Sonntag, 2. November 2025

 


Der Jargon der Unvermeidlichkeit

Kaum etwas fördert geistige Trägheit stärker als der Jargon der Unvermeidlichkeit. Wir begegnen ihm überall, in ökonomischen Analysen, unternehmerischen Prognosen, politischen Reden, technologischen Visionen, im Alltagsgespräch. Notorisch geworden durch den neoliberalen Urschrei «Es gibt keine Alternative», suggeriert uns dieser Jargon immer wieder, dass eine übermenschliche «Notwendigkeit» unser Geschick leite und bestimme. 

Wir kennen ihn heute bis zum Überdruss aus der KI-Branche. Deren Propheten benutzen die Unvermeidlichkeitsrhetorik dazu, den Weg für ihre  bevorzugten Ziele freizumachen. In Bedenken über Nachhaltigkeit oder in politischen Leitplanken sehen sie nichts als Hindernisse des ohnehin unaufhaltbaren Laufs der Dinge. Gewisse Protagonisten - etwa der Investor Marc Andreessen - nehmen den Demokratieabbau in Kauf mit dem Postulat, dass Politik sich der technologischen Dynamik unterzuordnen habe. Diese allein verleiht den Ingenieuren und Investoren von Silicon Valley ihr weltgeschichtliches Mandat. So argumentierten schon die italienischen Faschisten.

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Der Jargon der Unvermeidlichkeit beruht auf einem grundlegenden Denkfehler: der Verwechslung von Modell und Wirklichkeit – oder wie man sagt: Die Landkarte ist nicht die Landschaft. Dieser Fehler gehört sozusagen zur kognitiven Ausstattung des Menschen. Wenn wir denken, folgen wir bestimmten Regeln, womöglich «zwingenden». Sie suggerieren: Wenn du A und B annimmst, folgt daraus C zwangsläufig. Diese Notwendigkeit ist aber eine Logik des Modells, nicht der Wirklichkeit. Auf der Landkarte kann man zeigen, dass eine gerade Linie Punkt A und Punkt B verbindet. In der Landschaft ist das vielleicht ein Holzweg. 

Die Wissenschaft kennt Notwendigkeiten in der Form von Gesetzen. Physikalische Gesetze gelten in physikalischen Modellen, ökonomische Gesetze in ökonomischen. Ihr Zweck ist, Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, und in dem Masse, in dem das gelingt, sind wir berechtigt zu sagen, die Gesetze würden in der Natur oder in der Wirtschaft gelten. Aber gerade erfolgreiche Modelle verführen uns leicht dazu, ihr Erklärungskonto zu überziehen, das heisst, mehr zu behaupten, als es ihre Annahmen erlauben. Ökonomische Modelle zum Beispiel glänzen oft mit elegantem mathematischem Formelwerk, aus dem sich Marktprognosen deduzieren lassen. Und dann spielt die wirtschaftliche Realität nicht mit. Wie zum Beispiel 2008. Das war nicht nur eine Krise der Finanzmärkte, sondern eine Krise der ökonomischen Modelle. Fachleute, Banken, Regierungen, Ratingagenturen bildeten so etwas wie eine narrative Gemeinschaft, die den Jargon der Unvermeidlichkeit pflegte, sprich: die Annahmen der Modelle für die Wirklichkeit hielt. Schon 1985 warnte die amerikanische Ökonomin Deirdre McClosky im Buch The Rhetoric of Economics ihre Disziplin vor dieser Gefahr des Modell-Dogmatismus. 

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Der Jargon der Unvermeidlichkeit eignet sich gut, die politische Debatte durch angebliche Sachzwänge abzuwürgen – durch den Jargon der Unumstösslichkeit. Hannah Arendt sprach davon, dass «jede Tatsachenwahrheit jede Debatte (ausschliesst)», wo doch «die Diskussion, der Austausch und Streit der Meinungen (..) das eigentliche Wesen allen politischen Lebens (ausmacht)». Das Totschlagargument «Fakt ist..» erweist sich eigentlich als eine autoritäre Sprachhandlung: «Halt den Mund, du hast bloss eine Meinung». Man gibt vor, im Namen der Sache zu sprechen, dabei ist die «Sache» nicht anderes als die unbedachte Verfestigung der eigenen Meinung. 

Eigentlich konserviert der Jargon der Unvermeidlichkeit die alte Potenz des Mythos, also die Kraft einer Erzählung, die uns überzeugen will, dass «es so kommen muss». Ludwig Wittgestein sprach von der «Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache». Genau das leistet dieser Jargon. Er ist die Grammatik der Entmündigung; der zwanglose Zwang einer Denkweise, die uns weismachen will, politische Ereignisse und Entwicklungen geschähen ohne menschliches Dazutun. Nur schon das Wort «künstliche Intelligenz» demonstriert beispielhaft, wie wir einen menschlichen Begriff auf Maschinen übertragen und dann deren Algorithmen als eine autonome Macht interpretieren, die uns unvermeidlich übertreffen und dominieren wird. Vergessen geht dabei, dass Menschen diese Entwicklung vorantreiben – mit Vorurteilen, Herrschaftsgelüsten, Entscheidungsgewalt. 

Jargonkritik bedeutet, die Verhexung zu entlarven - und damit den Blick nicht nur auf die «Verhexer» zu lenken, sondern zugleich auf andere Zukunftsmöglichkeiten, die durch das Gewicht vermeintlicher Notwendigkeit verdrängt worden sind. Wir müssen jene Intelligenzform kultivieren, die uns auszeichnet. Möglichkeitssinn, nannte sie Robert Musil: denken, dass das, was ist, auch anders sein könnte. 

Denn die Imagination ist die Mutter der Freiheit. Die apokalyptischsten aller Visionen ist jene, in der wir Menschen die Imagination verloren haben - und sie nicht einmal mehr vermissen.






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