Atome, Äpfel und Schrödingers Katze
Der Physiknobelpreis 2025 zeigt, dass sich die Quantenphysik den gewöhnlichen Dingen nähert
Im Film «Männer, die auf Ziegen starren» baut die US-Armee eine Spezialtruppe von «Jedi-Kriegern» auf, die kraft entsprechender psychokinetischer Energie unsichtbar werden, Tiere durch blosses Anstarren töten und buchstäblich durch Wände springen können. Das ist natürlich satirische Fiktion. Unmöglich, sagt der gesunde Menschenverstand. Aber theoretische Physiker kehren oft dem gesunden Menschenverstand den Rücken - und machen dabei das Unmögliche möglich. Dafür werden Nobelpreise verliehen, zumal jener des Jahres 2025: für die «Entdeckung des makroskopischen Quantentunneleffekts». Dieser Effekt besagt: Es ist physikalisch denkbar, dass Jedi-Krieger durch die Wand springen. Was bedeutet das genau?
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Zunächst einmal, dass wir unser alltägliches Konzept eines Dings fundamental überdenken müssen. Ein Ding, so wie wir es kennen, besitzt feste und klar bestimmbare physikalische Eigenschaften. Denken wir etwa an einen Apfel auf einem Tisch. Der Apfel hat einen be-stimmten Ort (auf dem Tisch) und einen bestimmten Impuls (null, da er ruht). Ersetzen wir den Apfel nun durch ein Atom, verändert sich dieses vertraute Bild grundlegend. Auf der Quantenebene können Teilchen wie Atome nicht gleichzeitig in Ruhe sein und einen genau bestimmten Ort haben. Stattdessen beschreibt man sie mithilfe einer sogenannten Zustandsfunktion, die lediglich die Wahrscheinlichkeit ihres Aufenthaltsortes angibt. Wäre der Apfel ein Quantenobjekt, könnten wir also nicht sagen: «Er befindet sich an dieser bestimmten Stelle auf dem Tisch», sondern nur: «Mit hoher Wahrscheinlichkeit liegt er dort, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch unter dem Tisch». Das klingt im Alltagsverständnis irrwitzig, ist jedoch in der Quantenwelt völlig normal.
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Dazu gehört das Phänomen, dass Atome Grenzen überschreiten können, die in der klassischen Physik als unüberwindbar gelten. Der Vorgang ist als Tunneleffekt bekannt. Man kann ihn erneut mit dem Apfel auf dem Tisch veranschaulichen: Die Tischplatte stellt für den Apfel eine Energiebarriere dar. Er besitzt nicht genügend Energie, um sie wie ein Geschoss zu durchschlagen. Wäre der Apfel ein Quantenobjekt, bestünde jedoch eine nicht verschwindende Wahrscheinlichkeit, dass ihm dies gelingt. Anders ausgedrückt: Würden wir den Quantenapfel beliebig oft auf die Tischplatte setzen, stellten wir gelegentlich fest: Er ist verschwunden und auf wundersame Weise unter der Tischplatte wieder aufgetaucht. Er hat die Tischplatte «getunnelt».
Die klassischen Optik kennt auch eine Art von Tunneleffekt. Trifft Licht unter einem be-stimmten Winkel auf eine Glasplatte, wird der Strahl totalreflektiert. Und doch breitet sich hinter der Platte ein schwaches, exponenziell abklingendes elektromagnetisches Feld aus, eine sogenannte evaneszente Welle. Das Licht «tunnelt» also das Glas.
Und hier stossen wir auf den Unterschied zwischen klassischen Dingen und Quantenobjekten. Letztere können sich wie Wellen verhalten. Deshalb erstaunt es nicht, wenn man bei Teilchen auch «Evaneszenz» beobachtet – eben das Tunneln. Die Zustandsfunktion erlaubt es, ein Teilchen wie eine Welle oder eine Welle wie ein Teilchen zu beschreiben – je nach Umständen. Die Theorie legt also nicht fest, was ein Quantenobjekt ist. Das widerspricht natürlich unserer alltäglichen Intuition: Ein Apfel ist ein Apfel ist ein Apfel, keine Welle.
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Diese Trivialität erweist sich als ein grosses Problem für die Quantenphysik. Sie beansprucht ja, die fundamentale Theorie der Materie zu sein - dann muss sie vom Apfel bis zum Atom alles unter einen theoretischen Hut bringen. Sie bekommt es also mit der Frage zu tun, wie die Mikrowelt mit der Makrowelt zusammenhängt.
