Freitag, 29. August 2025

 


Salavaux Plage




Sterbliche Computer 

Leben als Rechenprozess

Eine tiefverwurzelte Intuition lässt uns den Unterschied zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz als den Unterschied zwischen Lebens- und Rechenprozess empfinden. Wir sagen, KI-Systeme würden stur «mechanische» Regeln befolgen, und wir perpetuieren da-mit einen alten Gegensatz, der das philosophische Denken der Neuzeit tief prägt: den Gegensatz zwischen Lebewesen und Maschine, Organismus und Mechanismus. Tatsächlich aber weisen Entwicklungen in der KI-Forschung schon seit längerem darauf hin, dass – um es vorsichtig zu formulieren - die Grenze zwischen Lebens- und Rechenprozessen verschwimmt. 

Die Konvergenz von Biologie und Computerwissenschaften hat eine fast hundertjährige Geschichte. Sie liegt in einem genialen theoretischen Entwurf des Mathematikers Alan Turing begründet. Er konzipierte in den 1930er Jahren eine ideale Maschine, die all das simulieren kann, was wir in einem herkömmlichen Sinn «rechnen» nennen – und weit mehr, nämlich jeden Vorgang, der automatisch, algorithmengesteuert abläuft. Man nennt diese Maschine «universelle Turingmaschine». Das Revolutionäre an ihr ist die Medienunabhängigkeit. Es spielt keine Rolle, ob Algorithmen auf der Basis von Zahnrädern, Elektronenröhren, Siliziumchips oder organischen Molekülen operieren. Das Maschinelle oder Rechnerische steckt, anders gesagt, potenziell in allem. Auch im Organischen. Turing öffnete den konzeptuellen Weg, insbesondere Lebensvorgänge als Rechenprozesse zu begreifen. Er ermöglicht Fragen wie: Gibt es eine Turingmaschine für Wachstum, Proteinbau, Stoffwechsel, Selbstreplikation? Ist nicht die Evolution selbst eine solche Maschine?

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Ein anderes Genie der Computertheorie, der Mathematiker John von Neumann, nahm diese Fragen auf. Er erweiterte Turings universellen Rechner zu einem Modell des selbstreproduzierenden Automaten, des «universellen Konstruktors». Er besteht aus zwei Hauptkomponenten. Der Konstruktionsteil baut gemäss einem gespeicherten Bauplan eine neue Maschine; und der Kopierteil kopiert den Bauplan selbst und übergibt ihn an die neue Maschine. Von Neumann machte die Logik eines solchen Automaten explizit und lieferte damit eine Antwort auf das Problem: Wie kann eine Maschine nicht nur ihre Struktur, sondern auch die Information zum Aufbau ihrer Struktur weitergeben?

Nun ist das alles Theorie. Der selbstreproduzierende Automat ist ein mathematischer «Organismus», kein natürlicher. Dass er zuhauf in der Natur vorkommt – in der konkreten Gestalt von Lebewesen -, ist das eine; ihn technisch zu realisieren, das andere. Die Idee der organischen Materie als Substrat für Rechenprozesse wurde in den 1960er Jahren realisier-bar, als François Jacob und Jacques Monod vorschlugen, in den Biomolekülen eine Art von Programmsprache für die Proteinsynthese zu sehen. In den 1970er Jahren erkannte der Informatiker Charles Bennett, dass sich in Biomolekülen - etwa in der RNA-Polymerase – Turings Maschinenkonzept materialisieren lässt, und er spekulierte bereits über Moleküle, die energieeffizientere Rechner liefern könnten. In den späten 1980er Jahren prägte der Computerwissenschaftler Christopher Langton den Begriff des «Artificial Life», und er um-schrieb mit ihm ein Projekt, das vom «Leben, wie wir es kennen» übergeht zum «Leben, wie es sein könnte» - das heisst, zur Nachbildung von Naturphänomene in alternativen Medien. 

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Dieses Projekt wird heute auf vielen Feldern des «Bio-Computing» verfolgt. Man verschaltet zum Beispiel lebende Neuronen mit Chips. Ein australisches Forscherteam kultivierte das Netz von etwa 800’000 Zellen eines embryonalen Mäusegehirns in vitro, und «pflanzte» diese Schicht einem dichten Gitter von Mikroelektroden «auf». Die Neuronen reagierten auf die elektrischen Signale und lernten durch positive und negative Rückkoppelung ein einfaches Computerspiel. «DishBrain» nennt sich dieses System: Gehirn in der Petrischale.  Die Forscher versprechen sich von solchen Bio-Hybriden, die «inhärente» Intelligenz des biologischen Systems nutzen zu können.   

