Freitag, 27. August 2021

 



NZZ, 23.8.2021


Die liberale Gesellschaft verschluckt sich an ihren Minderheiten

Über die Logik von „Identitätern“


Liberalismus, schreibt Ortega y Gasset in seinem Buch „Aufstand der Massen“, sei Ausdruck äusserster Grossmut, „das Recht, das die Majorität der Minorität einräumt.“ Heute stellt sich die Frage, wie weit diese Grossmut noch ertragbar sei. Minderheiten werden immer mehr zum Problem. Inzwischen wuchert ein Diskurs über marginalisierte, minorisierte, diskriminierte Kleinstgruppen, über Identität, Interkulturalität, Differenz, Diversität – es scheint, als löste sich das Gesellschaftsganze in seine molekularen Komponenten auf. Schon 1993 sprach Hans Magnus Enzensberger vom „molekularen Bürgerkrieg“.


Gewiss, die liberale Ordnung definiert sich als Schonraum von Minderheiten. Aber sie ist metastabil. Zuviele Minderheiten führen zu einem Kipp-Punkt, wo Inklusion und Integration ins Gegenteil umschlagen. Die Gesellschaft verschluckt sich quasi an ihren Minderheiten. Wir bekommen es mit der Dialektik der Diversität zu tun: Ein „nachgiebiges“ Klima begünstigt Unnachgiebigkeit. Je grösser die Diversität, desto spezifischer die Interessen, und je spezifischer die Interessen, desto rabiater vertritt man sie. Eine amerikanische Professorin mit befristeter Anstellung bot ein Lehr-Modul über Neurobiologie und Autismus an. Eine aktivistische Studentin griff sie wegen Marginalisierung von autistischen Personen an. Die Professorin zog das Lehrangebot zurück. 


„Hohe“ und vor allem „unverhandelbare“ Ziele eignen sich bestens zur Pflege unnachgiebiger Gesinnungen. Extremisten, Fundamentalisten und sonstige ideologische Sklerotiker rechtfertigen sich gerne im Aufräum-Pathos damit, dass sie gegen dekadenten Kompromiss, politisches Spiessertum, konforme Mehrheit antreten, und dies im Namen eines als sittlich „rein“ empfundenen Rigorismus, der sich durch nichts beirren lässt. Unbeirrbarkeit aber ist ein untrügliches Anzeichen von Wahn. Und die liberale Ordnung bietet ein gedeihliches Brutklima für solchen Wahn. 


***


Seit einiger Zeit geistert ein unschöner Begriff durch den politischen Diskurs: Intersektionalität oder Schnittmengen-Diskrimierung. Angenommen, zwei Stellen sind ausgeschrieben. Eine schwarze Frau bewirbt sich. Sie ist bestens qualifiziert, aber man zieht ihr eine weisse Frau und einen schwarzen Mann vor. Frustriert klagt sie wegen Diskriminierung. Die Klage wird abgewiesen mit der Begründung: Geschlechterdiskrimierung liegt nicht vor, denn man stellt ja eine Frau an; ebensowenig Rassendiskrimierung, denn auch ein Schwarzer kriegt einen Job. Die Frau fällt unglücklicherweise in die Schnittmenge von weiblich und schwarz. Sie ist Opfer einer Schnittmengen-Diskriminierung.


Der Begriff wurde 1989 von Kimberlé Williams Crenshaw eingeführt, Rechtsprofessorin an der University of California. Sie wollte auf Überlappungen von Vorurteilen hinweisen, die Diskrimierungen verstärken können. Das ist in der Rechtsprechung zweifellos wichtig. Seither hat der Begriff jedoch die akademischen Gefilde verlassen und eine politische Instrumentalisierung erfahren. „Intersektionalität“ entwickelt sich zu einem neuen Knüppelwort in der Identitätspolitik. Und das ist ziemlich wörtlich gemeint, denn in den USA und neuerdings auch in Europa findet eine Debatte statt, in der man mit dem Begriff nur so herumhaut. 


