Der Physiker
und Nobelpreisträger Eugene Wigner schrieb 1960 einen vielzitierten Ausatz über
die „unverständliche Effektivität der Mathematik in den Naturwissenschaften“.
Er beschäftigte sich darin mit der Frage, wie es überhaupt dazu komme, dass
sich mathematische Gesetzmässigkeiten auf die Natur anwenden liessen, wo es
sich bei Zahlen und Naturphänomenen doch um zwei völlig verschiedene Reiche und
Lehrämter handle: das Abstrakte und Ewige, sowie das Konkrete und Vergängliche.
Die Frage hat die Naturwissenschafter immer wieder beschäftigt, und sie
beschäftigt sie weiterhin. Man muss allerdings auch gleich anfügen, dass man
beim Transfer von mathematischen Denkweisen in die Empirie vorsichtig
sein sollte. Der Fehlschluss droht auch hier. Hier ein Beispiel. Der erste Beweis
der Existenz unendlich vieler Primzahlen stammt von Euklid. Im Wesentlichen
verläuft er so: Wie viele Primzahlen ich auch habe, es gibt stets noch eine
weitere, also unendlich viele. Eine Leserbriefschreiberin aus Bayern schrieb
dazu Folgendes: "Ich sitze hier am Ammersee inmitten einer Heerschar von
Mücken. So viele ich auch erschlage, es gibt immer noch eine weitere, kann ich
daher schließen ...?" Quod non est demonstrandum.
Mittwoch, 22. April 2015
Mittwoch, 1. April 2015
Und der Alte würfelt doch
Theorien sind Ideen-Nester. Und sie enthalten oft Kuckuckseier,
Konsequenzen also, an die der Nestbauer anfänglich nicht gedacht hat und die –
ausgebrütet – ihm nun fremd vorkommen, als ob sie nicht von ihm stammten.
Nachdem Isaac Newton seine Gravitationstheorie aufgestellt hatte, entdeckte er
plötzlich, dass sie ein Problem aufwarf, das ihm absurd erschien: die
sogenannte Fernwirkung, die Tatsache also, dass ein physikalischer Körper über
grosse Distanzen hinweg einen andern Körper anziehen kann. Wie soll das
stattfinden?
Newtons Problem lässt sich in moderner Terminologie als
das sogenannte Problem der Nichtlokalität formulieren. Die Idee der
Nichtlokalität kollidiert mit unserer intuitiven Vorstellung der Wechselwirkung
zweier Körper. Gewöhnlich denken wir uns diese Wechselwirkung als eine
unmittelbare Berührung, zum Beispiel von Billardkugeln, die sich stossen: kausale
lokale Aktionen. Wirkt ein Körper über eine Distanz auf einen andern, dann
denken wir uns ein Medium, in dem solche lokalen Aktionen fortgesetzt
stattfinden. Formelhaft: Nichtlokale Wirkungen setzen sich zusammen aus
lokalen. Und genau das zieht die Quantenphysik in Zweifel. Ihr Theorienest enthält
ein ähnliches Ei wie jenes von Newton, eine neue Art von Nichtlokalität, die
sich nicht aus lauter lokalen zusammensetzt. Man spricht von „nichtlokaler Korrelation“.
***
Ein Gedankenexperiment kann uns das Problem näher
bringen. Wir verwenden dazu das Standardpaar der Quantentheoretiker: Alice und
Bob. Nicolas Gisin von der Universität Genf, ein führender Physiker auf dem
Gebiet der Quanteninformatik, hat in seinem eben publizierten Buch „Der unbegreifliche
Zufall“ ein Spielchen ausgetüftelt. Alice und Bob generieren für sich an je
identischen Kästen Zufallsereignisse. Sie betätigen einen Hebel, der nach links
oder rechts gelegt werden kann. Immer wenn sie eine Hebelschaltung vornehmen,
erscheint dank eines Zufallsgeneratores auf einem Display entweder 0 oder 1.
Alice und Bob schalten alle Minuten synchron ihren Hebel und notieren sich Lage
und Zahl; also etwa „links/1“, „rechts/0“ usw. Sie führen isoliert – ohne
„Fernwirkung“ - das Spiel einen halben
Tag lang durch. Am Ende vergleichen sie ihre Listen und berechnen ihre
Erfolgsquote. Nach einem Punkteschlüssel erhalten sie bei gewissen
Kombinationen von Schaltung und Zahl einen Punkt, bei andern nicht. Die
Erfolgsquote ergibt sich als Mittelwert aus der Summe aller Punkte dividiert
durch die Anzahl der Hebelschaltungen in einem halben Tag. Er beträgt maximal 1
(jede Hebelschaltung ein Punkt).
