Donnerstag, 15. April 2021


 Neu im Herbst 2021




Vorwort

Die vorliegende Essaysammlung dreht sich um das Thema ökologisches Denken und Mikrobe. Und sie weckt sofort Reserve: Schon wieder ein Buch über die Krise, wenn wir doch noch mitten drin stecken? Deshalb sei eine kleine Erläuterung vorangestellt, um falsche Erwartungen gleich am Anfang zu dämpfen. Es geht in den folgenden Stücken zwar immer auch um Ökologie und Viren, primär aber um Verhaltens- und Denkweisen, die sich unter den Bedingungen der Pandemie radikal herausgefordert sehen. Ich will damit nicht die Pandemie zur alleinigen Urheberin dieser Herausforderung erklären. Sie gehört latent seit gut fünfzig Jahren zum Planeten „in der Krise“. Das Coronavirus hat diese Latenzphase nur dramatisch beendet. 

Und es hat unser ökologisches Denken kalt erwischt. Nachdem der Naturwissenschafter James Lovelock die Erde als einen Geo-Organismus postulierte – „Gaia“ – und der Philosoph Bruno Latour eine neue planetarische Gemeinschaft und „Solidarität“ aller Lebewesen heraufbeschwor, machen plötzlich die kleinsten und primitivsten Mitglieder dieser Gemeinschaft unliebsam von sich reden: die Mikroben. Und aus der selbstattestierten fort-geschrittenen Position unseres modernen Lebens heraus stellen wir perplex fest: Diese primitiven Dinger können unsere komplexe Lebensform ja ganz schön durcheinanderbringen. Wir richteten unser alarmiertes Augenmerk bisher auf die Makro-Skala des Klimawandels, und vernachlässigten sträflich die organische Mikro-Skala im gesamtplanetarischen „oikos“, dem Haushalt der Erde. Jetzt stellt sich heraus: Unser Planet ist ein gewaltiger Keimträger. Und ökologisch sein bedeutet, auch mit den kleinsten Mitbewohnern zu rechnen. In Zukunft wahrscheinlich erst recht. Das schliesst selbstverständlich nicht aus, sich vor ihnen zu schützen, oder sie unschädlich zu machen. Es bedeutet, dass wir, wenn wir heute unbescheiden das Erdzeitalter des Anthropozäns ausrufen, uns von den Mikroben in der Sprache der Epidemien belehren lassen müssen: Uns gibt es seit über drei Milliarden Jahren.  Willkommen im Viro- und Bakteriozän! 

Ich werfe im Folgenden einen Blick auf ein paar zentrale Konzepte, die primär dem biomedizinischen Diskurs entstammen, die nun aber infolge der Umstände sozusagen auch den kulturellen Diskurs „infizieren“. Das ist seit Michel Foucault längst bekannt. Und ihn lasse ich denn auch aussen vor. Ich möchte vielmehr den inspirierenden „philosophischen“ Charakter des Virus hervorheben, die Art, wie es unser Denken über Altbekanntes anregen könnte und müsste: über Immunität, Infektion, Identität, Isolation, Eigenes und Fremdes, Zufall, Komplexität, Ungewissheit und Unbekanntes, Natürliches und Unnatürliches, Reinheit und Dreck. 

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So nimmt im Zeichen des Coronavirus die Diskussion über die Bedeutung der Immunität Fahrt auf, das heisst, über das bisher vorherrschende Paradigma der Abwehr. Es zeichnet den menschlichen Körper als eine Festung, die sich bereits auf zellulärer Ebene stets gegen fremde Eindringlinge wehrt. Dieses Paradigma sieht sich schon seit einiger Zeit herausgefordert durch ein anderes, das nicht bloss den defensiven Aspekt der Immunantwort thematisiert, sondern auch den explorativen. Die Abwehrzellen des Körpers dienen, kurz gesagt, ebenfalls der Erforschung der Körperumgebung, sie erkunden die potenziell gefahrvollen Eigenschaften dessen, was eindringt, sie „lernen“ daraus und definieren recht eigentlich die Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst. 

Infektion bedeutet in diesem Bild also stets auch Information – Information über einen potenziellen Schädling oder Feind. Wenn Immunisieren einerseits Grenzziehen bedeutet, dann andererseits auch Grenzerkundung. Das ist im Übrigen genau das, was der „Intelligence“ eines Nachrichtendienstes obliegt: Information sammeln über den potenziellen Feind - über nationale Grenzen hinweg. Das Immunsystem ist die CIA des Körpers. 