***


Das Problem liegt in der Logik des Begriffs. In einer heterogenen offenen Gesellschaft gibt es umso mehr Schnittmengen möglicher (diskriminierter) Identitäten, je mehr Merkmale man anführt. Wie wäre es zum Beispiel mit lybischer Immigrantin, ghanaischer Abstammung, Nicht-Muslima, gendermässig unentschieden, an Diabetes leidend, Doktorat in Paläontologie, arbeitslos? Judith Butler hat das Problem klar erkannt: „(Auch) Theorien feministischer Identität, die eine Reihe von Prädikaten wie Farbe, Sexualität, Ethnie, Klasse und Gesundheit ausarbeiten, setzen stets ein verlegenes ‚und so weiter’ an das Ende ihrer Liste (..), doch gelingt es ihnen niemals, vollständig zu sein.“ Das ist natürlich eine Trivialität: Man kann immer noch eine „identitäre“ Eigenschaft finden, die ein Individuum von einem anderen unterscheidet. Was schon Leibniz mit seinem „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ ausdrückte: Es gibt keine zwei Dinge, die völlig identisch sind. 


Und genau dieses manische Kategorisieren führt zur Inflation von Minderheiten. Am Ende sind wir alle diskriminiert. Der todsichere Kurs in Richtung Hass, Beleidigtsein und Ressentiment. Statt gruppenübergreifender Solidarität gruppenverstärkende Intersektionalität. Anlässlich eines Frauenprotestmarsches in Washington mahnte eine schwarze Aktivistin aus der Bronx ihre „weissen Schwestern“ an, sich ja nicht einzubilden, dass man sich nun verstünde: „Du sollst dich nicht nur anschliessen, weil du jetzt auch Angst hast. Ich wurde mit der Angst geboren.“ Wahrlich, wenn das kein eindeutiges Kriterium ist... 


***


Bei allem Verständnis für die Minderheitenproblematik: die liberale Ordnung basiert auf einer Grundparadoxie. Sie berücksichtigt Differenzen und Minderheiten und sie sieht zugleich von ihnen ab. Sie steht und fällt mit einem Uneindeutigkeits-Prinzip: Fünf gerade sein lassen. Wer fünf gerade sein lässt, bekundet ein spezifisches Vermögen: Abstraktion. Der Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen lässt sich nämlich aufheben, wenn man sie als ganze Zahlen betrachtet. „Vereinigungsmenge“ nennt das die Mengentheorie. Ein ungemein wichtiges Prinzip des Zusammenlebens, das viele „Schnittmengen-Identitäter“ nicht begriffen haben. Die Teilnahme an der liberalen Ordnung verlangt von Bürgerinnen und Bürgern ein Minimum an Abstraktionsvermögen. Man sieht gelegentlich davon ab, ob man „gerade“ oder „ungerade“ ist: schwarz oder weiss, Mann oder Frau, Eingesessener oder Zugezogener. Man begegnet Menschen unter einer „neutralen“ Oberkategorie. Und diese Kategorie nennt sich persönliches Individuum. Das ist die grossartige Erfindung der liberalen Gesellschaft. Sie schützt primär Individuen, nicht spezielle „Stammeszugehörige“. 


***


Die liberale Ordnung ist „abstrakt“. Und die wachsende gesellschaftliche Heterogenität strapaziert sie heute bis zur Zerreissgrenze. Es erstaunt daher nicht, dass gerade die Idee des Individuums ein Dorn im antiliberalen Auge ist. Der Basler Philosoph und Journalist Armin Mohler (gestorben 2003), dessen Elaborate heute unter Neurechten eine kleine Renaissance erleben, schrieb 1988 das Pamphlet „Gegen die Liberalen“. Nichts hasste Mohler inniglicher als den „Abstraktionen verfallenen Liberalen.“ Und die schlimmste Abstraktion ist die Idee des autonomen Individuums - für Mohler die unter Liberalen „verbreitetste Geisteskrankheit“. Sie suche den Menschen aus seinem zugehörigen, angestammten, „realen“ sozialen und kulturellen Ort herauszureissen. Heute tönt das etwa bei Götz Kubitschek – neurechter „Grossdenker“, Adept Mohlers und Chef des Antaios Verlags - so:  „Die Gruppenexistenz des ‚Wir’ im nationalen und damit auch ethnisch gebundenen Sinn ist unhintergehbar.“


