Grimms Wörterbuch zitiert unter „Thatsache“ einen Text Lessings aus dem
Jahre 1778: „Das wörtlein ist noch so jung, ich weiss mich der zeit ganz wohl
zu erinnern, da es noch in niemands mund war. aber aus wessen munde oder feder
es zuerst gekommen, das weiss ich nicht (..) noch weniger weiss ich, wie es
gekommen sein mag, dass dieses neue wörtlein ganz wider das gewöhnliche
schicksal neuer wörter in kurzer zeit ein so gewaltiges glück gemacht hat; noch
wodurch es eine so allgemeine aufnahme verdient hat, da man in gewissen
schriften kein blatt umschlagen kann, ohne auf eine thatsache zu stossen.“
Heute müsste Lessing wohl auf ein anderes Wörtlein verweisen, welches das
„gewaltige Glück“ gemacht hat, zum Wort des Jahres 2016 gekürt worden zu sein.
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Wir wären gut beraten, uns wieder einmal auf das Wort „faktisch“ oder
„Faktum“ zurückzubesinnen. Zumal Fakten eine neuzeitliche Erfindung sind. Es
gibt kein vormodernes Wort für „Faktum“. Die Griechen sprachen von „dem, was
ist“ (to hoti); im Lateinischen gibt es die „res“, die Sache; die
mittelalterlichen Philosophen bevorzugten den Suspens des Konjunktivs und
fragten, „ob etwas sein könnte“ (an sit). In einer typisch vormodernen
Bedeutung des Wortes schwingt – wie in der deutschen „Tatsache“ – die
Täterschaft mit. „Matter of fact“ ist eine Sache der Tat: Täter-Sache. Das „factum“
benötigt einen Akteur. Sogar im Pflanzenreich.
So beschreibt zum Beispiel ein Autor des 17. Jahrhunderts den
Heliotropismus der Sonnenblume als „a thing done“, als „matter of fact“, wie
wenn die Pflanze Subjekt ihrer Hinwendung zur Sonne wäre.
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Die moderne Bedeutung des Faktums liegt nicht darin, dass es
Täterschaften unterstellt, sondern als erkenntnistheoretische
Appellationsinstanz, als Zeuge vor dem Tribunal wissenschaftlicher
Urteilsbildung fungiert. Das war für eine ideologisch und religiös tief
zerrüttete Epoche wie das 17. Jahrhundert revolutionär. Man kann diese Funktion
als Appellationsinstanz nicht genug hoch einschätzen. Sie hat den modernen
experimentellen Forschungsstil ermöglicht. Und zwar ist für die Geschichte des
Faktums nicht so sehr das Experiment das herausragende Merkmal, sondern seine
Replikation. Die neuen Naturphilosophen des 17. Jahrhunderts wurden nicht müde,
zu betonen, dass weder die Autorität alter Gelehrsamkeit noch der isolierte
Augenzeugenbericht hinreichen, um eine Behauptung als Faktum zu legitimieren,
sondern die Bestätigung durch andere Zeugen. Obwohl Galilei von „verità del
fatto“ sprach, war sein Fallgesetz kein Faktum, als er darüber im „Dialog“
berichtete. Marin Mersenne in Paris versuchte, Galileis Messungen zu
wiederholen, scheiterte aber. Grund: Er verwendete andere Masseinheiten als die
Elle (braccio); zudem gab es verschiedene Ellen, die Florentinische, die
Venezianische und andere. Solange also keine Standardisierung der Einheiten
bestand, konnte auch nicht von Fakten gesprochen werden.
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Fakten brauchen Standards, Regeln, Kommunikationsformen. In Anlehnung an
Wittgensteins Sprachspiel könnte man sagen: Fakten sind die Elemente eines agonalen Spiels, eines Wettkampfs – „Agon“
- der Argumente. Wir spielen viele solche Spiele, in Wissenschaft, Politik,
Wirtschaft, Medien, Alltag; und entsprechend vielfältig sind die Fakten. Es
gibt stets „schlagende“ Argumente. Gewisse Argumente sind für das Spiel auch
unumstösslich, und sie sind es primär, die Fakten begründen und etablieren. Der
mathematische Beweis schafft mathematische Fakten. Wir können ihn nicht
hintergehen, wenn wir Mathematik betreiben wollen. Wer Kontradiktionen zulässt,
gibt das agonale Spiel Mathematik auf, so wie einer das Schachspiel aufgibt,
wenn er einem Bauern Schach ansagt. Der empirische „Beweis“ schafft empirische
Fakten. Seine Regeln sind weniger strikt. Es gibt ein ganzes Spektrum der
Konsolidierung von Fakten, vom Augenzeugenbericht über die geschulte Beobachtung,
das Interview mit Probanden, das ausgeklügelte Experiment, die Datenbasis
statistischer Tests bis zur Computersimulation komplexer Vorgänge. Die Evidenz
und damit der „Zwang“ der Fakten ist aufgrund der Verfahren nicht gleich stark
und als entsprechend „hart“ bzw. „weich“ gelten sie.