Der britische Medizinanthropologe David Napier bringt das evolutionäre Paradox auf den Punkt: Wenn der Schutz vor fremden Eindringlingen ein einfaches darwinistisches „Ziel“ ist; warum brauchen wir Schutz vor etwas, das gar nicht lebt und angewiesen ist auf seine Animation durch uns? Viren sind einfach Informationsstrukturen, die über Jahrtausende hinweg inaktiv bleiben können, bis unsere Zellen sie zum „Leben“ erwecken, zu unserem Nutzen oder Schaden. 

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In der Coronakrise scheint auch ein neualter Diskurs wieder zu erwachen. Er entstammt dem religiösen Umfeld, und er munitionierte früher die Menschen mit Erklärungen von Kalamitäten und Katastrophen: der Diskurs der Strafe und Rache. Religiöse Schutzmass-nahmen beriefen und berufen sich immer auf Bitt- und Bussrituale, in denen man Gott quasi ins Abwehrdispositiv einbaut. Im säkularen Kontex, in dem wir heute leben, darf man solche Massnahmen füglich als unwirksam und – wenn kollektiv vorgeschlagen – als fahrlässig betrachten. Über der Frage, ob Impfen ein Ersatz dafür sei, liegt man sich heute bekanntlich in den Haaren. 

Komplementär zum Straf- und Rachediskurs suggeriert der Jargon der Natürlichkeit, dass nur ein „naturgemässes“ Leben Schutz und Überleben gewährt. Hier wird die Natur nicht als Rächerin, sondern als Retterin evoziert. Man findet dieses Argumentarium jetzt häufig bei Gegnern des Impfens und anderer „unnatürlicher“ biomedizinischer Techniken. Eine Grundannahme scheint stets durch: Der Körper „weiss“ es besser. Im Grunde findet sich auch hier wiederum das Begriffspaar des Eigenen-Fremden, des eigenen Körpers und der fremden, ihm „auferzwungenen“, seine „Freiheit“ in Frage stellenden Substanzen.

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Das Coronavirus hat binnen kurzem unsere Verhaltensweisen gründlich umgekrempelt. Verhaltensweisen sind grösstenteils Berührungsweisen. Der Händedruck ist eine Berührungseinheit, wie ein Kuss, eine Umarmung, ein High Five, ein Schulterklopfen. Wahrscheinlich entspringt er einem angeborenen Impuls nach körperlichem Kontakt mit der Umwelt. Zugleich steckt in ihm eine Ambivalenz, denn wir erfahren schon von klein auf, dass dieser Kontaktdrang auch Gefahren mit sich bringt. Wir erfahren jetzt, dass die Hände selbst zu einer Gefahr werden, etwas möglicherweise geheim Tödliches enthalten. Wie ein Arzt von der Mayo-Klinik sagte: «Wenn du die Hand ausstreckst, streckst du eine Biowaffe aus.» Weshalb Anthony Fauci sich zur trüben Aussicht veranlasst sah: «Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass wir uns jemals wieder die Hände schütteln werden.»

Das Jahr 2020 wird uns wohl in Erinnerung bleiben als ein globales Experiment im Distanzhalten. Wir exilieren uns zuhause, verdächtigen schon fast instinktiv die Nähe des anderen Menschen als Gefahrenherd. Der Lockdown erinnert uns daran, wie eng und stark unser Körper – sprich: unser Ich -  mit seiner Umwelt verschränkt ist. Wir leben körperlich in einer Ökologie der Verhaltensweisen und Gewohnheiten. Ein Körperteil gehört nicht nur anatomisch zu mir, er ist in einen persönlichen Verhaltensspielraum eingebettet. Zum Bei-spiel meine Hand: Sie definiert nicht mein Verhalten, mein Verhalten definiert sie. Einen Leib haben, schrieb der Philosoph Maurice Merleau-Ponty verallgemeinernd, „heisst für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu zuzugesellen, sich mit einem bestimmen Vorhaben zu identifizieren und sich darin ständig zu engagieren.“ Genau dies trifft auf die Entzugserfahrung vieler Menschen in der Pandemie zu: Sie finden nicht mehr zu „ihrem Milieu“ – im Club, im Stadion, in der Gesprächsrunde, in der Familie. Sie erfahren sich als entsprechend verhaltens-amputiert und damit als körperlos.

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Epidemien sind episodisch. Sie haben einen Anfang und ein Ende. Das verleitet zum Fehlschluss, dass nach dem Ende „alles vorbei ist“. Man könnte von der Illusion der fortgesetzten Normalität sprechen. Ich möchte diese Sichtweise sozusagen umstülpen: Der Normalfall ist ein kurzfristiger „glücklicher“ Zeitabschnitt in einer fortlaufenden Abfolge von nicht-normalen Ereignissen. Auf eine Formel gebracht: Die Ausnahme ist die Regel.  

