Donnerstag, 25. April 2024

 


Der «Verzehr» des Partners

Kant und der aufgeklärte Geschlechtsverkehr

Kant zeigte philosophisches Interesse nicht nur an Vernunft und Urteilskraft, sondern auch am Fleisch. Zumal an den libidinösen Regungen des Menschen. Und er lieferte eine Definition des Sexualverkehrs, die schon fast ans Obszöne grenzt: «Verzehr» des Partners. Natürlich redete Kant nicht irgendwelchen perversen sexuellen Praktiken das Wort. Es gibt «zweyerley Genuss eines Menschen von dem anderen (des fleisches): der cannibalische oder der wollüstige Genuss. Der letztere lässt die Persohn übrig.»

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Kant wollte den Menschen aus dem «Reich der Notwendigkeit» – der Natur – ins «Reich der Freiheit» – der aufgeklärten Gesellschaft mit ihren Rechten – führen. Diesem Ziel muss auch der Geschlechtstrieb unterworfen werden. Von Natur aus sind die menschlichen Geschlechtsteile eigentlich «Zeug» zum Fremdgebrauch. Aber habe ich ein  Recht auf den Gebrauch deines Körpers? Das ist die typische Frage Kants – die Legitimitätsfrage «quid juris». 

Und sie enthüllt ein moralisches Dilemma. Ich gebrauche den Körper des Partners ja als Ge-nussmittel. Für Kant die schwerste Verletzung der Menschenwürde - eine «läsio enormis». Die menschliche Person ist unantastbar. Sie darf nie zur Sache, zum Mittel gemacht werden. Aber genau das geschieht im Geschlechtsakt. Der Geschlechtstrieb ist eine sinnliche Neigung, in der ein «Principium der Erniedrigung der Menschheit» liegt. Diese Neigung richtet sich auf eine ande-re Person, aber nicht auf ihr Personsein, sondern auf ihren Körper als Genussmittel. 

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Wie kann man sich dann befriedigen, ohne den Partner in seiner Würde zu verletzen? Kant wäre nicht Kant, rückte er dem Problem nicht mit der nötigen analytischen Schärfe zu Leibe. Und zwar erkennt er eine Ausnahme vom ethischen Gebot, dass man einen Menschen nie zum Mittel machen dürfe. Die Bedingung dafür ist, «dass, indem die eine Person von der anderen, gleich als Sache, erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe, denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her».

Eine einigermassen gewundene Lösung des Problems. Einfacher und anziehender lautet sie: Man gibt sich weg und erhält sich zurück. Aber diesen gegenseitigen Erwerb garantiert nur der Ehevertrag. Kant definiert die Ehe als Geschlechtsgemeinschaft - «commercium sexuale»: «Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen, wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften». In der Ehe gehört «jeder theil mit seinen Geschlechtseigenschaften zur proprietät des andern (...) und umgekehrt, also zur proprietät der Gemeinschaft». Interessant dabei ist, dass das Ziel dieser Gemeinschaft nicht primär das Zeugen, sondern eben die Sexualität ist. Wir haben, so Kant, «keinen instinct (...), der unmittelbar auf die propagation gehet, aber wohl einen, der unmittelbar aufs Geschlecht gehet». 

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Die Würde der Person wird also im ehelichen Geschlechtsakt nicht verletzt, weil hier sozusagen zwei Menschen zu einer Person verschmelzen. Man sagt ja «Ich bin dein und du bist mein». Ich habe das Recht an dir als Genussmittel, weil du das Recht an mir als Genussmittel hast. Kant drückt das so aus: Aus «Zweyen ist eine moralische Person» geworden. Und hier zeigt sich das Neuartige an seiner Auffassung. Sie emanzipiert den Geschlechtsakt von der natürlichen «Aufgabe» der Fortpflanzung, rückt ihn eben ins Reich der Freiheit, des Menschenrechtlichen. Kant be-trachtet Kopulieren nicht nur als Reproduktionsmittel, sondern als Genussmittel. Deshalb sieht er darin auch eine Spielart des Kannibalismus, einen «Verzehr», der sich noch heute im Ausdruck «zum Fressen gern» zu erkennen gibt. Im Küssen verbirgt sich ein solcher versteckter Kanniba-lismus…

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Kants Auffassung – und das ist doch überraschend - emanzipiert auch die Homosexualität. Oder sagen wir es so: Wenn er den Geschlechtsverkehr von der natürlichen Reproduktion abkoppelt, dann führt ihn das auch dazu, das gleichgeschlechtliche «commercium» in Betracht zu ziehen. Zwar ist für Kant Homosexualität «contra naturam: «Die Homosexualität läuft wider die Zwekke der Menschheit, denn der Zwek der Menschheit in Ansehung der Neigung ist die Erhaltung der Art ohne Wegwerfung seiner Person (..) hierdurch versetze ich mich unter das Thier und entehre die Menschheit». 

