Dienstag, 26. September 2023

 




Abschied von einer fundamentalistischen Physik

Gibt es fundamentale Naturgesetze? Wenn wir von der Gesetzmässigkeit der Natur sprechen, sprechen wir eigentlich von unseren Theorien. Jede Theorie hat sozusagen ihr konzeptuelles Reservoir an einfachen Figuren, mit denen sie ihr explikatives Spiel spielt. Die Physik spielt mit Elementarteilchen und ihren Wechselwirkungen; die Chemie mit Atomen und ihren Verbindungen; die Molekularbiologie mit den Genen und ihren Expressionen in Lebewesen; die Neurobiologie mit Neuronen und ihren vernetzten Aktivitäten.

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Die Frage ist: Wie kommt man vom fundamental Einfachen zum Komplexen? Wir kennen das Problem aus der Chaostheorie. Zum Beispiel unterliegt das Wettergeschehen durchaus physikalischen Gesetzen - ist also «deterministisch» - , aber sein Verhalten ist trotzdem nicht exakt vorhersehbar: «chaotisch». Umgekehrt manifestieren alltägliche Materialien stabile kollektive Makroeffekte, die sich aus dem «Chaos» ihrer Mikrobestandteile nicht herleiten lassen: «emergente» Eigenschaften. Etwa die Zähflüssigkeit von Sirup, die Festigkeit von Glas, ebenso Exotika wie die flüssige Kristallinität des Laptopbildschirms, die Supraleitfähigkeit oder Supraflüssigkeit ultrakalter Stoffe. Unordnung aus Ordnung, oder Ordnung aus Unordnung. Der Physiker und Nobelpreisträger Philip W. Anderson prägte für dieses Phänomen in den 1970er Jahren eine Kult-Formel: «More is different». Ein einzelnes Apfelmolekül ist nicht fest und sauer, viele Apfelmoleküle sind fest und sauer. 

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Ein anderer Nobelpreisträger – der Physiker Robert Laughlin – schrieb vor über 15 Jahren das Buch «Abschied von der Weltformel» (im Original «A Different Universe», eine Anspielung auf Anderson). Laughlin ist Festkörperphysiker, und als solcher vertraut mit dem Verhalten von Vielteilchensystemen, zum Beispiel mit dem Schmelzvorgang oder dem Übergang von halbleitendem zu supraleitendem Material. Festkörperphysik baut durchaus auf das «Fundament» der Quantentheorie, aber sie ringt immer wieder mit dem Problem, aus den Gesetzen der Wechselwirkung von Elementen eines Systems sein Makroverhalten zu erklären.  

Diese Erfahrung liess Laughlin an einem Grundglauben der modernen Physik zweifeln: Die Gesetze sind der Natur sozusagen «eingeschrieben».  Wir entdecken sie. Aber wer oder was «schreibt» diese Gesetze? Wir beobachten zum Beispiel das Phänomen der Anziehung zwischen Massen. Und wir sagen, ihm «liege» das  Gravitationsgesetz «zugrunde». Gemäss Laughlin sollte man diese Redensart nicht so interpretieren, dass Experimente eine immer schon bestehende  «fundamentale» Gesetzmässigkeit bestätigen. Die Ordnung der Natur beruht nicht auf ihr inhärierenden Gesetzen, die Gesetze «emergieren» vielmehr aus ordnenden Prinzipien. 

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Was bedeutet das? Zunächst einmal eine Absage an «Muttertheorien», an ein Projekt also, wie es sich heute immer noch in der Suche nach einer «Theorie von allem» äussert, allerdings leiser als auch schon. Solche Physik ist für Laughlin «quasireligiös», weil sie an das gesetzesmässige Fundament allen Geschehens wie an eine geoffenbarte Wahrheit glaubt. «Ich bin zunehmend davon überzeugt, dass alle (..) der uns bekannten physikalischen Gesetze aus kollektivem Geschehen hervorgehen. Anders gesagt, die Unterscheidung zwischen grundlegenden Gesetzen und den aus ihnen hervorgehenden Gesetzen ist (..) ein Mythos». 

Damit hängt zweitens eine Absage an den Reduktionismus zusammen, an die Idee, alles makro-physikalische Geschehen lasse sich «im Prinzip» aus mikrophysikalischen, sprich quantentheoretischen Gesetzen erklären. Zum Beispiel beschreiben die Gesetze der Hydrodynamik das Verhalten von Flüssigkeiten anhand von Parametern wie Dichte, Druck, Viskosität, also anhand von «emergenten» Eigenschaften. Sie kommen auf mikrophysikalischer Ebene nicht vor. Wir beobachten sie einfach, wenn ein System hinreichende Komplexität aufweist. 

