Sonntag, 25. September 2022










Der alte Mann und der Tisch

Peter Bichsel meets Saul Kripke



«Warum heisst das Bett nicht Bild», fragte sich der alte Mann in Peter Bichsels Kurzgeschichte «Ein Tisch ist ein Tisch». Eine eminent philosophische Frage. Sie bewog den alten Mann zu einer radikalen Umdeutung der Wörter. «‚Jetzt ändert es sich’, rief er, und er sagte von nun an zu dem Bett ‚Bild’. ‚Ich bin müde, ich will ins Bild’, sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun zu dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl ‚Wecker’. Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin.» Allerdings lief etwas ziemlich schief in dieser Geschichte. Was als Befreiung vom Korsett der Alltagsprache begann, endete in totaler Vereinsamung und Verständnislosigkeit. Weil der alte Mann nicht begriff, wie Wörter mit Dingen zusammenhängen.


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Wie und warum «haften» Wörter an Dingen? Woher die «Notwendigkeit», die Wörter mit Dingen verknüpft? Diese Fragen stellte der kürzlich verstorbene amerikanische Sprachphilosoph Saul Kripke, ein verschrobenes Wunderkind, das in der Öffentlichkeit kaum bekannt war, aber in einschlägigen Kreisen – in der Analytischen Philosophie - als einer der genialsten Denker des 20. Jahrhunderts gilt. 


Einem Kind, dem wir das Wort «Tisch» lehren, setzen wir am Anfang konkrete Beispiele vor: dies da ist ein Tisch, und dies dort ist auch einer, jenes dort aber ist kein Tisch. Das Kind navigiert anhand solcher Beispiele nicht auf «die» Bedeutung von Tisch zu, es übt sich ein in ein linguistisches Sozialverhalten, in ein – wie Ludwig Wittgenstein sagte – Sprachspiel. Kripke hat sich intensiv damit beschäftigt, weshalb man ihn mit dem Kofferwort «Kripkenstein» beehrte. Und er stiess auf ein Paradox, um das auch Bichsels Ge-schichte kreist.  


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Es betrifft Regelbefolgen und -brechen. Wenn Sprache ein Spiel ist, dann hat sie offen-sichtlich Regeln. Lernt das Kind Regeln? Es verwendet das Wort «Tisch» 20-mal korrekt, und nun beim nächsten Mal falsch. Verstösst es gegen eine Regel? Was für eine Regel? Kripke gibt ein Beispiel. Ein Kind hat das Addieren von Zahlen gelernt, die nicht höher sind als 57. Nun soll es 58 und 7 addieren. Wir gehen davon aus, dass es die bereits geübte Regel kennt und die Summe korrekt bildet: 65. Stattdessen sagt es: 5. Wir deuten dies so:  Das Kind hat das Addieren noch nicht richtig gelernt. Aber was heisst «richtig»? Könnte es nicht sein, so Kripke, dass das Kind einer anderen Regel folgt und das Pluszeichen in einer ungewohnten Bedeutung verwendet. Es addiert Zahlen nicht, sondern «quaddiert» sie: Zahlen bis 57 addiert es auf übliche Weise, für alle Zahlen über 57 ist die Summe 5. 57 «quaddiert» mit 7 =  64, 58 «quaddiert» mit 7 = 5. Korrekt. 


Philosophen finden oft einen Spass darin, uns mit skurrilen Beispielen aus dem Schlummer des Gewohnten aufzustören. So auch das Beispiel von Kripke Es soll uns zeigen: Für jede Abweichung von der Standardregel gibt es eine Regel, mit der man das abweichende Verhalten in Übereinstimmung bringen kann. Also nützt uns der Begriff der Sprachregel nicht viel. Das führt natürlich zur Frage: Worauf berufen wir uns, wenn wir sagen, das Kind rechne falsch? Oder der alte Mann verwende die Wörter falsch? Vorausgesetzt, die Bedeutung des Pluszeichens hänge von einem Regelbefolgen ab, dann ist das Pluszeichen nicht eindeutig. Und gleiches lässt sich von jedem Zeichen, jedem Wort sagen. Wie können wir dann sicher sein, dass der alte Mann falsch liegt, wenn er das Wort «Teppich» für seinen Tisch gebraucht? Dass eine Person überhaupt ein Wort versteht?