Oder man studiert Organismen wie den Schleimpilz auf seiner Futtersuche. Er löst das Problem, eine Anzahl Punkte – Nahrungsquellen - mit einem Netz kürzester Länge zu verknüpfen.  Für die Informationstheorie stellt dies ein notorisch kniffliges Problem dar, das mit wachsender Zahl von Punkten dem Computer sehr schnell eine immense Rechenleis-tung abfordert.  Womöglich steckt in der schleimigen Biologie der Schlüssel für einen effi-zienten Algorithmus. Die Natur als Terra incognita unbekannter «Rechenverfahren» …

Einer der grössten Wissenschaftsverlage der Welt - Springer Nature - lädt kürzlich zu Bei-trägen im Forschungsfeld des Biocomputing ein. Er begründet dies mit dem Hinweis auf einen «Paradigmenwechsel in der Konvergenz biologischer Systeme, Materialtechnik und computergestützter Technologien» (..)  Mit dem Fortschritt der Organoid- und lebenden Bio-Hybrid-Technologien bietet die Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) in diese lebenden Strukturen eine spannende Gelegenheit, neue Formen der Biocomputing zu erforschen (..) Die Zeit für diese Erforschung ist reif, da Fortschritte im Gewebeengineering und bei KI-Algorithmen sich rasant entwickeln und eine genauere Untersuchung ihres kombinierten Potenzials erfordern.» 

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Ein Typus von Computer nimmt Gestalt an, den Geoffrey Hinton - ein Pionier des Deep Learning – unlängst «sterblich» genannt hat.  Er brachte damit etwas Offensichtliches zur Sprache: Biologische Rechensysteme sind untrennbar mit dem physischen Substrat verbunden. Wenn wir sagen, das Gehirn rechne, dann meinen wir, dass der neurophysiologische «Kalkül» vollständig im Gewebe – in der «Wetware» - abgebildet ist. Sterbliche KI muss die Fakten des Lebens lernen. Intelligenz braucht die Auseinandersetzung mit der Umwelt, sie ist ein Produkt dieser Auseinandersetzung. Davon zeugt die immense Vielfalt intelligenter Lebensformen, vom Bakterium bis zum Bonobo. Und die Frage stellt sich, inwieweit und ob sich diese evolutionäre Fülle je völlig mit den Algorithmen ausbuchstabieren lässt, die wir kennen und ersinnen können. 

Wie auch immer, allmählich dämmert den Architekten der künstlichen Netze, dass sie - buchstäblich - die Rechnung ohne das «feuchte» Medium machen. Das heisst, immer klarer treten die «Features» des biologischen neuronalen Netzes in den Vordergrund. Um nur kurz drei anzuführen. Erstens arbeitet das menschliche Gehirn viel energieeffizienter als das künstliche. Zweitens sind Neuronen keine simplen Recheneinheiten, an denen man einfach die Gewichte justiert, sondern hochkomplexe dynamische Systeme, die Signale gepulst verschicken und sich dabei chemisch ändern. Und drittens sind die synaptischen Veränderungen zwischen Neuronen vielschichtiger als die statistischen Optimierungsverfahren, die man beim maschinellen Lernen verwendet. 

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Ist Leben ein Rechenprozess? Das ist keine hilfreiche Frage. Sie sollte vielmehr lauten: Welche Werkzeuge lassen sich zwischen Biologen und Computerwissenschaftlern austauschen, damit sie wechselseitig ihre Disziplinen befruchten können - und wie weit gelingt das?  Dieser Austausch verabschiedet heute den alten binären Raster von Organismus versus Mechanismus. Ein erzsimpler Unterschied bleibt dennoch. Den Computer haben wir geschaffen - nicht aber das Leben. Deshalb ist es wohl so schwer zu verstehen. 



Samstag, 2. August 2025

 



Neurobiologie der Ideologie – selber eine Ideologie?

Wir alle sind ideologieanfällig. Was natürlich die Frage provoziert, ob und inwieweit diese Anfälligkeit im Gehirn verankert ist. Es gibt neuerdings eine Disziplin namens politische Neurobiologie, die unsere Ideologieanfälligkeit durch die Gehirnbrille betrachtet. Die Neuropsychologin Leor Zmigrod hat zu diesem Thema ein Buch verfasst: «Das ideologische Gehirn» (deutsch 2025). 

Es reiht sich ein in eine Tradition, die politisches und moralisches Verhalten neurowissenschaftlich zu erklären versucht – ein mittlerweile eigenes Genre mit Autoren wie John Gribbin, David Amodio, Jonathan Haidt, Michael Gazzaniga, Chris Frith. Diese vertreten keineswegs einen kruden Neuro-Reduktionismus, wie er sich im Materialismus des 19. Jahrhunderts äusserte, etwa in der berüchtigten Analogie des Mediziners Carl Vogt, der Geist verhalte sich zum Gehirn wie der Urin zur Niere. Doch bei allem Fortschritt bleiben sie eine Antwort auf die Frage schuldig, wie Geist und Gehirn zusammenhängen. Das ist bei Leor Zmigrod nicht anders. 

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Ihr Schlüsselbegriff ist Rigidität. Er kennzeichnet den ideologischen Denkstil, zumal drei Hauptmerkmale: erstens das starre Festhalten an einer Doktrin, zweitens die Resistenz gegenüber neuen Erkenntnissen, drittens den Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst, die Bevorzugung der eigenen Meinung gegenüber der Meinung anderer.  Dass ein solcher Denkstil zu Intoleranz disponiert, liegt auf der Hand. 

