Montag, 15. Dezember 2025

 


Szientismus à la Chinoise 

Über Wissenschaft und die Macht ihrer Universalität 

Man spricht heute viel vom globalen KI-Wettrüsten zwischen China und den USA. Doch unbemerkt vollzieht sich ein viel tieferer Eingriff in das Fundament des Menschlichen. Die eigentliche geopolitische Front des 21. Jahrhunderts befindet sich im Erbgut selbst. Gentechnologie wird zur neuen Arena eines globalen Machtkampfs. Verändert das Suprematiedenken das wissenschaftliche Ethos? 

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Wohl zum ersten Mal machte ein «Skandal» das Wettrüsten sichtbar. 2018 führten der chinesische Biophysiker He Jiankui und sein Team technische Eingriffe in das Genom eines menschlichen Embryos durch, um ihn immun gegen HIV zu machen. Das Experiment war fachlich umstritten, aber es führte daz, dass sich eine ethische Front bildete. Die Empörung westlicher Beobachter konterten chinesische Wissenschaftler mit dem Vorwurf der Bigotterie und der Unterstellung westlicher Stereotype. He Jiankui wurde immerhin zu drei Jahren Haft verurteilt. Die juristische Begründung: Illegaler ärztlicher Eingriff, Ausübung medizinischer Praktiken ohne Lizenz. 

Natürlich beeilte sich die chinesische Regierung, den Fall als individuelle Abweichung vom bestehenden forschungsethischen Konsens darzustellen. Die nationale Ethikkommission für Wissenschaft und Technologie gab 2024 sogar neue Richtlinien heraus, speziell für menschliche Genomeditierung – ausdrücklich angepasst an die Regelwerke der WHO und der amerikanischen Behörde der National Academies of Science and Medicine.  

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Es geht aber nicht bloss um forschungsethische und -regulatorische Prinzipien. Der Fall Jiankui offenbart eine tiefer liegende Dynamik: eine Umorientierung des Projekts Wissenschaft im 21. Jahrhundert. Traditionell versteht sich Wissenschaft als ein universalistisches intellektuelles Unternehmen, das seine Integrität durch Wahrheitssuche und Absage an partikulare Interessen begründet. Im 17. Jahrhundert, im Entwurf der Statuten der ersten neu-zeitlichen Wissenschaftsinstitution, schreibt der Universalgelehrte Robert Hooke: «Gegenstand und Ziel der Royal Society ist es, (..) Maschinen und Erfindungen durch Experimente zu verbessern – ohne sich in (..) Politik einzumischen».

Dieses Ideal bröckelt heute. Man kann es als eine Ironie der Globalisierung ansehen, dass in der sich abzeichnenden multipolaren Weltordnung des 21. Jahrhunderts nationale Denk-weisen erstarken - auch in der Wissenschaft. Der Bioethiker Jing Bao Nie von der University of Otago sieht im Fall He Jiankui das Symptom einer Ideologie: des «Bionationalismus» . Er fragt: «Wie und warum konnten He und sein Team das Experiment überhaupt durch-führen? Und warum ausgerechnet in China? Welche entscheidenden gesellschaftspolitischen Faktoren prägten Hes genetisches Vorhaben?» Als Antwort stellt Nie eine so klare wie beunruhigende These auf:  Ein Nationalismus befeuert ideologisch Chinas kollektives Streben nach dem Status einer wissenschaftlichen Supermacht.

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Die Gentechnologie birgt heute ein so grosses politisches Potenzial, dass sie fast zwangsläufig zum Wettrüsten drängt. Und hier spielt eine andere Ideologie eine entscheidende Rolle: der Szientismus - die Überzeugung, dass Wissenschaft die besten Antworten auf alle Fra-gen, und Technologie die besten Lösungen aller Probleme liefere. Nationalisiert man Wissenschaft und Technologie, entsteht ein national geprägter Szientismus – im Falle Chinas ein Sino-Szientismus. Er bleibt zwar erkenntnisorientiert, steht aber unter einem spezifischen Vorzeichen, nämlich dem Streben nach globaler Vormachtstellung im Wissen und Können. Wer vorangeht, setzt auch die Normen, das heisst, definiert die Rennregeln. 