Der Homosexuelle «entehrt» Mensch und Tier. Das klingt grausam. Aber seine eigene Logik stellt Kant ein Bein. Emanzipierte Sexualität beruft sich gerade nicht auf «die Erhaltung der Art», sondern auf gegenseitigen Genuss unter Wahrung der Personenwürde. Warum sollte das nicht auch für Homosexuelle gelten? Sind sie etwa keine Personen? Können sie nicht auch zu einer einzigen «moralischen Person» werden?  Und warum sollte dann aus menschenrechtlicher Perspektive nicht auch der Ehevertrag zwischen Gleichgeschlechtlichen sie vor dem «crimen carnis» - dem fleischlichen Verbrechen - schützen, wie Kant dies nennt? Zudem kann man Homosexualität nicht als naturwidrig disqualifizieren. Sie kommt in der Natur vor, häufiger als man gemeinhin denkt, auch wenn das Kant vielleicht nicht gewusst haben dürfte. 

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Nichts liegt mir ferner, als Kant apologetisch zum Vorläufer der heutigen Genderbewegung hochzustilisieren. Er blieb der damaligen bürgerlichen häuslichen Ordnung verpflichtet, war mariniert in den Voreingenommenheiten seiner Zeit. Nun ist es nachgerade zur billigen Mode geworden, der Aufklärung «Rassismus», «Sexismus», «Machismus», «Kolonialismus», «Ratiozentrismus» vorzuhalten. Indes bleibt Kants Idee äusserst akut und brisant: Das Verfügungsrecht über den personalen Körper – dieses säkulare «Heiligtum» - ist ein Menschenrecht. 

Brisant ist die Idee zumal, weil offenbar die katholische Kirche sich schwer tut mit ihr. Das dokumentiert jüngst die päpstliche Erklärung «Dignitas infinita».  Das Verfügungsrecht über den Körper ist ein Dorn im päpstlichen Auge: «Über sich selbst verfügen zu wollen, wie es die Gen-der-Theorie vorschreibt, bedeutet (..) der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen und in Konkurrenz zu dem wahren Gott der Liebe zu treten, den uns das Evangelium offenbart». Würdig ist der Körper nur als Exekutivorgan der evangelischen Gesetzgebung. Also ein Mittel zum Zweck, nämlich dem Zeugen von möglichst vielen Katholiken. Ist das nicht ein Verstoss gegen Kants Gebot der Instrumentalisierung?

Kant weist dem aufgeklärtem Gebrauch der Wollust eine emanzipatorische Rolle zu. Der wollüstige Genuss «lässt die Person übrig». Er stärkt sie. Und vielleicht ist es gerade das, was die Kirche so fürchtet: dass die Wollust unter der Soutane tut, was sie – und nicht Gott - will. 





Samstag, 20. April 2024



NZZ, 9.4.24

Sokrates und der ChatGPT

Schreiben in der postliterarischen Welt


Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, erhob sich ein Lamento über den Niedergang der Kultur infolge der «Technisierung des Wortes». Platon hielt bekanntlich nicht viel vom geschriebenen Wort. Die Schrift spricht nicht zurück. Nur der Dialog bringe uns der Wahrheit näher.  

Was würde Platon über die neue Technologie der Textgeneratoren sagen? An einer Stelle im Dialog «Phaidros» gibt der platonische Sokrates Auskunft. Die Schrift verleihe «den Schülern (..) nur den Schein der Weisheit, nicht die Wahrheit selbst. Sie bekommen (..) vieles zu hören ohne eigentliche Belehrung und meinen nun, vielwissend geworden zu sein, während sie doch meist unwissend sind und zudem schwierig zu behandeln, weil sie sich für weise halten, statt weise zu sein (..) Im Vertrauen auf die Schrift suchen (die Schüler) sich durch fremde Zeichen ausserhalb, und nicht durch eigene Kraft in ihrem Innern zu erinnern». 

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Man ersetze die Schrift durch den ChatGPT, und Sokrates’ Kritik ist à jour. Es geht dabei nicht um die Technik, sondern um das Verhältnis von Technik und Mensch. Technik ist, um hier eine gängige Formel zu gebrauchen, das Delegieren menschlicher Vermögen an Geräte. Wir delegieren das Erinnern an das «Gerät» Schrift, so Platon, deshalb verkümmert dieses Vermögen und führt zur Dekadenz der mündlichen Kultur - letztlich des Denkens. 