Voilà: „Gruppenexistenz“, „ethnisch gebunden“. Dass diese Ethnie, Gruppe oder Nation in der komplexen gegenwärtigen Weltlage selbst das windige Produkt einer „Geisteskrankheit“ im Sinne Mohlers ist – nämlich einer neurechten Abstraktion - , fällt dabei unter den Tisch. Die Abstraktion bleibt „unhintergehbar“, das heisst, sie ist ein pseudoargumentativer Prügel.


Eigentlich ist der Mensch ein Hordentier geblieben. Die liberalen „Abstraktionen“ der Zivilisation – wozu insbesondere die rechtsstaatlichen Bedingungen gehören - sind ihm letztlich fremd. Es droht immer die Regression von der Zivilisation zur Horde. Wer also diese Abstraktionen rückgängig zu machen sucht, indem er allein auf den „konkreten“ Menschen im „gebundenen Wir“ seiner Farbe, Rasse, Sexualität, Nationalität, Herkunft „undsoweiter“ abstellt, öffnet die Pandorabüchse der Atavismen. Überall bröckelt die ohnehin dünne und schwache Kruste der Zivilisiertheit. Der einzige Weg zur Emanzipation aber führt über das Individuum.



Mittwoch, 11. August 2021

 





Egophobie - die Ich-Aversion der Hirnforschung 


Lange kamen mein Hirn und ich gut miteinander aus. Ich konnte auf seine verlässlichen Dienste zählen, wenn ich einen Text las oder schrieb, mit jemandem sprach, tagträumte, ein Essen und einen guten Wein genoss. Bis mein Hirn neuerdings von Hirnforschern er-fahren hat, es könne auf mich verzichten, weil ich „im Grunde“ eine Illusion sei, die es selber hervorbringe.  


Seither rumort es unter dem Schädeldach. Ständig durchkreuzt mein Hirn Sätze wie „Ich schreibe einen Artikel über das Hirn“, mit Sätzen wie „Aha, erhöhte Aktivität im Hirnareal So-und-so“. Allmählich in der persönlichen Würde gekränkt, versuche ich meinem Hirn klarzumachen, was genau mich an seinen Geschichten so zermürbt. Gewisse Dinge würden mit mir nun eben mal nicht bloss geschehen, weil ich, die Person E.K., sie tue, erkläre ich ihm. Aber ich stosse auf Unverständnis. Das sei doch überflüssiges Gerede, sagt das Hirn. Eben nicht, das sei ein Indiz dafür, dass ich vieles aus eigenem Willen tue, erwidere ich, immer erhitzter, und das sei im Übrigen auch der Grund, warum es mir allmählich auf die Nerven gehe. Dass es mir auf die Nerven gehe, könne es deutlich erkennen, sagt mein Hirn, aber für so etwas wie „eigener Wille“ fände es keine Nervenaktivität. 


Die wissenschaftliche Egophobie

Das Ich ist ein grosses wissenschaftliches Ärgernis. Es weigert sich standhaft, zum Bei-spiel im Hirnscan zu erscheinen. Unter Neurowissenschaftern ist deshalb seit einiger Zeit eine spezifische Ich-Aversion zu konstatieren: eine Egophobie. In einschlägigen Kreisen hat sich ein populärwissenschaftliches Neuro-Sprech eingebürgert, welches das Wörtchen „ich“ tilgen möchte. Alles, was wir traditionell als Aktion eines Ichs betrachteten, „entzaubern“ die Wissenschafter nun als ichlosen Prozess in Nervennetzen. In den 1990er Jahren begann der Molekularbiologe Francis Crick sein Buch „The Astonishing Hypothesis“ mit einem Paukenschlag: „Sie, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit - bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. (..) Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neuronen.“ Seither ergiesst sich eine Schwemme an desillusionistischer Literatur über uns, dass man sich fragen muss, warum wir uns nicht schon längst als hirngesteuerte Zombies auf der Strasse umhergehen sehen. 


