Die unverminderte Aktualität Spinozas
Wer
hätte es gedacht, aber wir leben in einem Zeitalter der heiligen Kriege. Das
Schlamassel im Mittleren Osten, die Barbarei, mit der uns die Dschihadisten terrorisieren,
deuten unmissverständlich darauf hin.
Überhaupt
scheint Religion, ganz entgegen der landläufigen Ansicht, wir hätten sie
„überwunden“, im Denken und Handeln einer Mehrheit von Menschen nach wie vor
die zentrale Bewegkraft zu sein – mit guten und schlechten Kollateraleffekten.
Religion erweist sich heute nicht als ein Opiat, sondern als ein starkes
Stimulans, das am effektivsten in der islamischen Welt wirkt. Vor kurzem
erschien in der Boston Review unter dem Titel „Holy Wars“ eine Besprechung von
vier Neuerscheinungen renommierter Autoren, die sich alle unter anderem mit dem
in mancherlei Hinsicht beunruhigenden Phänomen befassen, dass die Religion in
modernen, das heisst säkularen und demokratischen, Gesellschaften erneut einen
zentralen Platz beansprucht.[1]
Jürgen Habermas hat bekanntlich von postsäkularen Gesellschaften gesprochen. Darin
spielen Religionen eine Hauptrolle, deren Gläubige nach der Lehre eines
einzigen Buches leben. Wenn nun aber solche Religionen in der modernen Gesellschaft
einen Platz beanspruchen wollen, dann sollten sie sich wieder einmal ihrer
vordringlichsten säkularen Hausaufgabe widmen, das heisst, der kritischen Frage
nach der „richtigen“ Auslegung heiliger Schriften.
Der Bannspruch
Alle
Welt kennt und redet inzwischen über die Fatwa der Muslime, die sich anmasst,
gemäss einer verbindlichen Auslegung des Korans Menschen „von Rechts wegen“
einer Meute mordender Häscher auszusetzen. Eine Infamie sondergleichen für
jeden aufgeklärten säkularen Geist, der solche Massnahmen gern in ein
vergangenes Zeitalter relegiert.
Sie
ist nicht auf den Islam beschränkt. Wir kennen sie von allen religiösen
Strafverfolgungsbehörden her. Die Ironie will es, dass ausgerechnet ein Vordenker
des modernen Säkularismus ebenfalls Opfer einer religiösen Sanktion wurde, und
zwar einer jüdischen. Im Juli 1656 erliess der Rat der jüdischen Gemeinde von
Amsterdam den höchsten Bannspruch – den „herem“ – gegen einen 23-jährigen philosophierenden
Linsenschleifer: Baruch Spinoza. In der Begründung dieser Exkommunikation war
von „abscheulicher Ketzerei“ und „ungeheuerlichen Taten“ die Rede. Spinoza sei
aus „allen Stämmen Israels“ auszustossen und sein Name sei „unter dem Himmel
auszulöschen“. „Wir
warnen, dass niemand mit ihm weder mündlich noch schriftlich kommunizieren noch
ihm irgendeinen Gefallen tun noch mit ihm unter einem Dach noch ihm näher als
vier Ellen sein noch irgendein von ihm geschriebenes Blatt lesen darf.“ - Das Dokument, triefend vor
religiöser Gehässigkeit, verschwieg die Gründe des Ausschlusses, was umso mehr
erstaunt, als Spinozas anstössige Schriften damals noch gar nicht veröffentlicht
waren. Wenn man sie allerdings, zumal seinen „theologisch-politischen Traktat“
(1670), kennt, kann das Scherbengericht nicht überraschen: Spinoza war ein
Ketzer, und ein gefährlicher obendrein.
Die drei Sprengsätze
Was
erboste die Glaubenshüter so? Ganz einfach: Spinoza nahm die Schrift ernster
als die traditionellen Schriftgelehrten. Das heisst, er betrachtete sie aus einer
modernen hermeneutischen Perspektive, historisch-kritisch. Er legte drei
Spreng-Sätze an sie.
Satz
eins: Gott ist keine Person (die sich
von ihrer Schöpfung abheben würde).
Satz
zwei: Das Heilige liegt nicht in der Schrift.
Satz
drei: Die Schrift muss wie jeder literarische
Text ausgelegt werden.
Diese
drei Punkte machen Spinoza zeitlos aktuell und brisant, und zwar für jeden Schriftglauben.
Denn dieser Glaube ist ja buchstäblich zuerst einmal Papierglaube. Er beruft
sich auf die Evidenz von etwas Geschriebenem. Und hier kann man immer die Fragen
stellen: Wer hat denn das geschrieben? Stimmt das, was hier geschrieben steht?
Das sind Fragen, die jeder Mensch stellt, zumindest jeder, in dem die Vernunft
wirkt, das „lumen naturale“, ein Geschenk Gottes. Und genau mit diesem natürlichen
Licht will Spinoza das Labyrinth der Bibel ausleuchten.
