Samstag, 22. Februar 2014

Leben „unplugged










NZZ, 19.2.2014



Paul Miller zum Beispiel, ein junger Technikjournalist, übte sich in einjähriger Internet-Enthaltsamkeit. Er schrieb in geradezu verzückter Tonlage des Illuminierten: „Anfangs 2012 war ich 26 Jahre alt und ausgebrannt. Ich wollte eine Auszeit vom modernen Leben – dem Hamsterrad von Email-Box und der ständigen Flut der WWW-Infor­mationen, die meine Gesundheit ersäuften. Ich wollte fliehen (..) Das ‚reale Leben’ wartete vielleicht auf der anderen Seite des Web-Browsers auf mich. Wie es schien, wurde meine Vermutung in den ersten Monaten bestätigt. Das Internet hielt mich von meinem wahren Selbst zurück, dem besseren Paul. Ich habe den Stecker herausgezogen und das Licht gefunden.“
Ein digitaler Austeritätsdiskurs scheint Platz zu greifen. Zum Internet-Slang gehört z.B. das Kürzel „IRL“: In Real Life. Es wird in Online-Chats gebraucht, um einen Spielgegner oder Gesprächspartner als realitätsfremden Geek blosszustellen: „Ich spreche von meinen Freunden IRL, nicht von dir, du Loser.“ Offenbar gewinnt das Leben offline gerade in Online-Foren an besonderer Bedeutung und Würde - vor dem Hintergrund eines „digitalen Dualismus“, wie ihn der Mediensoziologe Nathan Jurgenson nennt: falsches, krankes, unnatürliches Leben im Netz versus wahres, gesundes, natürliches Leben ausserhalb. Praktiken wie Wandern, Biken, Campen erfreuen sich allgemeiner alter Beliebtheit, das Sammeln von Vinylplatten, alten Kameras und sonstigem Retrozeugs scheint cool zu werden, überhaupt „feiert Materialität ein Comeback“, wie dies kürzlich Genevieve Bell, eine Kundenforscherin bei Microsoft, formulierte.
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Nun ist nicht zu leugnen, dass die digitalisierte Lebensform Entfremdungen, Verkümmerungen, ja Süchte schafft. Aber eingedenk des alten medizinischen Wortes, dass eine Krankheit erst da existiert, wo auch eine Diagnose ist, wäre gerade bei den neuen Netz-Gewohnheiten zu Vorsicht geraten – es gibt (meines Wissens) unter Ärzten mehr Kontroversen als Konsens über pathogene Wirkungen des Netzes. Nichtsdestoweniger berichtet die Chronik der laufenden Pathologisierung von Büchern mit suggestiven Titeln wie „Was das Internet mit unserem Gehirn anstellt“ oder „Digitale Demenz“; erwägt die Vereinigung amerikanischer Psychiater, Gebresten infolge Netzbenutzung („internet-use disorder“) ins Handbuch psychischer Krankheiten aufzunehmen; beginnt ein Wellness- und Rehab-Markt ins Kraut zu schiessen, der nur darauf gewartet zu haben scheint, das neue Netzverhalten zu „therapieren“. So erlangte vor kurzem der englische Kinderpsychiater Richard Graham eine gewisse Berühmtheit, als er ein vier Jahre altes Mädchen wegen ihrer vermeintlichen Tablet-Abhängigkeit behandelte. „Englands jüngste iPad-Süchtige“ dröhnte eine Schlagzeile.

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Der Internet-Ausstieg nimmt bereits die Gestalt einer Bewegung an, die unter dem Banner „digitale Entgiftung“ („digital detox“) Wind macht. In Artikeln und Blogs blüht das Genre der Selbsterfahrung und Selbsthilfe: „Wie eine wöchentliche digitale Entgiftungskur mein Leben änderte,“ oder „Warum wir so an der Technik festgehakt sind (und wie wir den Stecker herausziehen können)“. Der Begriff „Digital detox“ ist neuestens in den Oxford Dictionary Online gelangt: „Die Zeitspanne, in der eine Person auf den Gebrauch von elektronischen Smartphones oder Computer verzichtet, um Stress zu vermindern oder sich auf soziale Begegnungen in der physischen Welt zu konzentrieren.“ In der Schweiz gibt es seit kurzem den Offline-Day. In den USA findet ein „National Day of Unplugging“ statt. Das Esalen-Institut an der Pazifikküste, berühmt geworden als Abflugrampe spiritueller Raumflüge, bietet den „digitalen Entgiftungs-Rückzug“ an unter dem Motto „Disconnect to reconnect“. Spätestens hier erklingt in eingeweihten Ohren das alte Hippie-Motto „Turn on, tune in, drop out“ nach, nun in seiner Internetversion: Log out!

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Man mag hinter der Suche nach dem „wahren“ Leben einen modischen Hype vermuten – eine „Fetischisierung des IRL“, wie Jurgenson das nennt. Aber solche Sorgen und Anstregungen drücken ein uraltes ernstes Problem aus, das jede Person auf ganz individuelle Weise heimsucht. Menschen haben den mehr oder weniger starken Drang, jemand zu sein. Eine Person eben. Etwas Unverwechselbares. Wir lernen von klein auf, uns darzustellen, eine Rolle zu spielen, uns selbst als dies oder das zu erfinden. „Persona“ heisst auch „Maske“. Masken und Rollen ausprobieren ist der natürliche Vorgang des Heranwachsens und Hineinwachsens in ein soziales Netz. In traditionellen afrikanischen Gemeinschaften z.B. bedeutet eine Person zu sein, das Recht auf eine bestimmte Rolle zu haben. Früher gaben – etwas vereinfacht gesagt – Familie, Schule, Kirche, Beruf vor, wer man ist. Heute ist das soziale Netz viel offener, dadurch auch haltloser. Man sucht Identiät über die soziale Performance und flüchtige Zugehörigkeit: zur Firma, zum Fanclub, zum Facebook-Freundeskreis. Es gibt nun nicht „das“ Selbst, es gibt Angebote des Selbst-Seins. Es gibt Ich-Rollen, Ich-Futterale, Ich-Surrogate.