Die Philosophie als Ich-Austreiberin

Woher diese seltsame und hartnäckige Desillusionsmanie? Eine naheliegende Antwort dürfte lauten, dass wissenschaftlichem Fortschritt per se ein desillusionierendes Moment eigen ist. Er räumt in der Regel mit lieb gewonnenen Meinungen auf. In diesem Sinn leistete natürlich Freud grosse Vorarbeit, als er das Ich als Herr im Haus der Psyche entliess. Und er konnte auf eine philosophische Traditionslinie der Ernüchterung bauen, die über Nietzsche und Schopenhauer bis zu Hume im 18. Jahrhundert zurückführt. Hume löste bekanntlich im Königswasser seiner Skepsis den Begriff der persönlichen Identität auf. Er argumentierte noch psychologisch, nicht neurologisch. Was ich vorfinde, so Hume, sind Empfindungen – „Perzeptionen“ – etwa der Wärme oder Kälte, des Lichtes oder des Schattens, der Lust oder Unlust, aber keine Empfindung des Ichs. Man erinnert sich an die arme, in einem fort Medikamente schluckende Mrs. Gradgrind in Charles Dickens Roman „Harte Zeiten“: „Ich glaube, es steckt hier irgendwo in der Stube ein Schmerz, aber ich könnte nicht mit Entschiedenheit behaupten, dass er in mich gefahren wäre.“


Die Grossmäuligkeit der Ich-Austreiber

Gegenwärtig erfreut sich Hume in gewissen egophoben Kreisen von Wissenschaftlern und Philosophen einer Renaissance. Erst vor kurzem lese ich in einem der jüngsten Elaborate des desillusionistischen Genres: „Die Rede über das Selbstbewusstsein ist inkohärenter Unsinn – ‚Selbste’ sind im Grunde nicht Bestandteile der sensorischen Welt. Und alle höheren Bewusstseinsformen (..), obwohl einigen Philosophen teuer, sind Unsinn auf Stelzen“ (Nick Chater „The Mind is Flat“, 2018). Hier zeigt sich ein anderes Merkmal des Genres: sein offensiver Anspruch auf Interpretationshoheit. Man gibt den Philosophen und anderen intellektuellen Softies zu verstehen, dass man ein knallharter Typ ist, wenn man sich mit „x ist nichts als...“ in die Pose dessen wirft, der uns endlich sagt, wie die Welt „wirklich“ tickt: Hört ihr Leute, was ihr bisher zu wissen glaubtet, ist Ignoranz, Irrtum, Illusion! Seit Nietzsche haftet der Nimbus des Heroischen, Tragischen an dieser Pose. Ein Schuss Gefallsucht ist ihr immer beigemischt. Auch ein gerütteltes Mass halbstarker Grossmäuligkeit. 


Der metaphysische Trick: Homunkulismus

All dies erscheint jedoch irrelevant neben der eigentlichen Crux der neurowissenschaftlichen Egophobie. Sie führt sich als Wissenschaft auf und ist eigentlich wissenschaftlich verkappte Metaphysik. Ihr grosser Kniff trägt einen Namen: Homunkulismus. Man schleust quasi undercover einen „kleinen Menschen“ ins Hirn, und lässt ihn Operationen ausführen, die wir normalerweise einer realen Person zuschreiben. Der Kniff funktioniert in der Regel so, dass man uns erschlägt mit Tatsachen über Ausschüttungen von Serotonin, Signalübermittlungen in Synapsen, Aufbau von Aktionspotentialen. Siehst du, sagt man uns dann, das geschieht in Wirklichkeit, wenn du meinst, du seist ein Ich. Man verhirnt uns als Personen, und im gleichen Zug personifiziert man das Gehirn. Als „kleiner Mensch“ „interpretiert“ es nun, „entwirft“ es „Modelle“, „löst Probleme“, „treibt Schabernack“ mit uns, während wir Personen zu Marionetten einer neuronalen Maschine mutieren. Am Ende erscheinen wir umgekrempelt: vom Menschen mit Hirn zum Hirn mit menschlichem Fortsatz. 