Nun bekommen wir vom ChatGPT in der Tat «vieles zu hören, ohne eigentliche Belehrung». Sein Können, sagen wir, liege schlicht darin, aus einer Bitfolge mittels eines Transformer-Algorithmus eine neue Bitfolge zu generieren. Na und? Nenne man dies nun «schreiben» oder auch nicht. Wenn sich der maschinengenerierte Text oft nicht mehr vom menschengenerierten unterscheiden lässt, kann man getrost  auf den Unterschied zwischen der Simulation von Schreiben und Schreiben verzichten. 

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Diese steile These zielt direkt auf das Herzstück unserer Kultur, die Bildung. Und Bildung heisst heute primär: Kompetenzen lernen. Das tun auch Maschinen. Sie lernen, Schreiben zu simulieren. Warum sollte da der Schüler hintanstehen? Wem bescheinigen wir jetzt Autorschaft? Dem Hybrid Schüler-Maschine? Eine postliterarische Welt zeichnet sich ab, in der die Schriftkundigkeit als altehrwürdige Kulturtechnik an Bedeutung zu verlieren scheint. Blüht dem Schüler der «Tod des Autors», um die Situation mit Roland Barthes’ berühmtem Diktum zu dramatisieren? 

Hier meldet sich Platons These, dass der Dialog die höchste Ausdrucksform menschlicher Argumentation sei, überraschend zurück. Wenn man Texte ohne Anstrengung generieren kann, liegt die eigentliche Leistung nicht im Schreiben, sondern im Lesen. Warum dann zum Beispiel nicht den Schüler «seinen» Text selber lesen, interpretieren und Schlussfolgerungen daraus ziehen lassen? Denkbar wäre auch, dass der Schüler mit «seinem» Text nichts Endgültiges, sondern Ausgangsmaterial abliefert, anhand dessen er nun seine Kompetenzen «coram publico» vorzuführen hat, im Diskurs, buchstäblich: im hin und her gehenden Gespräch mit der Lehrperson und den Mitschülern. 

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Die Ironie springt jedenfalls ins Auge: Kultur entwickelt sich von der Oralität über die Literalität zur Digitalität – und wieder zurück zur Oralität. Das ist kein Rückschritt, sondern Dialektik der Technik. Wir haben im Zuge des Fortschritts so viel Können an die Maschinen delegiert, dass sich jetzt die Frage stellt: Was wollen wir Menschen denn eigentlich noch können? 

Als Erstes muss man den gebannten Blick vom ChatGPT lösen und das ausschliesslich technische Verhältnis zum Text hinterfragen, das er definiert. Was lernen wir eigentlich mit dem Schreiben? Nur Texte generieren? Nicht etwa auch, den Blick für all die Nuancen in der Welt schärfen? Zu erfahren, wie Begriffe und Ideen entstehen? Diskursiv das Wahre vom Falschen trennen? Die Perspektive anderer Menschen kennen lernen? Und: Ist beim Schreiben der Weg nicht oft wichtiger als das Ziel? 

Solche Fragen verleihen einem zentralen Begriff Platons Aktualität: Wiedererinnerung. Seiner metaphysischen Bedeutung entkleidet  lässt er sich so interpretieren: Die Maschine «erinnert» den Menschen daran, was er eigentlich kann. Sie hebt die traditionellen Kulturtechniken aus der unreflektierten Selbstverständlichkeit. Platon nennt das «Mäeutik»: Hebammenkunst. Sie wiese heute der Schule eine «geburtshelferische» Aufgabe zu. Diese bestünde nicht zuletzt im Wiederaufwärmen eher verpönter mündlicher Techniken wie etwa Rezitieren oder Diktat. Das hat nichts mit altem Schuldrill zu tun, sondern mit der Schärfung des Unterscheidungsvermögens zwischen dem, was der Schüler selber können, und was er an die Maschine delegieren will. Gerade das Delegieren ist ja die ständige Verführung, «sich für weise (zu) halten, statt weise zu sein». 

Sokrates wendet sich nicht radikal gegen die Schrift. Sie ist dann nützlich, sagt er, wenn sie «in der Seele des Lernenden» weiter geschrieben wird. Eine altmodische Definition echter Bildung. Versteht man sie noch?



Musks retrograder Futurismus  Elon Musk gefällt sich in der Rolle des unbändigen Futuristen – des «utopischen Anarchisten». Er investiert in...