Die Details des Spiels brauchen uns nicht zu interessieren,
wichtig ist nur die Spielart. Alice und Bob sind ein „separierbares“ Paar, wie
die Physiker sagen. Sie agieren völlig unabhängig voneinander, zwischen ihnen
werden keine Informationen ausgetauscht. Die Hebelschaltungen wie auch die
Zahlen 0 und 1 sind lokale Zufallsereignisse. Die Pointe liegt nun darin, dass
Alice und Bob, wie lange sie auch spielen und welche Strategien sie für sich zurechtlegen,
nie über eine Erfolgsquote von ¾ hinauskommen. Das ist sinngemäss die
Kernaussage einer lange Zeit für marginal gehaltenen theoretischen Entdeckung,
die 50 Jahre zurückliegt: der Ungleichung des nordirischen Physikers John
Stewart Bell. Sie entpuppt sich heute
als von unerwarteter Virulenz.
***
Warum? Nehmen wir einmal an, eine Quanten-Alice und
ein Quanten-Bob würden mit demselben Spiel eine bessere Erfolgsquote erzielen.
Unmöglich! sagt der klassische Physiker: Das geht nicht mit rechten Dingen zu;
oder bestimmte uns noch nicht bekannte „verborgene Parameter“ sind mit im
Spiel. Der Quantentheoretiker sieht das anders: Offenbar sind die Zufallsereignisse
bei Quanten-Alice und Quanten-Bob auf eine Weise korreliert, für die die
klassische Physik keine Erklärung kennt: sie sind verschränkt. Tatsächlich sagt
die Ungleichung von Bell: Verschränkte Quantenprozesse lassen sich daran erkennen,
dass sie die Ungleichung verletzen, also eine höhere Erfolgsquote als die
klassische zulassen.
Gibt es solche Prozesse? Ja, immer mehr. 1982 wiesen
Alain Aspect und sein Team Verletzung der Ungleichung an Photonenpaaren nach.
Seither ist der Ehrgeiz der Physiker angestachelt, auf ingeniöse Weise Systeme
zu bauen, welche Prozesse mit höherer Gewinnquote als der klassischen
ermöglichen. Physikalischer ausgedrückt heisst das: Die Physiker kombinieren
zwei (oder mehr) Quantenobjekte – etwa Photonen, Elektronen oder auch Atome –
zu einem neuen Ganzen mit seltsamen nichtklassischen Eigenarten.
***
Die Geschichte der Quantenverschränkung ähnelt der
Geschichte von Newtons Gravitationskraft. Einstein erkannte schnell die
„spukhaften“ Folgen der neuen Theorie, und er versuchte mit den Kollegen Boris
Podolski und Nathan Rosen 1935 anhand eines Gedankenexperiments zu
demonstrieren, dass die quantenphysikalische Beschreibung der klassischen widerspricht
und deshalb nicht vollständig sein kann. Im gleichen Jahr erkannte Erwin
Schrödinger, dass dies an einer neuartigen Verknüpfung von Zuständen liegt, die
er „Verschränkung“ nannte.