Drittens bestreitet die Emergenzidee nicht, dass die Quantentheorie neue, oft «exotische» makroskopische Zustände begreifbar macht. Sie tut dies fortwährend, und Nobelpreise sind dafür bereits verliehen worden. Insbesondere an Laughlin. Trotzdem liegt für ihn die Zukunft der Physik nicht in theoretischen Höhenflügen, sondern in immer präziseren Messungen von komplexen Kollektivphänomenen. Gesetzmässigkeit emergiert dann, wenn man in solchen Phänomenen eine stabile quantitative Beziehung zwischen Makromessgrössen feststellt. So gesehen emergieren die Gesetze der Hydrodynamik aus dem Gewimmel einer Riesenzahl von Molekülen, weil sie unabhängig vom Geschehen auf Mikroebene sind. Das «Kollektiv» Wasser zeigt Eigenschaften wie flüssig und nass, das individuelle Wassermolekül kennt diese Eigenschaften nicht. Umgekehrt bleibt das Wasser unter Normalbedingungen flüssig und nass, ungeachtet, wie chaotisch sich die Moleküle verhalten. 

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Das alles leuchtet durchaus ein, aber die Sache hat einen Widerhaken. Die Aussage «More is different» bemäntelt eigentlich eine Erklärungsverlegenheit. Emergenz geschieht einfach: Ein neues Phänomen kommt zu den bereits bekannten hinzu, entsteht aus ihnen, lässt sich nicht vorhersagen, bestenfalls «nachhersagen». Man bemerkt hier einen zweideutigen Gebrauch des Emergenzbegriffs. Erstens beschreibt er eine beobachtete Eigenschaft, die «auftaucht». Zweitens sucht er das «Auftauchen» dieser Eigenschaft in einem komplexen System zu erklären. Das mutet tautologisch an: Etwas taucht auf, weil es auftaucht. 

Noch einmal: Gibt es fundamentale Naturgesetze? Das heisst, waren die Gesetze schon am Beginn des Universums da, oder emergierten sie im Laufe der kosmischen Evolution? Nach welchen «Supergesetzen» denn? Es kommt offensichtlich darauf an, was man als «Fundament» deklariert. Vor dem 20. Jahrhundert war dies die Newtonsche Physik mit ihren deterministischen Gesetzen. Sie führte sogar eine neue fundamentale Materiesorte ein – den Äther - ,  um elektro-magnetische Phänomene zu erklären. Im 20. Jahrhundert und am Beginn des 21. Jahrhunderts liefert die Quantenphysik mit ihren probabilistischen Gesetzen das Fundament. Wird uns eine künftige universelle Theorie von allem zeigen, dass die Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen emergente Phänomene von … ja zum Geier von was sind? Wir wissen es nicht. Wir ha-ben bis jetzt zwölf elementare Materieteilchen entdeckt (plus das Higgs). Und wir kennen vier fundamentale Kräfte. Von der unbekannten «dunklen» Materie im Universum ist noch gar nicht die Rede. 

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Und wenn die ganze Idee über fundamentale Gesetze ein Hirngespinst wäre? In der Physik kursiert die Metapher der Zwiebel. Die Natur ist eine Zwiebel und wir suchen die fundamentalen Gesetze durch «Zwiebelschälen». Nehmen wir an, jede Zwiebelschicht repräsentiere eine Grössenordnung der Erklärung; es gibt die Schicht des Universums, unseres Sonnensystems, der Erde, des Menschen, der Moleküle, Atome, Quarks und so weiter, immer tiefer ins Innere, bis zur Plancklänge (10 hoch-35 m). Erreichen wir einen Kern? Und wie wissen wir, ob es sich um den Kern handelt? 

Hüten wir uns, die Metapher zu wörtlich zu nehmen. Davor hat uns ein weiterer Nobelpreisphysiker, Richard Feynman, gewarnt: «Die Leute fragen mich: ‚Suchen Sie nach den allem zugrunde liegenden Naturgesetzen?’ Nein, das tue ich nicht. Ich versuche nur, mehr über die Welt herauszufinden. Falls sich herausstellt, dass es ein einfaches letztes Gesetz gibt, das alles erklärt, umso besser. Das wäre eine hübsche Entdeckung. Falls sich jedoch das Ganze als eine Zwiebel mit Millionen von Schichten erweist, und wir es leid sind, alle diese Schichten zu untersuchen, dann sei es so. Aber was auch immer herauskommt, es ist die Natur (..) Wenn wir uns daran machen, sie zu untersuchen, sollten wir nicht schon vorher festlegen, was wir herausbekommen wollen.» 

