Sonntag, 2. Juli 2017

Fakt und Fake in der Medizin






NZZ, 27.6.2017

Es gibt nicht nur alternativen Fakten, es gibt bekanntlich auch alternative Heilpraktiken. Sie schiessen immer noch üppig ins Kraut. Immer noch, weil wir uns zwar seit etwa anderthalb Jahrhunderten einer vertrauenswürdigen Medizin mit naturwissenschaftlicher Theoriebasis und effizienten Heiltechnologien erfreuen, das Terrain des Heilens dennoch von einem Netz „submedizinischer“ Strömungen unterspült wird, in denen es nur so wimmelt von Handauflegern, Geistheilern, Tinkturenmischern und anderen nachtschattigen Gesundheitshausierern.

Eigentlich handelt es sich hier um ein Paradox. Nennen wir es die Wirksamkeit des Unwirksamen. Die Wissenschaft findet keinen Nachweis für die Wirksamkeit eines Heilverfahrens – und trotzdem glauben viele Leute daran, ja: scheint es sogar zu wirken. Das Phänomen wirft ein Licht auf ein fundamentales Problem der Medizin, das gerade heute, im Zeitalter des „Fake“, eine akute Bedeutung erhält.

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Der amerikanische Philosoph William James hat vom „Willen zum Glauben“ gesprochen. Er ist, so James, stärker als unsere Vernunftmittel. In der Medizin äussert sich dieser Glaube ja auch ganz offensichtlich im Placeboeffekt. Es gibt den Willen zum Heilen und Gesundwerden. In einer Person, die an einer Krankheit oder einem Defizit leidet, kann dieser Wille ungeahnte Kräfte freisetzen. Vor allem ein Todkranker wird, auch wenn er nicht an Wunder glaubt, doch vom Gefühl geleitet „Warum nicht?“ Optimismus assistiert jedem Heilverfahren.

So weit, so trivial. Nicht trivial wird die Sache, wenn dieser Glaube mit wissenschaftlichen Tests interferiert. Ich kann füglich glauben, dass ein Mittel wirkt, auch wenn die Wirkung nicht objektiv nachgewiesen ist. Und genau hier gilt es, wachsam zu sein.

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Der menschliche Körper ist eine natürliche Wundermaschine der Selbstheilung. Darauf beruhte der Erfolg der Medizin vor dem 19. Jahrhundert grösstenteils. Das heisst: Wenn die Medizin heilte, dann oft trotz ihrer Eingriffe. Nun ist die Medizin effektiver geworden, aber auch heute neigen wir zu einem Fehlschluss, den man mit folgendem Beispiel veranschaulichen kann: Wenn du ein Glas Wasser gegen Kopfweh nimmst, und du fühlst dich danach besser; dann hat das Wasser die Besserung verursacht. – Kann sein, muss aber nicht.

Das ist ein Beispiel für unser „Kausalitäts-Bias“. Wir neigen dazu, all das, was geschieht, nicht einfach nach dem Muster des Nacheinander, sondern des Wegeneinander zu interpretieren. Die neuere Geschichte der Medizin ist voller vorschneller Kausalitäts-Unterstellungen; vom Zusammenhang zwischen Verstopfung, Selbstvergiftung und Krankheit, postuliert vom britischen Chirurgen Sir Arbuthnot Lane anfangs des letzten Jahrhunderts, über Linus Paulings Glaube an die Wirksamkeit von Vitamin C gegen Krebs, bis neuerdings zum Zusammenhang zwischen Impfen und Autismus, postuliert von Andrew Wakefield, einem in die USA ausgewanderten britischen Arzt. Wir wollen ein Wirken sehen - auch wenn keine Wirksamkeit da ist.

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Ein anderer Grund für die Illusion der Wirksamkeit liegt in einer Marketingtaktik: Gib das Scheitern als Erfolg aus. Die krudeste Version ist die, Misserfolge einfach unter den Teppich zu kehren; oder man präsentiert spontane Remissionen als Scheinsupport für die Behandlung; gang und gäbe ist auch, eine Theorie aufzustellen, die hilft, Misserfolge umzudeuten. „Holistische“ Heilpraktiken gehen davon aus, dass immer die Ganzheit Körper-Psyche-Geist an der Krankheit beteiligt ist. Ein Credo lautet: „Es ist wichtiger zu wissen, welche Art von Patient die Krankheit hat, als zu wissen, welche Art von Krankheit der Patient hat.“ Solche Ganzheitstheorien umhüllen sich mit einer Aura der Plausibilität, die Adhoc-Erklärungen erlaubt. Besonders dreist, wenn nicht gar rechtserheblich muten Behandlungen an, die sich gleich Selbstabsolution erteilen, im Sinne der Falsifikationslogik: Wenn eine Behandlung beim Patienten nicht anschlägt, dann liegt der Fehler beim Patienten, nicht bei der Behandlung. Es sei daran erinnert, dass vor der Entdeckung des Tuberkelbazillus oft den Kranken die „Schuld“ für ihre Turbekulose gegeben wurde.

