Samstag, 14. Mai 2016

Der Entzauberer der heiligen Schrift






Die unverminderte Aktualität Spinozas


Wer hätte es gedacht, aber wir leben in einem Zeitalter der heiligen Kriege. Das Schlamassel im Mittleren Osten, die Barbarei, mit der uns die Dschihadisten terrorisieren, deuten unmissverständlich darauf hin.  

Überhaupt scheint Religion, ganz entgegen der landläufigen Ansicht, wir hätten sie „überwunden“, im Denken und Handeln einer Mehrheit von Menschen nach wie vor die zentrale Bewegkraft zu sein – mit guten und schlechten Kollateraleffekten. Religion erweist sich heute nicht als ein Opiat, sondern als ein starkes Stimulans, das am effektivsten in der islamischen Welt wirkt. Vor kurzem erschien in der Boston Review unter dem Titel „Holy Wars“ eine Besprechung von vier Neuerscheinungen renommierter Autoren, die sich alle unter anderem mit dem in mancherlei Hinsicht beunruhigenden Phänomen befassen, dass die Religion in modernen, das heisst säkularen und demokratischen, Gesellschaften erneut einen zentralen Platz beansprucht.[1] Jürgen Habermas hat bekanntlich von postsäkularen Gesellschaften gesprochen. Darin spielen Religionen eine Hauptrolle, deren Gläubige nach der Lehre eines einzigen Buches leben. Wenn nun aber solche Religionen in der modernen Gesellschaft einen Platz beanspruchen wollen, dann sollten sie sich wieder einmal ihrer vordringlichsten säkularen Hausaufgabe widmen, das heisst, der kritischen Frage nach der „richtigen“ Auslegung heiliger Schriften.

Der Bannspruch
Alle Welt kennt und redet inzwischen über die Fatwa der Muslime, die sich anmasst, gemäss einer verbindlichen Auslegung des Korans Menschen „von Rechts wegen“ einer Meute mordender Häscher auszusetzen. Eine Infamie sondergleichen für jeden aufgeklärten säkularen Geist, der solche Massnahmen gern in ein vergangenes Zeitalter relegiert.

Sie ist nicht auf den Islam beschränkt. Wir kennen sie von allen religiösen Strafverfolgungsbehörden her. Die Ironie will es, dass ausgerechnet ein Vordenker des modernen Säkularismus ebenfalls Opfer einer religiösen Sanktion wurde, und zwar einer jüdischen. Im Juli 1656 erliess der Rat der jüdischen Gemeinde von Amsterdam den höchsten Bannspruch – den „herem“ – gegen einen 23-jährigen philosophierenden Linsenschleifer: Baruch Spinoza. In der Begründung dieser Exkommunikation war von „abscheulicher Ketzerei“ und „ungeheuerlichen Taten“ die Rede. Spinoza sei aus „allen Stämmen Israels“ auszustossen und sein Name sei „unter dem Himmel auszulöschen“. „Wir warnen, dass niemand mit ihm weder mündlich noch schriftlich kommunizieren noch ihm irgendeinen Gefallen tun noch mit ihm unter einem Dach noch ihm näher als vier Ellen sein noch irgendein von ihm geschriebenes Blatt lesen darf.“ - Das Dokument, triefend vor religiöser Gehässigkeit, verschwieg die Gründe des Ausschlusses, was umso mehr erstaunt, als Spinozas anstössige Schriften damals noch gar nicht veröffentlicht waren. Wenn man sie allerdings, zumal seinen „theologisch-politischen Traktat“ (1670), kennt, kann das Scherbengericht nicht überraschen: Spinoza war ein Ketzer, und ein gefährlicher obendrein.

Die drei Sprengsätze
Was erboste die Glaubenshüter so? Ganz einfach: Spinoza nahm die Schrift ernster als die traditionellen Schriftgelehrten. Das heisst, er betrachtete sie aus einer modernen hermeneutischen Perspektive, historisch-kritisch. Er legte drei Spreng-Sätze an sie.
Satz eins:  Gott ist keine Person (die sich von ihrer Schöpfung abheben würde).
Satz zwei: Das Heilige liegt nicht in der Schrift.
Satz drei:  Die Schrift muss wie jeder literarische Text ausgelegt werden.

Diese drei Punkte machen Spinoza zeitlos aktuell und brisant, und zwar für jeden Schriftglauben. Denn dieser Glaube ist ja buchstäblich zuerst einmal Papierglaube. Er beruft sich auf die Evidenz von etwas Geschriebenem. Und hier kann man immer die Fragen stellen: Wer hat denn das geschrieben? Stimmt das, was hier geschrieben steht? Das sind Fragen, die jeder Mensch stellt, zumindest jeder, in dem die Vernunft wirkt, das „lumen naturale“, ein Geschenk Gottes. Und genau mit diesem natürlichen Licht will Spinoza das Labyrinth der Bibel ausleuchten. 

