neuer Totalitarismus entsteht - mit humaner Schminke.
Eine flagrante Form ist die Verhaltenszurichtung nach chinesischem Modell. Die kommunistische Obrigkeit vertritt eine Art von digitalem Leninismus. Menschen sind lenkungsbedürftige Herdenwesen. Um sie in einer friedfertigen, produktiven, innovativen Gesellschaft zu organisieren, braucht es einen weisen, strengen Grosshirten, sowie servile Unterhirten und abgerichtete Wachhunde. Dazu muss man den Bürger zum Bürger-plus-App umfunktionieren. Die Idee des neuen Menschen findet ihre zeitadaptierte Gestalt im Sozialkreditsystem. Es zielt darauf ab, das Verhalten des Bürgers so zu «zivilisieren», dass es sich ohne äussere Zwänge mit den politischen und ökonomischen Vorgaben der Regierenden verträgt. Kein offen sichtbarer Staatsterror (ausser bei solchen, die nicht mitmachen), sondern innere Disziplin, die man als Beglückung feiert. Es ist doch so schön, über die Scoring-App zu erfahren, wie sehr einen die Obrigkeit schätzt oder wie vertrauenswürdig eine Person ist, der man begegnet. Das eigene Urteilsvermögen kann bleiben, wo es will.
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Richten wir den Blick nicht exklusiv auf die chinesischen Verhaltensdresseure. Der Trend ist universell: das Zusammenwachsen von Mensch und Technik. Es kennzeichnet die ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts, und man zelebriert es in den einschlägigen Kreisen als ultimative Befreiung des Menschen. Befreiung nun auch von seinem biologischen Erbe. Die traditionelle Prothetik, die der Reparatur und Rehabilitation des Körpers durch künstliche Komponenten dient, wird intelligent. Und es ist abzusehen, dass man den Menschen immer mehr mit Implanta-ten «anreichert», die ihn auf ein posthumanes physisches und kognitives Niveau zu heben versprechen. Die «Strategische gesellschaftliche Initiative 2045» - eine 2011 vom russischen Internetmogul Dimitry Izkow gegründete Non-Profit-Organisation - visiert ausdrücklich die Vervollkommnung der Menschheit mittels Wissenschaft und Technologie an: «den Transfer der Persönlichkeit eines Individuums auf ein anderes nichtbiologisches Trägermedium (..), um so das Leben zu bis hin zum Punkt der Unsterblichkeit zu verlängern.»
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Die unverbesserlichen Menschheitsverbesserer reden gern vom Menschen als Gattung. Sie scheinen nicht viel von der Idee zu halten, dass das Menschliche am Menschen gerade in seiner sperrigen Individualität liegt. Und damit ist ja auch erneut das Grundproblem der Utopie angesprochen: ihr abstrahierender Charakter. Man muss an einem Idealtypus Mass nehmen, um «die» Menschheit zu verbessern.
Der neue Mensch begründet in der Regel einen Elitismus. Für die bolschewistischen Visionäre waren nicht alle für den neuen kommunistischen Menschen vorgesehen. Der Idealtypus aus Silicon Valley dürfte eine neue Ungleichheit zwischen mehr und weniger «enhancten» Exemplaren unserer Spezies begründen. Von Demokratie hält die Techno-Oligarchie ohnehin nicht viel. Und die Befreiung vom «Diktat» der Biologie liefert die Menschen ja nur umso unausweichlicher einem neuem Diktat aus, nämlich jenem der Daten-Proliferation. Der neue Mensch, das ist jetzt die Internet-Laborratte, die sich einem immerwährenden Upgrading für die aktuellesten KI-Systeme zu unterziehen hat. Wer das nicht freiwillig tut, ist alter Humanschrott, buchstäblich ein Nicht-Nutz(er). Bleibt abzuwarten, was mit ihm geschieht.
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Wir leben heute in einer Welt der Technikfrömmigkeit und Leichtgläubigkeit in alles, was uns angeblich von unseren natürlichen «Fesseln» befreit. Wir haben ein Transzendenzbedürfnis nach dem «erlösten» Zustand. Aber wenn wir ihn in den Horizont des technisch Machbaren hereinholen wollen, dann ebnen wir dem Gegenteil den Boden. Schlimm genug sind schon Menschen, die wissen, was gut ist für uns. Schlimmer sind «bessere» Menschen. Die Hölle: Das ist der perfekte Mensch.