Lange Zeit stand die Diskussion unter dem Quasi-Diktat der Kopenhagener-Interpretation. Sie postulierte eine epistemologische Trennung zwischen Quantenwelt und klassischer Dingwelt, das heisst, sie verlangte zwei komplementäre Beschreibungsweisen für die jeweiligen Phänomene – eine klassische für den Apfel, eine quantentheoretische für das Atom. Aber besteht denn der Apfel nicht aus Atomen? Gewiss, jedoch «verrauschen» die Eigenheiten der Atome auf der Ebene von Äpfeln, sprich: sie sind am Apfel nicht beobachtbar. So dachte man jedenfalls – bis Mitte der 1980er Jahre eine Forschungsgruppe an der University of California Berkeley beschloss, diese Annahme auf die Probe zu stellen: John Clarke, Michel Devoret und John Martinis. Sie zeigten – um im Bild zu bleiben – , dass im Prinzip auch beim Apfel Quanteneffekte beobachtbar sind.
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Natürlich experimentierten sie nicht mit Äpfeln (was – nebenbei bemerkt - die Forschungskosten dramatisch senken würde), sondern mit supraleitenden Schaltkreisen. Supraleitung ist eine kollektive Verhaltensweise von Elektronen. Gewöhnlich fliessen sie «chaotisch» durch einen Leiter. Sie kollidieren mit Atomen und stossen sich – weil negativ geladen - ab. Bei Temperaturen nahe am absoluten Nullpunkt manifestieren sie ein völlig anderes Verhalten. Sie bewegen sich in Paaren, und diese Paare stossen sich nicht mehr ab. Sie verhalten sich quantenphysikalisch, das heisst, sie überlagern sich zu einem kollektiven Zustand - zu einem Strom, der sich widerstandsfrei im Leiter bewegt. Und er manifestiert das typische Quantenphänomen: Wenn man zum Beispiel zwei Supraleiter durch einen dünnen Isolator trennt, beobachtet man, dass der Strom den Isolator tunnelt. Dieser Effekt wird heute bei bestimmten Quantencomputern verwendet.
Er ist nicht nur technologisch, sondern auch philosophisch von Bedeutung. Clarke, Devoret und Martinis verschoben mit ihren Versuchen die Grenze zwischen Quantenwelt und klassischer Welt in Richtung der letzteren. Kurz gesagt, zeigten sie, dass die Quantenmechanik nicht auf die mikroskopische Welt beschränkt ist. Sie schufen ein System von makroskopischem Ausmass, das seine Quantennatur beibehält. Zwar sind Äpfel zu «klassisch», um solches Verhalten zu manifestieren, aber der supraleitende Chip, mit dem die Physiker experimentierten, besteht aus Milliarden von Elektronenpaaren, liegt also von seiner Dimension her gesehen zwischen Atomen und Äpfeln.
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Das eröffnet einen faszinierenden spekulativen Horizont. Sind Lebewesen auch Quantenobjekte? «Alles, was lebendige Dinge tun, kann verstanden werden aus dem Zittern und Zappeln der Atome», schreibt Richard Feynman in seinen Vorlesungen. Es gibt in der Diskussion um die Quantentheorie ein sehr berühmtes Tier, nämlich Erwin Schrödingers Katze – allerdings nur in einem Gedankenexperiment. Schrödinger wollte mit ihm die Absurdität aufzeigen, die Quantentheorie auf Makroobjekte, also auch auf Katzen anzuwenden. Aber so absurd ist das gar nicht. Zumindest nicht im Prinzip. Katzen sind biologische Makroobjekte, und wenn Quanteneffekte sich auf Makroebene manifestieren können, dann auch bei ihnen. Katzen sind freilich «warme», «feuchte» und «rauschende» Systeme. Sie auf nahezu Null Grad Kelvin abzukühlen und sie von der Umwelt völlig zu isolieren, dürfte ihnen eher nicht bekommen.
Das hält die Biologen keineswegs davon ab, Lebensphänomene durch die Quantenbrille zu betrachten. Und sie entdecken zunehmend Phänomene, in denen sie Quanteneffekte vermuten. Zum Beispiel in der Orientierung von Vögeln im Magnetfeld der Erde. In enzymatischen Reaktionen. In der Energieübertragung bei der Photosynthese. Zugegeben, das sind Prozesse im biomolekularen Bereich, also immer noch in relativ kleinen Dimensionen, und wir sind nach wie vor weit von Schrödingers Katze entfernt. Aber die Quantenphysik ist nicht eine Theorie des Kleinen, sondern des Möglichen. Sie hat vor hundert Jahren im Bereich der Atome begonnen - nun ist sie auf dem Weg zu den gewöhnlichen Dingen. Und dazu gehören auch Lebewesen. Seien wir also gefasst auf grosse, sehr grosse Überraschungen.

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