Seine Vorliebe für analytisches Denken manifestiert sich – vor allem in seinem Hauptwerk „Ethik“ – in einem mit geradezu mathematischer Strenge aufgebauten Text. Spinoza versucht eine Ethik anhand von Sätzen und Lemmata zu lehren, der neuen cartesianischen Methode „more geometrico“ entsprechend. Unglückliche mathematische Liebesmühe, würde man heute sagen. Aber Spinozas Denken über Gott steht im Zeichen eines gewaltigen Axioms: Es gibt keinen personalen Gott, also einen Gott mit all jenen moralischen und psychologischen Eigenschaften, welche ihm die grossen abrahamitischen oder monotheistischen Religionen zuschreiben. Und daraus folgen nun tatsächlich mit fast logischer Stringenz einige äusserst radikale Konsequenzen.

Die Bewirtschaftung des Lebens nach dem Tod
Die erste: Es gibt keine unsterbliche Seele. Denn eine unsterbliche Seele wäre ja ein ewiger Bestandteil in uns, und den könnte uns nur ein personaler Gott eingepflanzt haben, der uns nach unserem Ableben belohnt oder bestraft. In Spinozas Augen ein kindlicher Aberglaube. Die institutionalisierte Religion mit ihren Zeremonien und Machtstrukturen braucht diesen Aberglauben, denn sie betrieb und betreibt ja im Grunde eine Bewirtschaftung des Lebens nach dem Tod. Mit seiner Attacke auf die Unsterblichkeit der Seele entzog also Spinoza diesem Geschäft seine Ressource, nämlich Hoffnung und Furcht angesichts eines transzendenten Richters. Dabei stellt nicht der Glaube daran etwas Verderbtes dar, sondern der pastorale Schacher mit ihm, eine bis heute übliche und üble Praktik etablierter Religion. Es gibt durchaus Gründe für den Glauben an Überdauerndes. So erwecken Sätze der Mathematik ja den Anschein der Ewigkeit. Ihr Geltungsbereich scheint nicht von dieser Welt zu sein. Dies allerdings gerade, weil ihnen nichts Personales anhaftet. Und in diesem Sinne stellt eine unsterbliche personale Seele ein Widerspruch in sich dar. Das ist natürlich ein empfindlicher Schlag gegen ein religiöses Machtinstrument, welches mit der Unsterblichkeit der Seele operiert, indem es dem Frommen Erlösung oder Verdammnis in der Ewigkeit in Aussicht stellt.

Die Bibel: ein Stück Literatur
Zweite Konsequenz: Die Bibel ist ein Stück Literatur, geschrieben von Menschenhand, tradiert über Generationen von Menschen, die an diesem Text herumgewerkelt haben. Ist darin überhaupt noch etwas Ursprüngliches, „Unverdorbenes“ erhalten geblieben? Das ist die Frage, die Spinoza umtreibt. Eine Ungeheuerlichkeit in den Augen der Orthodoxie.

Gibt es eine Bedeutung des Wortes „göttlich“, die auf ein Menschenwerk angewendet werden könnte? Sicher nicht in der Art, wie dies buchstabengläubige Fundamentalisten verstehen. Die Göttlichkeit einer jeden Schrift hat für Spinoza rein funktionalen Charakter: „Heilig und göttlich nennt man das, was zur Übung der Frömmigkeit und Religion bestimmt ist und nur so lange wird es heilig sein, als die Menschen es in religiösem Sinne gebrauchen.“ Heiligkeit ist nicht eine Eigenschaft der Schrift an sich, sondern nur ihres Gebrauchs. Das kann man aber von jedem literarischen Werk behaupten. Es ist „heilig“ oder „göttlich“, wenn es „Gottes Wort“ präsentiert. Was aber ist „Gottes Wort“? Es verweist genau auf jene Botschaft, die „unverstümmelt und „unverdorben“ in der Bibel schlummert: Liebe deinen Nächsten und behandle ihn gerecht und barmherzig. Der Unterschied der Bibel zu anderen literarischen Werken liegt eher in ihrer spirituellen Motivationskraft, diese Lektion zu lernen, und „Gottes Wort“ sich in unser Leben einschreiben zu lassen, aber: „Nichts (ist) unabhängig von der Gesinnung, sondern alles nur in Beziehung auf sie heilig oder unrein oder gemein.“ Wir werden nicht fromm durch die „Heiligkeit“ der Bibel; sondern: die Bibel ist „heilig“, weil sie uns zu einem frommen Lebenswandel befähigt.