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Moderne Medizin ist beeindruckend erfolgreich in ihren lokalen Interventionen: etwa in der Tumoroperation, in der Reparatur von Nervensträngen, im Einsatz von Antibiotika. Sie kümmert sich um den Patienten als physiologischen Komplex, relativ wenig um den Patienten als Person. Aus diesem Manko gewinnen alternative Behandlungsmethoden ihre Bedeutung und ihren Zuspruch. Sie sind „nichtlokal“. Es geht um „Wellness“, „Mindfulness“, „Biofeedback“. Nun, fragt man, wer strebt nicht danach? Und da lauert die Plausibilitätsfalle, der reichlich ausgestrichene Leim, auf den man kriechen kann. Dieser Leim heisst Mehrdeutigkeit. Alternative Praktiken kaprizieren sich meist auf diffuse, nicht direkt verifizierbare Kriterien. Auch wenn ein spezifischer Heilerfolg ausbleibt - Unspezifisches geschieht immer. Das Mittel gegen Fettleibigkeit hilft nicht, aber ich habe jetzt meine innere Balance gefunden; also hat das Mittel doch „irgendwie“ gewirkt. Ich nenne dies den Trugschluss der unspezifischen Wirksamkeit. Je diffuser die Erfolgskriterien einer Behandlung, desto „erfolgreicher“ erscheint sie. Ein Trick der Scharlatane.

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Es gehört schon fast zur Folklore, alternativen Heilmethoden ihre mangelnde „evidence“ vorzuhalten. Nun sollte man sich freilich hüten, im wissenschaftlichen Eifer das „Fake“-Etikett überall da anzubringen, wo eine akzeptierte Fakten- oder Evidenzbasis fehlt. Der wissenschaftlichen Medizin erwächst in der Tat selbst auch ein „Fake“-Problem, paradoxerweise gerade infolge einer Überfülle an „evidence“.

Wir kennen Nachrichten des Typus’ „Ein Forscherteam der Universität X hat herausgefunden, dass die Adoption eines Kindes bei unfruchtbaren Paaren die Wahrscheinlichkeit erhöht, selber ein Kind zu zeugen“. Eine obstetrische Entdeckung? Klinische Studien haben sie widerlegt. Trotzdem fluten uns News dieser Art täglich an, weil Forscher in immensen Datengewässern fischen und mit dem Netz effizienter statistischer und computerisierter Methoden eine Unmenge Korrelationen fangen können. Das ist zwiespältig. Die wissenschaftliche Medizin erhält mit einer grösseren Datenbasis Aussicht auf grössere Ausbeute. Gleichzeitig fördert dies aber eine Forschungsmentalität, die statistisches Denken überbewertet.

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Statistiker kennen den Fehlertypus des „falschen Positiven“: Man präsentiert einen Fischfang aus einem Gewässer, wo es gar keine Fische gibt. Falsche Positive sind umso unvermeidbarer, als die Datenmassen ins Grenzenlose wachsen. Der Epidemiologe John Ioannidis kritisierte schon 2005 die biomedizinische Forschung in einem Paper mit dem Titel „Warum die meisten Resultate falsch sind“. Sein Befund: Statistische Signifikanz bedeutet nicht kausale Relevanz. Viele Studien sind von einem laxen Erfolgskriterium geleitet, das zuviele Scheinentdeckungen erlaubt; im Besonderen Resultate, die sich nicht replizieren lassen. Man spricht heute nachgerade von einer Replikationskrise. Korrelation ersetzt kausales Denken – das ist die Losung der Big-Data-Evan­gelisten. Und sie kennzeichnet exakt die Mentalität einer postfaktischen Medizin.

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Heilverfahren haben drei Seiten: die gute, die schlechte und die unbekannte. Die dritte ist nicht zu unterschätzen. Es gibt mehr Dinge auf dem Feld des Heilens als Schul- und Alternativmedizin sich erträumen; gerade in der diffusen Grauzone zwischen Physis und Psyche. Weder behaupte ich also, dass alternative Behandlungen tutti quanti wirkungslos sind, noch unterstelle ich, dass mit statistischen Methoden per se Fake-Entdeckungen produziert werden. Die Wirksamkeit des Unwirksamen ist Aspekt eines allgemeineren Phänomens, nämlich der Wissensillusion: Wir wissen weniger als wir zu wissen glauben. Der Satz müsste uns als Memento im Zeitalter des „Fake“ begleiten. Die Lektion daraus wäre ein bescheidenes, aber umso kämpferischeres „Guck nochmals hin, Dummkopf!“


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