Ein kluger Rat, der verhindern könnte, dass wir auf der Suche nach fundamentalen Gesetzen fundamental abstürzen. Vielleicht ist die Natur ja eine Zwiebelsuppe. Dafür gibt es mehr als ein Rezept.



Sonntag, 10. September 2023

 


NZZ, 6.9.23


Ist der Mensch zu intelligent, um zu überleben?

Stellen wir uns für einen waghalsigen Augenblick auf den Standpunkt der Evolution. Dann erscheint unsere Intelligenz als ein Paradox. Wir betrachten sie als einzigartiges Evolutionsprodukt, und leiten daraus eine entsprechend singuläre Stellung in der Natur ab. Welche Spezies hat denn kognitive Fähigkeiten ausgebildet, die zu Wissenschaft, Mathematik, Technik, Medizin, Literatur, Philosophie, Religion, Kunst führten? Umgekehrt: Welche Spezies bedroht mit ebendiesen kognitiven Fähigkeiten stärker ihr eigenes Fortbestehen auf der Erde?

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Wir führen unsere Intelligenz auf ein hochkomplexes Gehirn zurück, insbesondere auf ein Bewusstsein, das darauf basiert. Als «Spandrel» hat es der bekannte Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould bezeichnet. Der Begriff – deutsch «Zwickel» – stammt aus der Architektur, wo er eine dekorierte Fläche zwischen einem Rundbogen und seiner rechteckigen Umrandung bezeichnet: eigentlich überflüssigen Zierrat. Gould wies mit dem Begriff auf phänotypische Merkmale hin, die im Laufe der Evolution als Nebenprodukte echter Anpassung entstanden sind. 

Noch heute bewältigt unser Gehirn eine Unmenge an Informationen im Ur-Modus, in dem wir nicht in einen bewussten höheren Denkgang schalten müssen, sondern einfach die Automatismen unserer neuronalen Schaltkreise – das Unbewusste - arbeiten lassen. Offenbar sind die Kosten für Intelligenzleistungen hoch. Unser Gehirn verbraucht etwa 20 Prozent der dem Körper zugeführten Energie, um die biochemischen und elektrophysiologischen Kalkulationen im natürlichen neuronalen Netz in Gang zu halten. Und man kann sich fragen, ob ein solches «barockes» Organ nicht ein luxuriöser Überfluss der Natur sei. 

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Leben – vom Bakterium bis zum Bonobo - kennt eine atemberaubende Diversität von Intelligenzformen, die im Laufe von Jahrmilliarden im «Labor» der Evolution getestet worden sind. Was überlebt, trägt das Gütezeichen «verlässlicher» Intelligenz, einer arteigenen kognitiven Ausstattung, mit der eine Spezies über die existenziellen Runden kommt. Nun hat der Mensch innerhalb von zwei Jahrhunderten den Planeten zu einem sich erwärmenden Testlabor namens «Anthropozän» umgebaut, das alles andere als beständig sein dürfte. Unsere arteigene Intelligenz schlägt aus der Art der anderen Erdbewohner. Sie ist «überheblich». Erstens hat sie die fatale Fähigkeit, Instrumente zu erfinden, deren kumulierte Konsequenzen und Risiken sie nicht genügend kennt: Kern-, Gen-, KI-Technologie. Und zweitens schafft sie Problemverknäuelungen, an denen sie sich überhebt – sie vermag sie nur schwer, wenn überhaupt zu lösen. Wo technische «Rettung» ist, wächst die Gefahr auch. Der evolutionäre «Testbericht» über unsere Intelligenz steht also noch aus. 

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Spekulieren wir kurz: Eigentlich hätten wir ein gutes Jäger-und-Sammler-Gehirn. Auf dieser Stufe könnte der Mensch wohl endlos weiterwurschteln, ohne sein Habitat stark in Mitleidenschaft zu ziehen. Deshalb ist es nicht die Intelligenz allein, die uns in die existenzielle Bredouille treibt. Wirklich bedrohliche Potenzen entfaltet sie erst durch ihren «post-evolutionären» Ehrgeiz: wenn sie sich aus dem planetarischen Netz herauslöst, und die Natur zu «übervorteilen» sucht. Eine Spezies lebt auf relativ sicherem Boden mit der Intelligenz, die sie unter den evolutionären Bedingungen der Anpassung erworben hat. Aber der Mensch – und das ist der Punkt - hat eine «nicht angepasste» Intelligenz. Mit ihr verändert er die Bedingungen seiner eigenen Existenz bis zur Selbstauslöschung. Eine solche triumphale Dummheit macht ihn einzigartig im Tierreich. 

