Donnerstag, 7. März 2024

 



Nature Writing – ein missverstandenes Genre


Vor genau fünfzig Jahren sorgte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel für Perplexität in der philosophischen Welt mit seiner Frage «Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?». Eine solche Frage war ungewohnt, weil das Problem des «Fremdpsychischen», wie man es in einschlägigen Kreisen nannte, sich doch eher auf Menschen beschränkte, und die Befindlichkeit von Tieren - ihre artspezifische Perspektive – kein Thema von hohem Diskussionswert war. 

Das hat sich geändert. Die Frage ist nicht bloss philosophisch von Belang, sie führt uns eigentlich mitten ins Herz der ökologischen Krise, der Entfremdung des Menschen von der Natur. Heute lautet die Frage  nicht nur, wie es ist, dieses oder jenes Tier zu sein, sondern, wie man dieses oder jenes Tier sein kann. «Being a Beast» lautet zum Beispiel der Titel eines Buchs des britischen Tierarztes, Rechtsanwalts und Schriftstellers Charles Foster aus dem Jahr 2016 (deutsch «Der Geschmack von Laub und Erde»). Er liess sich auf ein skurriles Experiment ein. Er wollte nicht bloss ein Verhaltensforscher sein, sondern sich selbst wie ein Tier verhalten. Nicht einfach den Dachs beschreiben, sondern am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man in einer Erdhöhle haust, durch Gras und Farn kriecht, den Waldboden erschnüffelt, Würmer zerbeisst. Oder wie der Otter im kalten Bach auf Fische lauert. Oder wie der Fuchs in Stadtparks und stinkenden Hinterhöfen lebt, sich von Abfällen ernährt. 

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Bücher wie jenes von Foster begründen schon seit längerem ein eigenes Genre: Nature Writing. Kurz gesagt, handelt es sich um das Bemühen, im Zeitalter des Anthropozäns das Verhältnis Mensch-Tier sozusagen literarisch umzukehren, es aus tierlicher Perspektive zu sehen. Man sucht sich vom anthropozentrischen Blick auf das Tier zu lösen, der in der «westlichen» Kultur bislang vorherrscht. Und da dieser Blick primär von der zivilisierten Lebensweise moderner Ge-sellschaften geprägt ist, erweist sich die Frage nach dem Tiersein immer auch als implizite Kritik an einer Haltung, die das Wilde, Ungezähmte, Unkontrollierte – eben: Animalische - nicht tolerieren kann.  

Das Genre erfreut sich grosser Beliebtheit, was sich durchaus als Anzeichen einer ökologischen Sensibilität in gewissen Leserkreisen deuten lässt. Seit 2017 gibt es einen Preis für Nature Writing in der deutschsprachigen Literatur. Die Verabschiedung von einer gängigen anthropozentrischen Naturbeschreibung kann im Besonderen zu ziemlich extravaganten Beispielen führen, wie etwa der Erfahrung, von einem Krokodil fast gefressen zu werden. Die australische Ökophilosophin Val Plumwood hat dieses existenzielle Ereignis in ihrem Buch «The Eye of the Crocodile» (2013) geschildert. Sozusagen aus der Perspektive «Wie ist es, ein Stück fressbares Fleisch zu sein?» 

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Die Frage hat zweifellos das Zeug, das Selbstverständnis des Menschen zu erschüttern, indem sie ihn gewissermassen in die natürliche Nahrungskette eingliedert. Ob man auf diese Weise ein «authentischeres» Verständnis des Tierlebens gewinnt, bleibt dabei allerdings fraglich. Und so gesehen ist das Bemerkenswerteste an Charles Fosters Stunts in der Tierwelt seine ehrliche Selbstkritik. Hat das Ganze nicht eher den Charakter des Varieté-Zaubers? Foster vergleicht sich mit einem Naturschausteller. « ‘Hereinspaziert, hereinspaziert!’ rufe ich, ‘Kommen Sie und sehen Sie den Tiger. Nur 15 Dollar pro Blick.’ Aber wenn ich die 15 Dollar eingesackt und das Publikum zwischen zwei Buchdeckel gelockt habe, ist kein Tiger zu sehen – nur ein linkisches Porträt meiner selbst». Auch wenn wir also wüssten, wie es ist, eine Fledermaus, ein Dachs, ein Krokodil zu sein – und ich glaube nicht, dass wir das können -, wäre unser Wissen menschlich «kontaminiert». Wie präzise und einfühlsam – «schamanistisch» - man ein Tier beschreibt, die Beschreibung macht einen nicht zum Tier.