Seine
Vorliebe für analytisches Denken manifestiert sich – vor allem in seinem
Hauptwerk „Ethik“ – in einem mit geradezu mathematischer Strenge aufgebauten
Text. Spinoza versucht eine Ethik anhand von Sätzen und Lemmata zu lehren, der
neuen cartesianischen Methode „more geometrico“ entsprechend. Unglückliche mathematische
Liebesmühe, würde man heute sagen. Aber Spinozas Denken über Gott steht im
Zeichen eines gewaltigen Axioms: Es gibt keinen personalen Gott, also einen
Gott mit all jenen moralischen und psychologischen Eigenschaften, welche ihm
die grossen abrahamitischen oder monotheistischen Religionen zuschreiben. Und
daraus folgen nun tatsächlich mit fast logischer Stringenz einige äusserst radikale
Konsequenzen.
Die Bewirtschaftung des Lebens nach dem Tod
Die
erste: Es gibt keine unsterbliche Seele. Denn eine unsterbliche Seele wäre ja
ein ewiger Bestandteil in uns, und den könnte uns nur ein personaler Gott
eingepflanzt haben, der uns nach unserem Ableben belohnt oder bestraft. In Spinozas
Augen ein kindlicher Aberglaube. Die institutionalisierte Religion mit ihren
Zeremonien und Machtstrukturen braucht diesen Aberglauben, denn sie betrieb und
betreibt ja im Grunde eine Bewirtschaftung des Lebens nach dem Tod. Mit seiner
Attacke auf die Unsterblichkeit der Seele entzog also Spinoza diesem Geschäft
seine Ressource, nämlich Hoffnung und Furcht angesichts eines transzendenten
Richters. Dabei stellt nicht der Glaube daran etwas Verderbtes dar, sondern der
pastorale Schacher mit ihm, eine bis heute übliche und üble Praktik etablierter
Religion. Es gibt durchaus Gründe für den Glauben an Überdauerndes. So erwecken Sätze
der Mathematik ja den Anschein der Ewigkeit. Ihr Geltungsbereich scheint nicht
von dieser Welt zu sein. Dies allerdings gerade, weil ihnen nichts Personales
anhaftet. Und in diesem Sinne stellt eine unsterbliche personale Seele ein
Widerspruch in sich dar. Das ist natürlich ein empfindlicher Schlag gegen ein religiöses
Machtinstrument, welches mit der Unsterblichkeit der Seele operiert, indem es dem
Frommen Erlösung oder Verdammnis in der Ewigkeit in Aussicht stellt.
Die Bibel: ein Stück Literatur
Zweite
Konsequenz: Die Bibel ist ein Stück Literatur, geschrieben von Menschenhand,
tradiert über Generationen von Menschen, die an diesem Text herumgewerkelt
haben. Ist darin überhaupt noch etwas Ursprüngliches, „Unverdorbenes“ erhalten
geblieben? Das ist die Frage, die Spinoza umtreibt. Eine Ungeheuerlichkeit in
den Augen der Orthodoxie.
Gibt
es eine Bedeutung des Wortes „göttlich“, die auf ein Menschenwerk angewendet
werden könnte? Sicher nicht in der Art, wie dies buchstabengläubige
Fundamentalisten verstehen. Die Göttlichkeit einer jeden Schrift hat für
Spinoza rein funktionalen Charakter: „Heilig und göttlich nennt man das, was
zur Übung der Frömmigkeit und Religion
bestimmt ist und nur so lange wird es heilig sein, als die Menschen es in
religiösem Sinne gebrauchen.“ Heiligkeit ist nicht eine Eigenschaft der Schrift
an sich, sondern nur ihres Gebrauchs. Das kann man aber von jedem literarischen
Werk behaupten. Es ist „heilig“ oder „göttlich“, wenn es „Gottes Wort“ präsentiert.
Was aber ist „Gottes Wort“? Es verweist genau auf jene Botschaft, die „unverstümmelt
und „unverdorben“ in der Bibel schlummert: Liebe deinen Nächsten und behandle
ihn gerecht und barmherzig. Der Unterschied der Bibel zu anderen literarischen
Werken liegt eher in ihrer spirituellen Motivationskraft, diese Lektion zu
lernen, und „Gottes Wort“ sich in unser Leben einschreiben zu lassen, aber:
„Nichts (ist) unabhängig von der Gesinnung, sondern alles nur in Beziehung auf
sie heilig oder unrein oder gemein.“ Wir werden nicht fromm durch die
„Heiligkeit“ der Bibel; sondern: die Bibel ist „heilig“, weil sie uns zu einem
frommen Lebenswandel befähigt.