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Die Bedeutung eines Wortes hängt so gesehen in der Luft. Können wir sie beliebig ändern? Kehren wir noch einmal zum Kind zurück, das die Bedeutung des Wortes «Tisch» anhand von Testbeispielen lernt. In der Terminologie der Künstlichen Intelligenz liesse sich sagen: Es lernt die Bedeutung «überwacht», bis zu einer Schwelle, wo das Lernen «unüberwacht» weitergeht.  Die Bedeutung sinkt als Automatismus ein in den Körper. Das Kind versteht sich darauf, das Wort anzuwenden, ohne zu verstehen, wie es das tut. Solche Automatismen sind der Rumpf des Sprachgebrauchs, des Regelbefolgens. Wir befolgen die gelernten «inkorporierten Regeln» quasi-instinktiv, als wären sie Teil unseres körperlichen Verhaltensrepertoires geworden. Wir müssen nicht ständig überlegen, ob dieses Ding da ein Tisch ist, wir identifizieren es unmittelbar als Tisch. 


Natürlich können wir uns täuschen. Und natürlich gibt es die Abweichungen, die Renitenz und Resistenz gegen das «Diktat» des normalen Sprachgebrauchs – etwa im Jargon, in der Geheim- oder Gaunersprache, in der Lyrik. Bichsels alter Mann rebelliert gegen die «Langeweile» des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Aber auch hier wird das Funktionieren der Automatismen am Grund der Sprache vorausgesetzt. In der vermeintlich privaten Sprache redet die öffentliche mit. «Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte. Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er musste die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er musste lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen».


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Damit stossen wir auf das Kernproblem. «Es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen». Der alte Mann fällt mit seinem Verhalten aus der Sprachgemeinschaft. So wie das Kind, das «quaddiert», Schwierigkeiten in vielen Alltagstransaktionen haben dürfte (heute könnte es allerdings auf das Handy zurückgreifen). Die Bedeutung eines Wortes ist etwas Gemeinschaftliches, wie die Geldwährung, das Autorenrecht, die Menschenwürde. Kommunikation heisst auch «Kommunion». Dadurch hat sie einen normativen Aspekt. Im Wort steckt ein Standard: Du sollst mich so gebrauchen! Und ein Standard für eine einzige Person ist unsinnig. 


Man teilt die Bedeutung der Wörter und dadurch kann man sich mitteilen. Der Mann in Bichsels Geschichte entzieht sich diesem Mitteilen. Er gebraucht Wörter willkürlich anders, «einfach so». Wer aber den Wörtern konsequent und radikal einen privaten Sinn verleihen will, entzieht ihnen jeglichen Sinn. Die Sprache ist ein Haus, und wer sich um die Ordnung foutiert, kann unbehaust werden. 


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Das heisst, wir lernen nicht einfach Wörter, wir lernen Wörter im Zusammenhang mit Din-gen. Ein bestimmter Sprachgebrauch bedeutet auch einen bestimmten Gegenstandsgebrauch. Das Wort «Tisch» zu gebrauchen, meint, einen Tisch richtig zu gebrauchen. Wenn wir zum Beispiel «Tisch» auf einen Stuhl anwenden, meinen wir damit, dass der Stuhl unter Umständen auch als Tisch gebraucht werden kann; wir kennen dabei einigermassen die Funktionen des Tisches. Womöglich können wir in diesem Sinn auch ein Bett «Tisch» nennen, oder einen Spiegel, indem wir die Gegenstände umfunktionieren, aber bei einem Wecker oder einer Stehlampe wird dies schon schwieriger. 


Der alte Mann definiert sich mit seiner eigenwilligen Wort-Ding-Zuordnung aus einer Gegenstandsordnung heraus. Die Dinge werden ihm fremd, und er wird in der Ökologie des Gewohnten fremd. Das kann ein gewollter künstlerischer Akt sein, der die Dinge in neuer Perspektive buchstäblich erscheinen lässt – zu Phänomenen macht - , aber das begründet keine beständige Lebensform. Im Gegenteil: Dadurch entzieht man sich dem Leben, weil das Leben immer auch durch repetierten und routinierten Gegenstandsgebrauch bestimmt ist. Am Ende weiss der alte Mann nicht nur nicht mehr, was aus seinem Mund kommt, sondern auch nicht mehr, was er in den Händen hält. Sprache ist eine kapriziöse, mitunter tückische Gefährtin. Man kann mit ihr eine Welt gewinnen; man kann auch eine Welt verlieren. Ich glaube, Kripke hätte an Bichsels Geschichte seine vertrackte Freude gehabt. 

















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