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Wozu auch? Eigentlich geht es im Nature Writing nicht um die Natur, sondern um die Lesbarkeit der Natur. Sie steht seit dem 17. Jahrhundert im Zeichen einer dominierenden Metapher: des Buches der Natur, das in mathematischen Lettern geschrieben ist. Darin äussert sich, etwas allgemeiner formuliert,  der Anspruch, die Natur am besten in der objektivierenden wissenschaftlichen Sprache zu verstehen. Und als Repräsentantin dieses Anspruchs gilt die Frage aus der ethologischen Distanz «Wie verhält sich ein Tier in seiner Umwelt?». Sie klammert genau die andere Frage «Wie ist es, ein Tier zu sein?» aus. Paradox daran ist, dass man die Frage letztlich nicht beantworten kann, und sie trotzdem immer wieder stellt, als ob sich darin eine tiefsitzende Sehnsucht nach dem nichtmenschlich Anderen äusserte. Man versucht, in der Imagination auf die «andere Seite» der Natur hinüberzusetzen. Wie das traditionellerweise die Fabel tut. 

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Letztlich ist Nature Writing nicht alternative Naturkunde, sondern antwortet auf einen Befund, den man Naturanalphabetismus nennen könnte. Davon berichtet der britische Schriftsteller Robert Macfarlane in seinem Buch «Landmarks» (2015). Er weist auf ein Symptom des Naturanalphabetismus hin. Der Oxford Junior Dictionary, ein Nachschlagewerk für Kinder, hat eine Vielzahl von Wörtern für die Natur getilgt. Sie seien für ein Leben in den heutigen Umwelten nicht mehr relevant: zum Beispiel Eichel, Kreuzotter, Esche, Buche, Weidenkätzchen, Löwenzahn, Heide, Efeu, Mistel Wiese. An ihrer statt nimmt der Diktionär jetzt Begriffe auf wie Attachment, Block-Graph, Blog, Breitband, Chatroom, MP3-Player, Voice-Mail. 

Nichts drückt den fundamentalen Wandel gegenüber unserer Umwelt drastischer aus als dieser Vokabularwandel. Eine unscheinbare, aber symptomatische Verschiebung. Wie Macfarlane schreibt, manifestiert sich darin nicht nur ein Wahrnehmungsschwund, sondern auch der Verlust einer «Art von Wortmagie: einer Kraft, die bestimmte Begriffe besitzen, um unser Verhältnis zur Natur und ihren Orten zu verzaubern.» Wir vermüllen die Natur nicht zuletzt dadurch, dass wir das Vokabular der Imagination zum Abfall werfen. Wir bemerken nicht, dass Sprachverödung nur eine Seite der Naturverödung ist. 

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Und genau hier, im Arbeiten gegen diesen Trend, gewinnt Nature Writing meines Erachtens seine genuine Bedeutung. Das Genre weitet seinen Horizont über das Organische hinaus. So beschreibt zum Beispiel die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky in ihrem Buch «Schiefern» (2020) poetisch ehemalige Schieferabbaugebiete auf den Hebriden. Verlassenes, steiniges, postindustrielles Gelände, dem sie zu «schiefriger Mundart» verhilft, indem sie dafür eine Sprache schafft. Sie hat auch gleich einen Gattungsbegriff kreiert: «Geländeroman». Und zwar in ausdrücklicher Absetzung von einem «lyrischen» Landschaftsbild, das in der Regel die Verbundenheit von Mensch und Natur evoziert.  Bei Kinsky existiert sie nicht. Vielmehr zeigt ihr literarisches Lapidarium gerade das Gegenteil: nicht die Reanimierung einer vermeintlich ursprünglichen Familiarität alles Lebenden, sondern die Relikte eines unaufhaltsamen Kahlschlags unserer Umwelten. Gerade diese Art von Nature Writing macht Verlusterfahrung lesbar. 

Es verschwinden nicht nur biologische Arten, es verschwinden auch linguistische Arten. Biodiversität heisst immer auch Sprachdiversität. Naturpflege ist Sprachpflege. Sprache ist fähig, zum Sehen zu verhelfen. Wie die Schriftstellerin Marion Poschmann – ebenfalls im Genre tätig - bemerkt, kann gerade die Literatur «den (nichtpekuniären) Wert der verschwindenden Lebens-räume, der verschwindenden Arten vor Augen führen». Zu dieser Wertschöpfung trägt die Wortschöpfung bei. Ökologie ist immer auch Ökopoesie. 







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