Wir
alle sind Bibelexperten
Damit ist, dritte Konsequenz, eine Spitze
gegen die ganze Profession der Schriftgelehrten, der Propheten, gerichtet. Mit
welchem Recht begründen sie eigentlich, Gottes Wort für uns zu „übersetzen“? Haben
sie besondere Vermögen, die sie berechtigen, dieses dolmetschende Privileg zu
beanspruchen? Nein, sagt Spinoza. Wir sind alle fähig, Gottes Wort oder Offenbarungen
wahrzunehmen, weil wir alle das Geschenk Gotts in uns tragen: die Vernunft, das
„natürliche Licht“. Die Propheten haben „nicht einen vollkommeren Geist,
sondern nur eine lebhaftere Vorstellungskraft“.
Das kann nicht schmeichelhaft interpretiert
werden. In der Tat gibt es ja wohl kaum heftigeren Krieg als in der „richtigen“ Auslegung der Schrift.
Jeder Interpret führt da seine eigene persönliche „Autorität“ ins Treffen. Man
kann dies im Übrigen auch im modernen Alltag bei jenen beobachten, die
Bibelsprüche wie Waffen einsetzen. Ein untrügliches Zeichen von Orthodoxie ist,
dass es für sie genau eine Bedeutung eines Bibelspruchs gibt, nämlich jene, in
deren Gunst man selber steht. Spinoza: „Denn bei wem das Vorstellungsvermögen
herrschend ist, der taugt weniger zur Verstandeserkenntnis und umgekehrt, bei
wem der Verstand vorherrscht und am meisten ausgebildet wird, dessen
Vorstellungskraft ist gemässigter und beherrschter, gleichsam gezügelt, damit
sie sich nicht mit dem Verstand vermengt. Wer daher Weisheit und Erkenntnis der
natürlichen und geistigen Dinge in den Büchern der Propheten suchen will, der
ist auf falschem Wege.“ Starker Tobak: Propheten sind meist Fabulierer, die
ihrer Vorstellungskraft die Zügel schiessen lassen.
Ein
unverkrampftes Verhältnis zur heiligen Schrift
Diese
drei Konsequenzen nähren natürlich eine Geisteshaltung, die sich in religiösen
Dingen kein X für ein U vormachen lässt. Eine Haltung, die heute nötiger denn je
erscheint. Wir nennen sie üblicherweise aufgeklärt. - Apropos aufgeklärter
Geist. Im Sommer 2013 ging der jüdische Rat von Amsterdam erneut auf den
Bannspruch gegen Spinoza ein. Er beschloss, dass er nicht aufgehoben werden
sollte. Man kann darin eine unwürdige Causa sehen. Spinoza, würde er heute
leben, hätte darüber sein Ketzerlachen ausgeschüttet.
Gewiss,
Religion bietet auch heute, gerade heute, ein Futteral der Sicherheit; sie ist
nach wie vor eine Quelle der Identität, der Gemeinschaft, des Trostes und der
moralischen Führung. Und in dieser Funktion gebührt ihr unser Respekt. Aber
Religion ist mehr, sie kann Ansporn zum Verstehen der Welt und unserer selbst
sein. Und dazu gehört, die Herkunft der Schriften zu verstehen, ihre
„Menschengemachtheit“. Dazu gehört eine kritische Hermeneutik - sei sie nun
islamisch, christlich oder jüdisch -, die sich nicht immer gleich als „Häresie“
oder „Phobie“ denunziert sehen will. Gerade darin bahnt sich ein Weg zu einer unverkrampften
Rezeption der heiligen Schriften an: zur Basis der Toleranz. Wie sagt der
algerische Autor Kamel Daoud so schön: „Der Mann vieler
Bücher ist tolerant, der Mann eines Buches ist intolerant.“ – Kursive
Randbemerkung: die Frau auch.
Lang lebe
der Ketzer!
Nichts
als dies wollte Spinoza sagen. Vor dreihundertfünfzig Jahren. Jeder Glaube, der
nicht in seinem Geist ausgeübt wird, kommt deshalb dreihundertfünfzig Jahre zu
spät. Man setzt einen Glauben nicht durch wie ein Gesetz. Man kommt – wenn
überhaupt - zu ihm über die neugierige und unersättliche Vernunft. Spinoza
raubte mit dieser Ansicht den Theologen des 17. Jahrhunderts die Seelenruhe.
Und noch im 20. Jahrhundert zollten ihm die grössten Geister Hochachtung: unter
anderen Sigmund Freud, Albert Einstein, Bertrand Russell. Gerade heute, da
hammerköpfige religiöse Intoleranz und Abschottungsmentalität besinnungslos auf
das „lumen naturale“, dieses höchste Gut des Menschen, einschlagen, gilt
Spinozas Wort mehr denn je. Man kann sich sogar fragen, ob wir im
„postsäkularen“ Zeitalter nicht wieder auf die präsäkulare Stufe eines
religiösen Primitivismus zurückzufallen drohen. – Es lebe deshalb die Ketzerei mit Namen Vernunft!
[1] James
G. Chappel: Holy Wars, http://bostonreview.net/books-ideas/james-chappel-secularism-religion
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