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Sollen wir also, da doch ohnehin alles Fake ist, die Idee eines „wahren“ Lebens aufgeben? Nein. Aber die Gleichung „offline = real“  ist grundfalsch. Der eingangs erwähnte Paul Miller entdeckte nach einem Jahr, dass die Abstinenz ihn nicht „realer“ oder „wahrer“ gemacht hatte, als er es ohnehin schon war. Diese Einsicht ist so umwerfend neu nicht, aber dennoch aufschlussreich. Denn sie unterstreicht den fundamentalen Punkt: Es gibt nicht eine Welt des Physischen und eine Welt des Digitalen. Es gibt eine einzige Welt, in der Atome und Bits Platz haben. Das ist nicht erst so, seit wir unseren Alltag mit Anschlussgeräten ans Netz „augmentieren“. Das Virtuelle – Imaginäre oder Fiktive – ist dem Physischen immer schon beigemischt. David Hume gibt einmal (in etwas anderem Zusammenhang) das Beispiel des Mannes im Eisenkäfig, der in luftiger Höhe an einem Turm sicher befestigt ist. Trotz der Sicherheit könne sich dieser Mann des Zitterns nicht erwehren. Warum nicht? Weil er sich durchaus vorstellen kann, hinunter zu fallen. Imagination übersteigt immer die Grenzen der realen Situation, weitet uns aus. Das kann wunderbar sein oder auch angsteinflössend. Sind wir dabei, zu vergessen, dass es die „augmented reality“ immer schon gegeben hat, in Gestalt von Kunst, Literatur, Theater, Musik?
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Man fühlt sich an das 18. Jahrhundert erinnert, als Rousseau die Vorstellung eines natürlichen Lebens vor dem Kontrasthintergrund des gekünstelten konstruierte. Damals waren es die verderbten Sitten, die den Wunsch nach dem Natürlichen weckten, heute ist es das Internet, das die Vision eines Lebens „unplugged“ wachruft. Nicht dass die zahlreichen verstörenden, entfremdenden, ja, krankmachenden Phänomene im Umgang mit den neuen Medien zu verharmlosen wären. Aber indem man dem Online-Offline-Paar die dualistische Stanzform von krank/gesund, anormal/normal, unecht/echt aufprägt, verschärft man eher die Probleme. Anders gesagt: Wer von „krank“, „unecht“, „anormal“ spricht, führt stets ein Vorverständnis des Gesunden, Echten, Normalen ins Treffen. Und ein solches Vorverständnis bevorzugt den Status quo, verteidigt ihn gegebenenfalls mit dem normativen Knüppel. Hat nicht unlängst ein von pastoraler Sorge um die „Normalität“ getriebener Kirchenmann die Genderforschung hirtenbrieflich als wider Natur und Gottesordnung abgekanzelt? Michel Foucault sensiblisierte uns in seinen Studien für das repressive Potenzial, das im Echten, Gesunden und Normalen steckt, und m.E. erscheint heute nichts dringender, als mit einer kritischen Sensibilität der „Mischexistenz“ innezuwerden, die wir im Umgang mit den neuen Medien führen.

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Die „Mischexistenz“ ist der Normalzustand. Wer am Morgen zu Kaffee und Gipfeli auf dem Tablet liest, exemplifiziert diesen Normalzustand in seiner vollen Banalität: Er nimmt sowohl Atome als auch Bits zu sich (das tut übrigens auch der Zeitungsleser, das tut der Mensch seit je). Makroskopisch gesehen, verhält es sich mit Online und Offline so, wie wenn wir in einer Salatsauce leben würden, in der sich Öl und Essig nur schwer, falls überhaupt, scheiden lassen. Aber gerade deshalb sollten wir ein kulturelles Trennverfahren pflegen, in Form einer medialen Mikrokompetenz, über die wir alle verfügen. Sie lässt sich mit einem einfachen unprätentiösen Wort definieren: Unterscheidungsvermögen. Entscheiden lernen, wann ich das Gerät brauchen will und wann nicht; wann ich ihm trauen soll uns wann nicht. Genau dieses Vermögen überbrückt den Dualismus. Denn „Augmented reality“ ist ein Euphemismus für das Suchtpotenzial all der schönen smarten Dinge, die darauf optimiert werden, uns zu sagen, was wir tun und lassen sollen. Dahinter stecken natürlich deren Entwickler. Höchste Zeit, ihr Menschenbild zu durchleuchten, das sie in ihre Gadgets zum alleinigen Zweck der „Wertschöpfung“ verpacken. Ich vermute, der eigenständige, der „echt“ unterscheidungsfähige Mensch findet darin kaum noch Platz. Und genau das ist die Katastrophe, die sich still und flächendeckend in Gestalt des entfesselten Elektronikmarktes ereignet. Wie schrieb McLuhan vor fast 50 Jahren: „Unsere Augen, Ohren und Nerven an kommerzielle Interessen zu verpachten ist fast das gleiche, wie wenn man die menschliche Sprache einem Privatunternehmen übergäbe, oder die Erdatmospäre zu einem Monopol einer Firma machte.“ - Sind wir auf dem besten Weg in diese schlechteste aller möglichen Welten?


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