Das Interesse am ichlosen Automaten

Das Problem liesse sich vielleicht temperieren, indem man sagt, es handle sich um eine extreme methodische Fiktion: Wir betrachten uns, als ob wir hirngesteuerte ichlose Automaten wären. Aber das ist ein Spiel mit dem Feuer. Als so harmlos erweist sich die Fiktion nicht. Vor allem dann nicht, wenn Disziplinen wie Neuropsychologie, -chirurgie und -technologie ein machtvolles Dispositiv bereitstellen, das uns tendenziell immer mehr „ent-ichlicht“. Mittel der direkten Hirnbeeinflussung, Visionen einer Kommunikation zwischen Hirnen existieren bereits, und die Verhaltensforscher in Militär, Marketing und Management kriegen sich nicht mehr ein angesichts dieses Manipulationspotenzials. 


There is no there in there

Selbstverständlich sind unsere mentalen Aktivitäten, also auch unser Selbstbewusstsein, von neuronalen Aktivitäten abhängig; selbstverständlich haben uns die Neurowissenschaften in den letzten zwei Jahrzehnten eine beeindruckende Fülle an neuen Erkenntnissen be-schert, die uns Aufschluss über das Rätsel des Ichs geben können; und selbstverständlich werden wir im Licht dieser Erkenntnisse einige, wahrscheinlich tiefverwurzelte Ideen über unser Selbst revidieren müssen; womöglich ganz radikale Ideen wie jene eines mentalen Innenraums in unserem Kopf: There is no there in there. 


Na und? – Bleiben wir auf dem Quivive gegenüber den Schlüssen, oder besser: den Nicht-Schlüssen der Desillusionierer. Denn aus der Tatsache, dass auf neuronaler Ebene kein „Ich-Modul“ existiert, folgt nicht, dass unsere Gefühle, Absichten, Meinungen, Wünsche, Ängste bloss ein „Jux“ unseres Hirns sind. Der Nicht-Nachweis der Existenz bedeutet nicht den Nachweis der Inexistenz. Die ganze Egophobie ist getragen von diesem kolossalen Fehlschluss. Nicht das Ich ist ein Mummenschanz des Hirns - der Desillusionismus ist ein Mummenschanz der Hirnwissenschafter.  


Sonntag, 1. August 2021

 








NZZ, 24.7.2021

Muskel. Mysterium. Maschine

Der Körper im Überspitzensport




Sport ist Körperkultur. Damit sagt man schon alles über seine innere Dynamik. Der Körper ist Natur, und im Sport versuchen wir, sie nicht nur zu kultivieren, sondern zu transzendieren – was deutlich genug in der olympischen Steigerung „schneller, höher, stärker“ anklingt. Ihren Reiz bezieht die sportliche Leistung aus dem, was wir nicht für möglich halten: wenn der Torhüter einen scheinbar unhaltbaren Penalty hält; wenn der Radrennfahrer in einer Alpenetappe mit scheinbar übermenschlichen Kräften der Konkurrenz enteilt, wenn die Tennisspielerin mit einem stupend präzisen Rückhand-Volley den Ball exakt in eine Ecke des gegnerischer Feldes setzt. Sport ist das Feiern der Muskeln als Mysterium.  Und daran haben mindestens vier Faktoren teil: Zeit, Ekstase, Zufall und nicht zuletzt das Nicht-Können des Sportlers selbst. 