Wir alle sind Bibelexperten
Damit ist, dritte Konsequenz, eine Spitze gegen die ganze Profession der Schriftgelehrten, der Propheten, gerichtet. Mit welchem Recht begründen sie eigentlich, Gottes Wort für uns zu „übersetzen“? Haben sie besondere Vermögen, die sie berechtigen, dieses dolmetschende Privileg zu beanspruchen? Nein, sagt Spinoza. Wir sind alle fähig, Gottes Wort oder Offenbarungen wahrzunehmen, weil wir alle das Geschenk Gotts in uns tragen: die Vernunft, das „natürliche Licht“. Die Propheten haben „nicht einen vollkommeren Geist, sondern nur eine lebhaftere Vorstellungskraft“.

Das kann nicht schmeichelhaft interpretiert werden. In der Tat gibt es ja wohl kaum heftigeren Krieg  als in der „richtigen“ Auslegung der Schrift. Jeder Interpret führt da seine eigene persönliche „Autorität“ ins Treffen. Man kann dies im Übrigen auch im modernen Alltag bei jenen beobachten, die Bibelsprüche wie Waffen einsetzen. Ein untrügliches Zeichen von Orthodoxie ist, dass es für sie genau eine Bedeutung eines Bibelspruchs gibt, nämlich jene, in deren Gunst man selber steht. Spinoza: „Denn bei wem das Vorstellungsvermögen herrschend ist, der taugt weniger zur Verstandeserkenntnis und umgekehrt, bei wem der Verstand vorherrscht und am meisten ausgebildet wird, dessen Vorstellungskraft ist gemässigter und beherrschter, gleichsam gezügelt, damit sie sich nicht mit dem Verstand vermengt. Wer daher Weisheit und Erkenntnis der natürlichen und geistigen Dinge in den Büchern der Propheten suchen will, der ist auf falschem Wege.“ Starker Tobak: Propheten sind meist Fabulierer, die ihrer Vorstellungskraft die Zügel schiessen lassen.

Ein unverkrampftes Verhältnis zur heiligen Schrift
Diese drei Konsequenzen nähren natürlich eine Geisteshaltung, die sich in religiösen Dingen kein X für ein U vormachen lässt. Eine Haltung, die heute nötiger denn je erscheint. Wir nennen sie üblicherweise aufgeklärt. - Apropos aufgeklärter Geist. Im Sommer 2013 ging der jüdische Rat von Amsterdam erneut auf den Bannspruch gegen Spinoza ein. Er beschloss, dass er nicht aufgehoben werden sollte. Man kann darin eine unwürdige Causa sehen. Spinoza, würde er heute leben, hätte darüber sein Ketzerlachen ausgeschüttet.

Gewiss, Religion bietet auch heute, gerade heute, ein Futteral der Sicherheit; sie ist nach wie vor eine Quelle der Identität, der Gemeinschaft, des Trostes und der moralischen Führung. Und in dieser Funktion gebührt ihr unser Respekt. Aber Religion ist mehr, sie kann Ansporn zum Verstehen der Welt und unserer selbst sein. Und dazu gehört, die Herkunft der Schriften zu verstehen, ihre „Menschengemachtheit“. Dazu gehört eine kritische Hermeneutik - sei sie nun islamisch, christlich oder jüdisch -, die sich nicht immer gleich als „Häresie“ oder „Phobie“ denunziert sehen will. Gerade darin bahnt sich ein Weg zu einer unverkrampften Rezeption der heiligen Schriften an: zur Basis der Toleranz. Wie sagt der algerische Autor Kamel Daoud so schön: „Der Mann vieler Bücher ist tolerant, der Mann eines Buches ist intolerant.“ – Kursive Randbemerkung: die Frau auch.

Lang lebe der Ketzer!
Nichts als dies wollte Spinoza sagen. Vor dreihundertfünfzig Jahren. Jeder Glaube, der nicht in seinem Geist ausgeübt wird, kommt deshalb dreihundertfünfzig Jahre zu spät. Man setzt einen Glauben nicht durch wie ein Gesetz. Man kommt – wenn überhaupt - zu ihm über die neugierige und unersättliche Vernunft. Spinoza raubte mit dieser Ansicht den Theologen des 17. Jahrhunderts die Seelenruhe. Und noch im 20. Jahrhundert zollten ihm die grössten Geister Hochachtung: unter anderen Sigmund Freud, Albert Einstein, Bertrand Russell. Gerade heute, da hammerköpfige religiöse Intoleranz und Abschottungsmentalität besinnungslos auf das „lumen naturale“, dieses höchste Gut des Menschen, einschlagen, gilt Spinozas Wort mehr denn je. Man kann sich sogar fragen, ob wir im „postsäkularen“ Zeitalter nicht wieder auf die präsäkulare Stufe eines religiösen Primitivismus zurückzufallen drohen. – Es lebe deshalb die  Ketzerei mit Namen Vernunft!


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