In der Quantentheorie werden Zustände durch
Wellenfunktionen repräsentiert. Teilchenzustände können sich also wie Wellen
überlagern. Wir sagen nicht: Da ist ein Elektron im Zustand 1 und dort ein Elektron
im Zustand 2, zusammen bilden sie ein Paar. Wir sagen: Hier ist ein Paar in
seinem überlagerten Gesamtzustand. Punkt. Kurioserweise stellt sich dann zum
Beispiel heraus, dass eine Messung des Abstands der Elektronen – eine
Zustandsgrösse des Paares – exakt bestimmbar ist, nicht aber die Positionen der
einzelnen Elektronen. Bei normalen klassischen Objekten erscheint das absurd. Angenommen, ich
und der Mond bildeten ein verschränktes Paar. Dann liesse sich unser Abstand –
ein Gesamtzustand - präzise bestimmen, nicht aber unsere Einzelpositionen. Quantentheoretisch
gesprochen, wäre ich an vielen möglichen Orten zugleich. Erst eine „Messung“ an
mir zeigte, wo ich bin: zum Beispiel in San Francisco, 9300 km entfernt von
meiner mittleren Position in Bern. Dadurch aber wäre zugleich die Position des
Mondes bestimmt: 9300 km entfernt von seiner mittleren Position – und zwar ohne
kausale Verbindung und Messung an ihm! Verschränkte Quantenobjekte zeigen eine
solche bizarre Eigenschaft. Wären also die Zufallsgeneratoren in den Kästen von
Quanten-Alice und Quanten-Bob verschränkt, dann wüsste Alice, wenn sie zum
Beispiel an ihrem Kasten das Resultat 0 beobachtet, dass auch Bobs Kasten dieses
Resultat zeigt. Mit solchen verschränkten Zufällen lassen sich in Gisins Spiel Erfolgsquoten
höher als ¾ erzielen. Klassisch unbegreifbar! Gisin und sein Team haben 1997 zwei
solche „Kästen“ mit verschränkten Photonen gebaut, ausserhalb des Labors, zwischen
Bernex und Bellevue im Kanton Genf, über 10km voneinander entfernt. Inzwischen
sind quantenverschränkte Systeme mit einer Entfernung von fast 150km bekannt.
***
Der tiefere Grund für dieses seltsame Verhalten liegt
darin, dass die Quantentheorie mit Wahrscheinlichkeiten rechnet, und
Wahrscheinlichkeiten auf dem Zufall basieren. Genauer gesagt, legt die
Quantentheorie eine neue Interpretation des Zufalls nahe. Die klassische
Interpretation ist subjektiv: Etwas ist zufällig, weil ich nicht genügend weiss.
Die Vorstellung dahinter: In der Natur ist „im Prinzip“ alles durch Gesetze und
Anfangsbedingungen – lokale Aktionen - geregelt. Wenn ich mich entscheide, auf
dem Velo in die Stadt zu fahren, und mir nun „zufällig“ ein Fussgänger vor die
Räder läuft, dann ist dies ein „im Prinzip“ behebbarer Zufall; ein Beobachter,
der den Weltzustand vor dem Zusammenprall kennen würde, könnte im Idealfall eine
lückenlose Kausalkette von lokalen Ereignissen – beginnend bei meinem Entscheid,
bis zum Zusammenprall mit dem Fussgänger - rekonstruieren. In der klassischen
Physik regiert kurz gesagt das Ideal eines gottgleichen Beobachters.
Nichtlokale Korrelationen schmuggeln dagegen eine andere Art von Zufall in die Physik:
den Zufall als Naturprinzip. Der allwissende
Oberbeobachter dankt ab. Selbst bei maximaler Quantenkenntnis – also einer
Wellenfunktion, die den Weltzustand vor der Kollision repräsentiert (plus
Hamiltonoperator ihrer Entwicklung) - könnte er den Zusammenstoss nicht mit
völliger Gewissheit voraussagen, weil die Ungewissheit quasi auf Mikroniveau in
die Natur selbst eingebaut ist. Einsteins Gott – der „Alte“ - würfelt.
***
Nicht dass die Nichtlokalität allgemein akzeptiert,
geschweige denn völlig verstanden wäre. Im Gegenteil: sie spaltet die
Physikergemeinschaft, und zwar in einer schon fast glaubensartigen Überzeugungstiefe. „Quanundrum“
– „Quantenrätsel“ - titelte im Juni 2014 die Zeitschrift „Nature“ in einem
Editorial. Nichtsdestotrotz beflügelt die Idee der Nichtlokalität die Erforschung
neuer technischer Applikationen: ultraschnelle Rechner, Teleportation oder nicht
knackbare Verschlüsselung von Nachrichten. Bereits kursiert das Wort von der
„zweiten Quantenrevolution“. Wohin sie führt, weiss niemand. Eine kleine Lehre
lässt sich allerdings schon jetzt ziehen. Einmal mehr zeigt sich, dass kreative
Schübe nicht mit Monsterprojekten herbeizuzwingen sind. Das Neue: das sind oft
Kuckuckseier in den Theorie-Nestern. Freundet man sich mit ihnen an, entpuppen
sie sich als verborgene Triebfedern des Fortschritts. Anders gesagt: Nichts ist
zu absurd, um wahr zu sein.
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