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Wir sprechen von der „normativen Macht des Faktischen“, von
„Sachzwängen“, davon, dass sich gegen Fakten nicht argumentieren lasse. Diese
Macht beruht nicht auf irgendeiner mysteriösen Kraft in den Fakten oder Sachen,
sondern darauf, dass wir gewisse Regeln und Normen als unumstösslich und
„zwingend“ akzeptieren. Ich kann einer Regel folgen wollen. Fakten sind wie Institutionen. Es handelt sich bei ihrem
Zwang, um es paradox zu formulieren, um die Freiheit, sich zu unterwerfen.
Wie widerspricht man Fakten? Indem man sie als implizite, nicht
hinterfragte Elemente eines agonalen Spiels aufdeckt. Sie verbergen sich oft in
der Killer-Formel „Fakt ist...“ Ihr begegnet man, indem man sagt „Dein Fakt ist
im Grunde auch blosse Meinung; du trickst“. Widerspruch zu den Fakten wird also da akut, wo Begründungsdefizite sich als
vermeintlich „zwingende“ Argumente kaschieren. Deshalb konnte Hannah Arendt vor
fünfzig Jahren faktische Wahrheit als Debattenverhinderin und damit als dem
politischen Diskurs abträglich zeichnen: „Jede Tatsachenwahrheit (schliesst)
jede Debatte (aus), und die Diskussion, der Austausch und Streit der Meinungen
macht das eigentliche Wesen allen politischen Lebens aus.“
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Es gehört zweifellos zu den Verdiensten postmodernen
Denkens – im Besonderen der sogenannten Science Studies - , die „Konstruiertheit“ von Fakten in den Fokus
wissenschaftstheoretischen Interesses gerückt zu haben. Allerdings besteht
die Tendenz, im Überschwang des „Dekonstruierens“ alle Fakten zu Fetischen zu
erklären. Einer der Pioniere der Science Studies, Bruno Latour, lamentierte vor
zehn Jahren, dass die Einsicht in die Hergestelltheit von Fakten ihm die
„falsche Sorte Verbündeter als Freunde“ zugetragen habe: Lobbyisten,
Spindoktoren, Ideologen.
Die Wissenschaftsforschung war in aufklärerischer Zuversicht ausgezogen,
um die Voreingenommenheiten hinter den Fakten aufzudecken, und nun konstatiert
sie irritiert, dass es heute gang und gäbe ist, Voreingenommenheiten dreist als
Fakten auszugeben. Fakt ist, was in das Schema meiner Voreingenommenheit passt;
was nicht hinein passt, ist nicht Fakt. Die Psychologen Troy Campbell und
Justin Friesen wiesen 2015, also vor der amerikanischen Präsidentenwahl, in
einem Artikel im Scientific American auf das Polarisierungsrisiko dieser Losung
hin. Riskant dabei ist, dass zugleich das Vertrauen in die wissenschaftliche
Vorgehensweise schwindet und nun Horden von selbsterklärten Experten in dieses
Vertrauensvakuum einfallen, sich auf allen Gebieten niederlassend, von der Klimatologie
bis zur Krebstherapie. Fatalerweise wird der potenzielle Nutzen von Fakten zur
Lösung von Problemen irrelevant. Als sich zum Beispiel in den USA
herausstellte, dass Impfen nicht mit Autismus korreliert ist, gab es trotzdem
Leute, die argumentierten: Selbst wenn kein Zusammenhang zwischen Impfen und
Autismus besteht, so ist es doch mein persönliches Recht, zu entscheiden, was
gut ist für meine Kinder. Facts suck.
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Jeder hat das Recht auf eigene Borniertheit. Selbstverständlich kann man
niemanden zu faktenbasierten Meinungen zwingen. Die Macht der Fakten, falsche
Meinungen, Vorurteile, Lügen zu entlarven, beruht auf dem agonalen Spiel, das
ihnen Bedeutung und Gewicht verleiht. Wir sollten dieses Spiel nicht verlernen.
Im gleichen Atemzug, in dem man das sagt, wird einem bewusst, dass man sich
damit eine kulturelle, soziale und politische Aufgabe von epochalem Ausmass
aufbürdet. Ich würde nicht zögern, sie mit jener im 17. Jahrhundert zu
vergleichen, als das Faktum als Kampfmittel gegen Dogma und Voreingenommenheit entdeckt
wurde. Fakten mögen konstruiert sein, aber sie bedürfen besonderer Pflege. Unsere
moderne Zivilisiertheit – sollten wir das vielleicht noch nicht bemerkt haben?
- steht und fällt mit ihnen.
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