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Womit wir an die «Prinzipien der menschlichen Dummheit» erinnert werden, die der Wirtschaftshistoriker Carlo M. Cipolla 1988 aufstellte. Sein Modell erweist sich als akuter denn je. Cipolla betrachtet darin zwei Akteure, Hinz und Kunz, sowie die Vorteile respektive Nachteile, die sie aus ihrer Interaktion ziehen. Handelt Hinz so, dass für beide ein Vorteil herausspringt, ist die Aktion intelligent; bei Vorteil für Hinz und Nachteil für Kunz ist die Aktion betrügerisch (auf Hinzen bezogen); bei Nachteil für Hinz und Vorteil für Kunz unbedarft; bei Nachteil für beide dumm. 

Nachteil für beide - genau so kommen einem die Aktionen des Homo sapiens – des «weisen» Menschen - gegenüber allen anderen Arten auf dem Planeten vor. Die flagrante Ironie an der ganzen Situation: Der Mensch mit seinem entwickelten Bewusstsein ist sich ungenügend bewusst, dass er sich selber Nachteile schafft. Er ist also eigentlich dumm hoch zwei. 

Man kann in der Evolution eine riesige Experimentiermaschine sehen. Stünde sie vor der Auslage ihrer mehr oder weniger gut funktionierenden Bastelei, und könnte sie die Frage beantworten, was sie am meisten bedauert, dann würde sie wahrscheinlich die Entwicklung der menschlichen Intelligenz nennen.  



Freitag, 8. September 2023

Dienstag, 5. September 2023



Lob des Unvollkommenen

Perfektionierung des Menschen ist im Ursprung ein religiöses, vorab ein christliches Kernmotiv. Im ersten christlichen Jahrtausend waren die herkömmlichen „mechanischen Künste“ von der kirchlichen Elite eher gering geschätzt, obwohl die Basis der Gläubigen sich aus der arbeitenden Bevölkerung - Frauen und Männern - zusammensetzte. Mechanik und Technik hatten zu tun mit den „niedrigen“ körperlichen Tätigkeiten des Menschen, nicht mit seinen hohen, intellektuellen und spirituellen. 

Die Verknüpfung von Heilserwartung und Technologie verdankt sich einer folgenreichen Umwertung der mechanischen Künste im frühen Mittelalter: der Christianisierung der Technik. Es war vor allem der Philosoph Johannes Scotus Eriugena, welcher ihnen eine würdigere Bedeutung verlieh, indem er in ihrer Nützlichkeit nicht nur eine praktische, sondern auch eine spirituelle Komponente sah. Das Heil, so Eriugena, kann erarbeitet werden in weltlichen Anstrengungen, nicht zuletzt durch technische Innovationen. Ein grosser Teil des Wissens und Vermögens, womit Gott den Menschen ursprünglich ausgestattet habe, sei durch den Sündenfall verschüttet und vergessen worden. Dazu gehören auch die mechanischen Künste. Sie zu pflegen, zu verbessern und zu vervollkommnen heisst, den „gottgleichen“ Zustand des Menschen wiederherzustellen. So wurde auch Religio – die Rückbindung des Menschen an Gott – zur technischen Aufgabe.

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Dieses Projekt der Selbstvervollkommnung sollte sich als ungeheuer einflussreich in der westlichen Geschichte erweisen. Ein uralter Traum, der Mythen nährt wie jenen vom Golem (Leben schaffen) oder vom Elixier des Lebens (Unsterblichkeit). Magier und Alchimisten des Mittelalters verzehrten sich im Versuch, diesen Traum zu verwirklichen. Sie sind gescheitert, aber die nachfolgenden Naturforscher haben ihn geerbt. So gesehen, sind neuzeitliche Wissenschaft und Technologie weniger eine Überwindung als die Fortsetzung von Magie und Alchemie mit modernen Mitteln. Und die heutigen Magier und Alchimisten wohnen heute vorzugsweise in Silicon Valley, der Hochburg technischer Verbesserungs- und Vervollkommnungsträume. 

