Freitag, 6. Juni 2025




Ein neues Wissenschaftsethos für eine postpostfaktische Ära

Nun schleicht sich auch in universitären Gefilden – im Reich der Ideenfreiheit, der Suche nach Wahrheit, der Faktentreue – die Kriegsmetapher ein. Sheila Jasanoff, Professorin für Wissenschaftspolitik an der Harvard University, spricht in einem rezenten Artikel der ZEIT vom «Bürgerkrieg der Ideen» : «Auf der einen Seite kämpfen die Verfechter des Glaubens, dass die Wissenschaft uns die besten Antworten auf die meisten sozialen Probleme gibt; auf der anderen Seite kämpfen Menschen, die glauben, dass die Wissenschaft in Amerika von einer ‘Big Government’-Ideologie vereinnahmt wurde. Sie wollen Forschungseinrichtungen wie die National Institutes of Health auflösen, um die Wissenschaft von Grund auf neu aufzubauen.» 

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Die Kriegsmetapher ist überspitzt, aber sie akzentuiert durchaus ein Problem. In modernen Gesellschaften gilt die wissenschaftliche Expertise als Erkenntnisautorität. Coronaepidemie und Klimawandel haben indes den Ruf der Experten nicht gefördert. Er wird vielmehr herausgefordert durch Leute, die glauben, mit einer zusammengestümperten Do-it-yourself-Theorie in Konkurrenz zum gesammelten Wissen einer Disziplin treten zu können; die zum Beispiel Bleichmittel gegen das Coronavirus einnehmen oder ihren Prostatakrebs mit einem Entwurmungsmittel für Pferde behandeln. Jeder ist frei, die Welt auf seine Weise zu deuten – und durch diese Deutung sich selbst zu beschädigen.

Solange die wissenschaftliche Autorität als unbestritten galt, liess sich eine solche «Querkopf»-Mentalität leicht marginalisieren. Aber das Klima hat sich gewandelt. Heute ist ein «Querkopf» Gesundheitsminister der USA. Bereits in der kurzen Amtszeit von Robert Kennedy Jr. deutet sich an, was Sheila Jasanoff mit der Auflösung von Forschungseinrichtungen und dem Neuaufbau der Wissenschaft meint. Kennedy hatte sich vor allem als Kritiker der Pharma- und Lebensmittelindustrie profiliert, allerdings auch mit wilden Hypothesen über den Zusammenhang von Massenschiesserei und Antidepressiva, Impfen und Autismus, Chemikalien im Wasser und sexueller Orientierung. Er scheint sich jetzt in der Rolle als «pain in the ass» des wissenschaftlichen Establishments zu gefallen. Er steht im Ruf des Schlangenölverkäufers  und Förderers von «Junk Science».   Kürzlich empfahl er bei einem Masernausbruch in Texas ein Präparat aus Kabeljauleber als Alternative zum Impfen.  Kennedy fördert nicht nur Pseudowissenschaftler, er attackiert zugleich ausgewiesene Forscher.  Man muss sich vor Augen halten: Das amerikanische Gesundheitsministerium – das Department of Health and Human Services - verfügt über ein gewaltiges Budget - um die 1.8 Billionen Dollar - , und sein Vorsteher hat eine entsprechende Machtfülle, die medizini-sche Forschung in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken, indem er Gelder für bestimmte Projekte kürzt und missliebige Wissenschaftler entlässt. Kennedys Parole «Make America Healthy Again» (MAHA) ist schon als «neuer Lyssenkoismus» bezeichnet worden , in Anspielung auf die dirigistische Forschungspolitik unter Stalin.

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Personalisieren wir das Problem nicht über Gebühr. Denn Kennedy ist eigentlich nur Symptom einer schon länger anhaltenden Krise des wissenschaftlichen Expertentums, allgemeiner: einer Krise der Erkenntnis. Man kann 1975 als das Schlüsseljahr betrachten, in dem diese Krise einsetzte. Damals erschien das Buch «Against Method» des Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend. Er leugnete darin den Anspruch der modernen Wissenschaft – primär der exakt-naturwissenschaftlichen Disziplinen – ,  die alleinige Erkenntnisinstanz zu sein. Vielmehr gelte: Anything goes.  Auch Alchemie, Astrologie oder paracelsische Medizin seien durchaus ernstzunehmende Ansätze in der Erklärung von Phänomenen, und ihre Disqualifizierung müsse einer arroganten wissenschaftlichen Siegergeschichtsschreibung angelastet werden. Im Geiste dieser «Anarchie» begannen in den 1990er Jahren die sogenannten Science studies die Deutungs- und Geltungsmacht der Wissenschaft schärfer zu analysieren. Insbesondere dekonstruierte man wissenschaftliche Fakten als «gemacht». Und damit war natürlich der logische Schritt zu den «alternativen» Fakten-Fabrikanten vorbereitet. 