***


Obwohl zeitliche Vorgaben zur Natur sportlicher Aktivitäten gehören, suchen diese gerade die Aufhebung der Zeit. Schon der Sportanlass findet ja eigentlich in einer Zeitenklave statt. Hier werden Eklats, Exploits und Extreme stets angestrebt und erwartet, aber weder die Aktiven noch die Zuschauer wissen, ob und wann solche Ereignisse eintreten. Von dieser buchstäblichen Suspension lebt das ästhetische Moment des sportlichen Geschehens, und zehrt insbesondere der Zuschauer bis zur Süchtigkeit. Auch wenn der Sportanlass vorbei ist, kann er in einem zeitlosen Zustand aufgehoben sein. Siege erhalten eine „Aura der Unsterblichkeit“. Nachdem Jan Sommer den Penalty von Kylian Mbabbé gehalten hatte, war in der Presse von einem „Moment für die Ewigkeit“ die Rede. Der Journalismus hechelt der sportlichen Superlativgeilheit hinterher, aber der Ausdruck trifft in diesem Punkt durchaus das typische, stets erwartete „Fallen aus der Zeit“.


Man fällt sozusagen auch aus seinem „Normal-Selbst“. Die Sportarenen versprechen und verkaufen dem Zuschauer ja immer ein Ausser-sich-sein: Ekstase. Und vom Aktiven erwartet der Sport ohnehin ein Ausser-sich-sein. Das heisst, der Sportler ist im Zuge aussergewöhnlicher Leistung „nicht ganz bei sich“. Sein Körper vollbringt in kurzer Zeit so viele feinjustierte Aktionen, dass es unmöglich erscheint, sie durch ein bewusstes Ich simultan zu koordinieren und kontrollieren. Das Ich löst sich quasi im Körper auf. Robert Musil hat dies in seinem kleinen Essay „Durch die Brille des Sports“ mit bezeichnender Schärfe erkannt und er misst dem sportlichen Akt sogar eine mystische Qualität zu. Einer der grössten Reize des Sports sei nämlich, dass „im Augenblick der Ausführung (die) Muskeln u. Nerven mit dem Ich, nicht dieses mit ihnen (spielt), u. sowie nur ein etwas grösserer Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel gerät, fällt man schon aus dem Rennen. Das ist aber nichts anderes als ein Durchbruch durch die bewusste Person, eine Entrückung.“


***


Obwohl das sportliche Ereignis Regeln unterliegt, hat es, wie alles kreative und aleatorische Geschehen, ein unregelbares Moment: das Erreichenwollen des Unerreichbaren. Besonders auf den Sport trifft der schöne Satz des Philosophen Odo Marquard zu: „Wir sind meist mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen.“ Natürlich sind Siege und Rekorde der Leistung und dem harten Training geschuldet, aber letztlich fallen sie dem Sportler zu. Er weiss nicht, was er tut und wie er es tut, und mangels Erklärung greift er zur Floskel, dass alles  im „Flow“ des Geschehens „zusammenstimme“. Der Athlet ist ein Virtuose der Unberechenbarkeit in einem Dispositiv, das noch die letzte Muskelfaser, das letzte Blutkörperchen unter minutiöse Kalkulation zu bringen sucht. Man weiss nie, ob er nicht gerade hier und heute zu jener Form aufläuft, die ihn die scheinbar unübersteigbare Grenze doch übersteigen lässt. Dieser Augenblick der Gnade im sportlichen Gelingen – übrigens auch im wissenschaftlichen und künstlerischen Gelingen - trägt wesentlich bei zum Nimbus des Spitzenathleten. Vielleicht liegt hierin tatsächlich so etwas wie das Transzendente der sportlichen Leistung. Musil spielte halb ironisch mit dem Gedanken, Sportsleute heilig zu sprechen. 