Genetik, Neurologie, Künstliche Intelligenz, Bio-Informatik und andere Disziplinen wecken zum Beispiel Erwartungen in eine Lebensverlängerung ad libitum. Ungeachtet der eugenischen Schmutzspur durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, behauptet sich die Idee der Menschenverbesserung hartnäckig, ja, ist sie zum Fanal eines neuen Futurismus geworden. Google steckt einen Drittel seines Milliardenbudgets für Forschung in Projekte mit Schwerpunkt Lebensverlängerung und Vergreisungsverhinderung. In Silicon Valley schiessen die Startups der Unsterblichkeitsindustrie wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Der Kapitalismus entdeckt seinen grössten Gegner: den Tod. Bill Maris, Ex-Leiter von Google Ventures, verkündete 2015, im Kampf gegen den Tod „versuchen wir nicht ein paar Yards, sondern das Spiel zu gewinnen.“ 

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Solches Tönespucken gehört schon zum Alltag der einschlägigen Branche. Umso nötiger erscheint deshalb eine kurze Rückbesinnung auf die Idee der Perfektionierung. Sie braucht eine Norm, ein Ideal. Damit setzt man ein Ziel, das nicht unbedingt erreicht, auf das aber hingearbeitet werden soll. Alles, was man tut, erhält so einen Richtungssinn, wie eine „Magnetisierung“.  Das erweist sich als äusserst vorteilhaft, wenn man bestimmte Praktiken und Routinen erwerben will, seien sie nun manuell oder intellektuell; in Laboratorien, Ateliers, Werkststätten, an Schreibtischen oder Computern. Perfektion gibt es nur im Komparativ, in Stufen vom Anfänger- bis zum Expertentum. Man vergleicht eine Stufe mit einer anderen. So entwickelt sich auch eine Dynamik des Lernens, die nie aufhört, und uns stets in einem gewissen unbefriedigten Zustand zurücklässt. 

Dieses Unbefriedigtsein ist wichtig, der Herzschlag aller Kreativität. Sein Takt: Es ist gut, könnte aber besser sein. Damit zusammen hängt auch das Scheiternkönnen. Gute Wissenschafter und Künstler, überhaupt alle wirklich kreativen Menschen sind Professionelle des Scheiterns. Sie haben ein Sensorium für die Unvollkommenheit dessen, was sie hervor-bringen. „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern,“ schreibt Samuel Beckett. Und er trifft damit genau das Wesen des Schöpferischen. 

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Das trifft auch auf den wissenschaftlichen Fortschritt zu. Fortschritt ist – was nun einiger-massen paradox klingt - ein stets besseres Scheitern des Verständnisses der Welt. Jeder echte Wissenschafter arbeitet im Bewusstsein, dass seine Theorien, Modelle, Hypothesen „unvollkommen“ sind; sie treffen immer nur sehr beschränkt auf die Realität zu. Der Wissenschafter hat ein professionelles Bewusstsein für die Unzulänglichkeit, das Scheitern-können seiner Denkarbeit. Er weiss: Die Experimente sind gegen mich. Die Natur ergreift immer die Partei des versteckten Fehlers, lautet eine Variante von Murphys Gesetz. 

In dieser Einstellung gleichen sich Wissenschafter und Handwerker. Gute Handwerker, d.h. solche mit Materialsinn,  zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein Gespür haben für die Eigenheiten, Widerspenstigkeiten, Unvorhersehbarkeiten, Unvollkommenheiten des Mate-rials, mit und an dem sie arbeiten. Das Scheitern ist ihr unverzichtbarer Gehilfe, so wie die Falschheit die unabdingbare Komplizin der wissenschaftlichen Wahrheitssuche ist. 

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Wir vernehmen von den Biologen, dass die Evolution ohne Plan bastelt – sie lässt aus ih-ren Improvisationen und Stümpereien immer nur relativ vollkommene Organismen entstehen, die sich aber auf erstaunliche Weise doch immer wieder in wandelnden Umwelten zurechtfinden. Die Unvollkommenheit, so könnte man sagen, ist bereits in der Natur angelegt, eines ihrer Schaffensprinzipien. Unvollkommen sein bedeutet, dass man sich anpassen, verbessern – dass man leben, ja, glücklich leben kann. 






















Samstag, 2. September 2023

 


                                    La traverseé triomphale du radicchio

                                                    (Aus der Serie "Alpinismus")

  Der «Verzehr» des Partners Kant und der aufgeklärte Geschlechtsverkehr Kant zeigte philosophisches Interesse nicht nur an Vernunft und Urt...