Samstag, 20. April 2024



NZZ, 9.4.24

Sokrates und der ChatGPT

Schreiben in der postliterarischen Welt


Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, erhob sich ein Lamento über den Niedergang der Kultur infolge der «Technisierung des Wortes». Platon hielt bekanntlich nicht viel vom geschriebenen Wort. Die Schrift spricht nicht zurück. Nur der Dialog bringe uns der Wahrheit näher.  

Was würde Platon über die neue Technologie der Textgeneratoren sagen? An einer Stelle im Dialog «Phaidros» gibt der platonische Sokrates Auskunft. Die Schrift verleihe «den Schülern (..) nur den Schein der Weisheit, nicht die Wahrheit selbst. Sie bekommen (..) vieles zu hören ohne eigentliche Belehrung und meinen nun, vielwissend geworden zu sein, während sie doch meist unwissend sind und zudem schwierig zu behandeln, weil sie sich für weise halten, statt weise zu sein (..) Im Vertrauen auf die Schrift suchen (die Schüler) sich durch fremde Zeichen ausserhalb, und nicht durch eigene Kraft in ihrem Innern zu erinnern». 

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Man ersetze die Schrift durch den ChatGPT, und Sokrates’ Kritik ist à jour. Es geht dabei nicht um die Technik, sondern um das Verhältnis von Technik und Mensch. Technik ist, um hier eine gängige Formel zu gebrauchen, das Delegieren menschlicher Vermögen an Geräte. Wir delegieren das Erinnern an das «Gerät» Schrift, so Platon, deshalb verkümmert dieses Vermögen und führt zur Dekadenz der mündlichen Kultur - letztlich des Denkens. 

Nun bekommen wir vom ChatGPT in der Tat «vieles zu hören, ohne eigentliche Belehrung». Sein Können, sagen wir, liege schlicht darin, aus einer Bitfolge mittels eines Transformer-Algorithmus eine neue Bitfolge zu generieren. Na und? Nenne man dies nun «schreiben» oder auch nicht. Wenn sich der maschinengenerierte Text oft nicht mehr vom menschengenerierten unterscheiden lässt, kann man getrost  auf den Unterschied zwischen der Simulation von Schreiben und Schreiben verzichten. 

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Diese steile These zielt direkt auf das Herzstück unserer Kultur, die Bildung. Und Bildung heisst heute primär: Kompetenzen lernen. Das tun auch Maschinen. Sie lernen, Schreiben zu simulieren. Warum sollte da der Schüler hintanstehen? Wem bescheinigen wir jetzt Autorschaft? Dem Hybrid Schüler-Maschine? Eine postliterarische Welt zeichnet sich ab, in der die Schriftkundigkeit als altehrwürdige Kulturtechnik an Bedeutung zu verlieren scheint. Blüht dem Schüler der «Tod des Autors», um die Situation mit Roland Barthes’ berühmtem Diktum zu dramatisieren? 

Hier meldet sich Platons These, dass der Dialog die höchste Ausdrucksform menschlicher Argumentation sei, überraschend zurück. Wenn man Texte ohne Anstrengung generieren kann, liegt die eigentliche Leistung nicht im Schreiben, sondern im Lesen. Warum dann zum Beispiel nicht den Schüler «seinen» Text selber lesen, interpretieren und Schlussfolgerungen daraus ziehen lassen? Denkbar wäre auch, dass der Schüler mit «seinem» Text nichts Endgültiges, sondern Ausgangsmaterial abliefert, anhand dessen er nun seine Kompetenzen «coram publico» vorzuführen hat, im Diskurs, buchstäblich: im hin und her gehenden Gespräch mit der Lehrperson und den Mitschülern. 

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Die Ironie springt jedenfalls ins Auge: Kultur entwickelt sich von der Oralität über die Literalität zur Digitalität – und wieder zurück zur Oralität. Das ist kein Rückschritt, sondern Dialektik der Technik. Wir haben im Zuge des Fortschritts so viel Können an die Maschinen delegiert, dass sich jetzt die Frage stellt: Was wollen wir Menschen denn eigentlich noch können? 

Als Erstes muss man den gebannten Blick vom ChatGPT lösen und das ausschliesslich technische Verhältnis zum Text hinterfragen, das er definiert. Was lernen wir eigentlich mit dem Schreiben? Nur Texte generieren? Nicht etwa auch, den Blick für all die Nuancen in der Welt schärfen? Zu erfahren, wie Begriffe und Ideen entstehen? Diskursiv das Wahre vom Falschen trennen? Die Perspektive anderer Menschen kennen lernen? Und: Ist beim Schreiben der Weg nicht oft wichtiger als das Ziel? 

Solche Fragen verleihen einem zentralen Begriff Platons Aktualität: Wiedererinnerung. Seiner metaphysischen Bedeutung entkleidet  lässt er sich so interpretieren: Die Maschine «erinnert» den Menschen daran, was er eigentlich kann. Sie hebt die traditionellen Kulturtechniken aus der unreflektierten Selbstverständlichkeit. Platon nennt das «Mäeutik»: Hebammenkunst. Sie wiese heute der Schule eine «geburtshelferische» Aufgabe zu. Diese bestünde nicht zuletzt im Wiederaufwärmen eher verpönter mündlicher Techniken wie etwa Rezitieren oder Diktat. Das hat nichts mit altem Schuldrill zu tun, sondern mit der Schärfung des Unterscheidungsvermögens zwischen dem, was der Schüler selber können, und was er an die Maschine delegieren will. Gerade das Delegieren ist ja die ständige Verführung, «sich für weise (zu) halten, statt weise zu sein». 

Sokrates wendet sich nicht radikal gegen die Schrift. Sie ist dann nützlich, sagt er, wenn sie «in der Seele des Lernenden» weiter geschrieben wird. Eine altmodische Definition echter Bildung. Versteht man sie noch?



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