Unverblümt formuliert das etwa Wang Jian – Tech-Milliardär und Mitbegründer des Bei-jing Genomics Institute, eines der grössten Gentechunternehmen der Welt: «In den Vereinigten Staaten und im Westen habt ihr eine gewisse Art zu leben. Ihr glaubt, ihr seid fortschrittlich und die Besten. Blah, blah, blah. Ihr folgt all diesen Regeln und habt all diese Protokolle, Gesetze und Vorschriften. Jemand muss das ändern. Es in die Luft jagen.»  Implizite verkündet Wang Jian die Botschaft: Lange habt ihr im Westen das Spiel Wissenschaft und Technologie definiert und so getan, als seien dessen Regeln universell. Nun tun wir es. 

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Das hat Folgen. Gerade Eingriffe in die Keimbahn lassen kulturbedingte Differenzen hervortreten. So kennt man in China zum Beispiel das Konzept der «guten» oder «gesunden» Geburt: «yousheng». Das Wort hat im Chinesischen die Konntotation von «hochwertig», suggeriert also die Verwandtschaft von «gesund» und «besser tauglich». Das war ja auch He Jiankuis ausdrückliches Ziel: die «Tauglichkeit» von Embryonen im Sinne von «HIV-immun». 

Er vertritt einen Designer-Standpunkt: Nicht Menschen heilen, sondern Menschen besser machen (enhance). Der gentechnische Eingriff war nicht durch medizinische Notwendigkeit motiviert, sondern durch das Konzept wünschbarer, planbarer Eigenschaften. Das Wort «shengchan», das He Jiankui im Zusammenhang mit seinen geneditierten Embryos verwendet, kann sich sowohl auf die natürliche Geburt wie auf den industriellen Produktionsprozess beziehen. 

Und genau hier tritt der Kulturkonflikt offen zutage. Man vernimmt häufig das Argument, dass China den kollektiven – «patriotischen» - Nutzen über individuelle Autonomie stelle. Das erleichtere manchen Forschern, riskante Projekte zu rechtfertigen, wenn sie gesellschaftlichen Fortschritt und nationales Prestige versprechen. Aber es ist zu einfach, China auf diese Weise zum wissenschaftlichen Paria zu stempeln.  Ideen, wie sie He Jiankui hegt, dürften längst weltweit in Forscherköpfen zirkulieren. Sie werden heute geradezu befeuert durch das beispiellose Instrumentarium, das mikrobiologische Eingriffe ermöglicht. Man fokussiere im Übrigen nicht exklusiv auf China. In den USA will ein Biotech-Unternehmer eine Firma gründen, zur Erforschung sicherer Methoden für die Erzeugung genetisch ver-änderter Babys. 

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Der kritische Blick auf den Sino-Szientismus sollte nicht den europäischen Szientismus verschonen. «Wissen ist Macht» - der Aphorismus von Francis Bacon stammt aus einer Epoche, in der sich Europa zum kolonialistischen Zentrum machte. Und die eurozentrische Weltsicht verleitete dazu, andere Wissenstraditionen zu marginalisieren. Nichteuropäische Kulturen interessierten Bacon kaum, obwohl man damals ausgiebig Kenntnis hatte von arabischer Medizin und Astronomie, chinesischer Technologie, indischer Mathematik, indigener Pflanzenkunde aus Amerika und Afrika. 

Das ändert sich jetzt dramatisch. Nun beansprucht eine nichteuropäische Macht die wissenschaftliche Führungsrolle und beginnt die Geschichte aus «dekolonisierter» Perspektive zu schreiben. Aus dieser Perspektive ist der Szientismus à la Chinoise Spiegel einer globalen Dynamik: Wissenschaft bleibt universal in ihren Erkenntnissen, doch partikular in ihren Institutionen und politischen Einbettungen. Die eigentliche Aufgabe des 21. Jahrhunderts ist deshalb nicht die Rettung einer verlorenen Reinheit oder Neutralität der Wissenschaft, sondern die kritische Reflexion über die Ordnungen, die ihre Instrumentalisierung steuern – egal ob in China, den USA oder Europa. Den Universalismus gilt es nicht als verlorene Un-schuld zu betrauern, sondern als fragile kooperative Errungenschaft, deren Geltung ständig und offensiv zu verhandeln und einzufordern ist.

Ob dies gelingen wird, bleibt offen. Offen wie die Pandorabüchse der Gentechnologie. Sie enthält alles Mögliche. Und das Mögliche, schrieb Dürrenmatt, ist ungeheuer. 


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