Mit diesem Aus-sich-heraustreten verbindet sich ein weiterer Aspekt. Zweifellos setzt die sportliche Leistung ein spezifisches Können voraus. Man trainiert ja unablässig Routinen. Man investiert oft ein geradezu übermenschliches Mass an Selbstkasteiung, Selbstüberwindung, ja, Selbstaufgabe in die Muskelskulptur. Das tut zum Beispiel auch der Zirkusartist. Und er demonstriert uns sein Können ebenfalls in unmöglich erscheinenden Kunststücken. Aber der Sportler demonstriert nicht einfach sein Können. Oder vielmehr: Er demonstriert, dass sein Können nach oben offen ist. Er will über sein Können, wie hoch entwickelt es auch ist, hinaussteigen. Der Philosoph Martin Seel hat dafür eine geglückte Formel geprägt: „Zelebration des Unvermögens“: „Das ekstatische Nicht-Können des Sportlers (ist) eine Auszeichnung seines Könnens, durch das es sich als höchstes sportliches Können beweist.“


***


Diese Auffassung widerspricht nun aber dezidiert einer heute gängigen Ideologie der Verfügbarkeit und Zurichtung des Körpers. Seine technologische Aufrüstung – wozu auch die pharmakologische und gentechnologische gehören – steuert einen Kurs ins kaum Voraussehbare. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet die naturwissenschaftliche Medizin, zumal die Physiologie, die athletische Leistung als eine Sonde zur Erkundung menschlicher Grenzen. Im Bild der modernen Wissenschaft und Technologie ist der Sportlerkörper eine Experimentieranstalt auf zwei Beinen. Der Athlet liefert sich – ob er will oder nicht – diesem Bild aus und verhilft ihm gleichzeitig zu gesellschaftlich-kultureller Anerkennung. Er macht sich dadurch zum Verbündeten eines hochfahrenden Fortschrittsprojekts, welches die Maschine nicht nur als ebenbürtig zum Menschen betrachtet, sondern als weit leistungsfähiger. Die Entwicklung der Maschine ist nicht an biologische Grenzen gebunden. Schlägt man nun den menschlichen Körper zur Kategorie des Maschinellen, gibt man ihn frei zum scheinbar grenzenlosen Umbau. Sport als Technologiefortsatz fügt sich prächtig ein in die Zukunftsvision eines „Homo optimus“, eines vollumfänglich und permanent „verbesserten“ Menschentypus. 


***


Die „Zelebration des Unvermögens“ liesse sich deshalb als Memento deuten. Als Erinnerung an die Natur, der wir  in Gestalt unseres Körpers nicht völlig Herr zu werden vermögen. Die olympische „Muskelreligion“ Pierre de Coubertins ist längst profaniert zum globalen Fest des Körpers als Mittel der Produktplatzierung – der Körper ist nun selbst ein Produkt. Die World Anti-Doping Agency (WADA) charakterisiert den „Geist des Sports“ in einer Liste von Werten wie Fairness, Ehrlichkeit, Gesundheit, Hochleistung, Charakter, Solidarität, Respekt vor dem Gegner. In der Liste fehlt auf eine schon fast schreiende Weise der Spielcharakter des Sports. 


Im Grunde zeugt dieses Fehlen von einem bedenklichen Prozess. Wenn wir bisher - und immer noch - in der sportlichen Leistung unsere natürlichen Gaben bewundern und schätzen, so ist doch festzustellen, dass die Technisierung, Medikalisierung und in ihrem Gefolge die Ökonomisierung des Körpers das Ziel der sportlichen Aktivität umdefiniert. Natürlich soll der Sport auch Spektakel sein und natürlich sollen wir uns an ihm vergnügen. Aber die masslose Bewirtschaftung des Vergnügens raubt ihm genau das, was Schiller auf den Punkt brachte, als er schrieb: Im Spiel überwinden wir den Zwang der Naturgesetze. Heute müsste es heissen: den Zwang der Marktgesetze. Der Sportler ist nur da ganz Sportler, wo er spielt. Denn im Spiel liegt der Anfang der Erziehung zur Freiheit. SPOMAFUGEGL: Sport macht frei und gibt eine gute Laune. Wir sollten dieses Motto als eine vorwärtsblickende Nostalgie hüten, gerade in einer Gesellschaft, die den Körper im Spiel immer mehr zur Bestzeit- und Siegesmaschine verkommen lässt, und so dem Sport den Geist austreibt.











  Die Geburt des Terrors aus dem Geist des Spektakels Terroristen überbieten sich mit Abscheulichkeiten, genauer: mit der Inszenierung von A...