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Nach gängiger Auffassung ist Wissenschaft  ein wertfreies, nur der Wahrheit verpflichtetes Erkenntnisunternehmen. Es ist ergebnisoffen, lernt aus Fehlern, heisst neue Ideen und neue evidence willkommen. Das ist ein schönes Ethos. Grundlagendisziplinen wie Physik, Mathematik, Chemie und Biologie verfahren angenähert nach ihm. Sie geniessen in der modernen Gesellschaft gewissermassen das Gnadentum reiner Erkenntnissuche – worunter zumal die öffentliche Finanzierung gehört. 

Aber dieses Ethos steht etwas verloren in der aktuellen Forschungswelt. Die Wissenschaft bekommt es zunehmend mit «verunreinigten» Phänomenen zu tun, die sich nicht in einzel-ne Fachdisziplinen aufdröseln lassen. Das hat die Coronapandemie exemplarisch vor Augen geführt. Auf den ersten Blick war das Interesse ein spezifisches: Krankheit eindämmen, den Tücken des Virus auf die Schliche kommen. Also fachliche Erkenntnis. Sie erfordert die Kompetenz von Virologen, Infektiologen, Epidemiologen, Pharmakologen. Im weiteren aber auch von Zoologen und Ökologen. Sie studieren die Ansteckungswege, die dem Virus über Wirttiere offen stehen, etwa Fledermäuse, Zibetkatzen oder Schuppentiere. Schliesslich tauchen soziale Kollateralprobleme auf, etwa die Frage, wie die wissenschaftlich empfohlenen Massnahmen das soziale Leben beeinträchtigt, die wirtschaftliche Grundlage von Menschen zu ruinieren droht, wie der Schulunterricht durchzuführen ist, wie man in Spitälern eine Triage vornehmen muss. Alle diese Fragen sind ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als die fachlichen – zumindest für den Laien. Denn er ist am Ende die «Labormaus», an der sich all die fachlichen Anstrengungen zu bewähren haben. Und er soll dabei einfach schweigen?

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Kurz, das Virus hat uns demonstriert, dass die im weitesten Sinn «virulenten» Probleme moderner Gesellschaften sich in der Regel nicht aus einer einzigen Perspektive definieren, geschweige denn lösen lassen. Der Virologe Christian Drosten drückte das kürzlich in einem Satz  aus: «Wenn die Gesellschaft ein Problem hat und man so oder eben auch so mit der Sache umgehen kann – oder sogar muss - , dann wird es politisch». 

Der Satz umreisst bündig die aktuelle Lage der Wissenschaft. Sie muss sich als ein Gesichtspunkt unter anderen profilieren. Sie kann ihre Glaubwürdigkeit nicht mehr einfach als letztgültige, «der» Wahrheit verpflichtete Instanz begründen, die dem politischen Alltag überhoben ist. Wie Drosten bemerkt, seien es «die Wissenschaftler noch nicht gewohnt, Faktizität verteidigen zu müssen. Unsere Ausbildung lag noch vor der postfaktischen Ära». Deshalb müssten die Wissenschaftler «dringend darüber reden, welche Verpflichtungen die Gesellschaft (ihnen) mit der Wissenschaftsfreiheit auferlegt». Objektivität ist sicher nach wie vor die Pflicht. Aber dazu tritt eine zweite, nämlich die Pflicht, offensiv den Tendenzen entgegenzuwirken, welche die Institutionen der Erkenntnissuche zu destabilisieren trachten. Das ist kein «Krieg», sondern die Aufgabe, ein neues wissenschaftliches Ethos zu formulie-ren, das die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft festigt -  für eine postpostfaktische Ära, die hoffentlich immer noch im Zeichen der Demokratie steht. 


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