Gemünzt auf hochtechnisierte Gesellschaften heisst das:  Das Epidemische - das „über das ganze Volk Verbreitete“ – ist nicht episodisch, sondern chronisch. Und dies aufgrund der komplexen Verkehrs-, Produktions-, Verteilungs-, Energieversorgungs-, Finanz-, Kommunikationsnetze. Je vernetzter ein System, desto anfälliger und leitfähiger wird es für die Ausbreitung lokaler Störungen. Es herrscht nicht die lineare Kausalität, sondern die Netzkaskade: die Störung verstärkt sich. Ein Virus bricht aus seiner ökologischen Nische aus und verursacht eine Pandemie; ein Baum fällt bei einem Gewitter auf eine elektrische Leitung und legt die Kommunikation eines Landesteils lahm; ein Bot infiziert das Internet der Dinge und die Dinge spielen verrückt. Hohe Vernetztheit bedeutet auch hohe Verletzlichkeit. Zu dieser Verletztlichkeit gehört unsere Ungewissheit angesichts von Situationen, wie wir sie gerade in der Pandemie erleben. Hier haben wir es mit zwei Fragedimensionen zu tun, einer biologisch-epidemiologischen und einer soziologisch-politischen: Was wissen wir über das Virus und seine Verbreitungswege? Und: Was wissen wir über die gesellschaftlichen Kollateralfolgen der Pandemie?  

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Das führt zur generellen Frage nach der Handhabung der Ungewissheit in der Zukunft. Gerade das launische Verhalten des Coronavirus zeigt ja, dass es unseren Abwehr- und Vorbeugemassnahmen immer voraus ist, ja, dass womöglich gerade der „Selektionsdruck“ solcher Massnahmen es zu Mutationen veranlasst. Auch hier kommt die ökologische Vernetztheit zum Vorschein. So wie wir auf das Mikrobiom einwirken, so wirkt es auf uns zurück. Das kann symbiotische, aber auch dysbiotische Folgen haben. Erklärungen mit einfachen kausalen Einwegverbindungen greifen hier zu kurz. Wir befinden uns, anders gesagt, auch in einer epistemologischen Krise. Sie äussert sich wissenschaftsintern zu-nächst einmal im wiederholten Eingeständnis der Forscher, wie wenig sie wüssten, in Appellen an die erkenntnistheoretische „Demut“, in Debatten über Möglichkeiten und Gren-zen bestimmter wissenschaftlicher Methoden - vor allem der intensiv datenbasierten. Ex-tern beobachten wir eine wachsende, man möchte fast schon sagen: epidemische Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen Experten und den Griff zu selbstgestrickten Theorien, vorzugsweise konspirativer Art. Dieser antiwissenschaftliche Reflex kann sich als verhängnisvoll herausstellen, sollte er in Zukunft die wissenschaftliche Zuverlässlichkeit immer mehr unterminieren. 

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Hier meldet sich schliesslich auch das Szenario der „letzten Seuche“, wie es der Virologe Nathan Wolfe nennt.  Man kann es optimistisch oder pessimistisch interpretieren. In der ersten Interpretation triumphiert schliesslich die Wissenschaft dank ihrer Fortschritte, sie wird Herrin der Epidemien. In der zweiten wird uns die Mikrobe beherrschen, in dem Sinn, dass sie zur Selbstauslöschung des Menschen, zum Omnizid führt. Diese apokalyptische Vision ist „romantischen“ Ursprungs. Man muss sie nicht wörtlich nehmen, aber sie bringt doch als ein Memento klar die prekäre Stellung des Menschen auf diesem Planeten zum Ausdruck.  

Ich beschwöre hier – um dies zum Schluss gleich vorweg zu betonen - kein postpandemisches Szenario, weder eine neue noch eine alte „Normalität“. Ich schlage vielmehr ein neu-es Motto für ökologisches Denken vor: Ende der Keimfreiheit. Was sich über das Leben auf unserem Planeten sagen lässt, kann auf unser Denken übertragen werden. Es findet nie in aseptischen Räumen statt, es muss ansteckender Herd sein, es lässt sich nur begrenzt „purifizieren“. Die „reine“ Vernunft gibt es nicht. Menschliches Denken ist immer kontaminiert, „verdreckt“. Und „sauberes“ Denken“ schafft den Dreck einfach anderswo hin. Was wir brauchen, ist ein Denken sub specie sordis – ein Denken unter dem Gesichtspunkt des Drecks. Die Mikrobe ist unsere Lehrmeisterin. 





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