Was fügt Frau Zmigrod Neues hinzu? Eine Hypothese: Gedankliche Rigidität wider-spiegelt neuronale Rigidität. Damit verschiebt sie den Fokus von geisteswissenschaftlichen zu naturwissenschaftlichen Erklärungen. Aber sie geht weiter. Sie reklamiert für sich einen «neuen und radikalen wissenschaftlichen Ansatz». Gleich am Anfang schreibt sie keck: «Für mich sind Gehirn und Geist ein und dasselbe, denn es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass der menschliche Geist ohne Gehirn existiert». Als ob ein solcher Beweis nötig wäre! Kaum ein Wissenschaftler bestreitet heute, dass neuronale Aktivitäten eine notwendige Bedingung für geistige Aktivitäten sind. Freilich folgt daraus nicht die Identität von Gehirn- und Geistesaktivität. Diesen Fehlschluss lernt man in jedem Propädeutikum der Logik kennen.

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Aber konzentrieren wir uns auf das Hauptanliegen von Leor Zmigrod. Sie möchte erklären, «wie ideologische Überzeugungen aus der Biologie hervorgehen». Und damit lädt  sie sich ein gewaltiges erkenntnistheoretisches Fuder auf. Schon das Wort «hervorgehen» ist heikel. Was meint es genau: einen Kausalnexus, eine Neigung, ein Begünstigen, ein statistisches Resultat? Die Philosophen debattieren seit dem 17. Jahr-hundert über diese Frage, und sie ist bis heute nicht eindeutig entschieden.  

Vermutlich lässt sie sich gar nicht eindeutig entscheiden, weil eine Neurobiologie der Ideologie vom Ansatz her mit mindestens zwei Erklärungsebenen operiert, der mentalen (Motive, Gedanken, Absichten) und der neurobiologischen (Aktionspotenziale, Synapsen, neuronalen Codierung). Nehmen wir zum Beispiel eine Aussage wie «Personen mit einer aktiveren Amygdala tendieren zu stärkeren Angstreaktionen und damit zu konservativem Gedankengut». Wie stellt man das fest? Nun, die neuronale Aktivität beobachtet man auf Gehirnscans, die Verbindung mit konservativem Gedankengut ermittelt man durch Befragung und Tests: Technologie trifft Statistik. Ei-ne bewährte, durch die KI noch verstärkte Methodologie. 

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Das macht sie nicht unproblematisch. Denn im Hintergrund lauert immer die Frage: Was hat die Ebene des Geistes mit der Ebene des Gehirns zu tun? Die Frage ist in einschlägigen Kreisen als das «harte Problem» bekannt. Und die Debatte läuft darüber, ob es überhaupt lösbar sei.  Der «radikale» Ansatz von Frau Zmigrod und ihre Tests mit  «Tausenden» von Probanden bringen uns auch nicht weiter. 

Und dies hauptsächlich aus zwei Gründen. Der erste liegt im empirischen Vorgehen. Betrachten wir als Beispiel den anterioren cingulären Cortex, die Region, die komplexe kognitive Prozesse steuert, etwa die Fehlerwahrnehmung und Anpassung an veränderte Umweltbedingungen. Es gibt Experimente, die zeigen, dass diese Region bei «nicht-rigiden» Personen grösser ist. Die Crux dabei ist die Wahl der Probanden. Stellt man in einer Gruppe einen solchen Zusammenhang fest, folgt daraus nicht, dass dies auch bei einer anderen der Fall ist. Die Experimente sind oft schwer replizierbar. Die Universalisierung der statistischen Resultate erweist sich stets als frag-würdig. 

Das führt zum zweiten Grund. Die Neurobiologie der Ideologie stellt fest, dass be-stimmte Hirnregionen wie Amygdala, präfrontaler Cortex, anteriorer cingulärer Cortex mit gewissen Denkstilen zusammenhängen. Aber wir können noch so viel über die neuronale Dynamik wissen, dieses Wissen führt uns nicht aus der Gehirnebene heraus. Wenn Zmigrod zum Beispiel feststellt, dass bei flexiblen Menschen die Dopaminkonzentration im präfrontalen Cortex hoch und im Striatum niedrig ist, dann fügt sie einfach Beobachtungen aus zwei Ebenen aneinander – sie korreliert sie - , sie sagt nicht, wie sie auseinander «hervorgehen». 

Nun erhebt aber gerade die Neurobiologie der Ideologie den nicht unbescheidenen Anspruch, die Frage nach der Henne und dem Ei zu beantworten: «Was ist Ursache, was Wirkung? (..) In welche Richtung zielt der Pfeil?» Die Antwort: «Unser Gehirn formt unsere politischen Einstellungen, und gleichzeitig formen unsere Ideologien die Funk-tionsweise unseres Gehirns (..) Das Bestimmen der Richtung, in die der Pfeil fliegt, bleibt eine ständige Herausforderung». Und wir sind so klug als wie zuvor. 

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Vermutlich ist Frau Zmigrod selbst nicht ganz wohl bei ihrer Sache. Erkenntnistheoretische Skrupel suchen sie heim: «Jeder Gedanke hat einen biologischen Marker, also hat eine neuronale Aktivität an sich wenig mehr zu bedeuten, als dass wir am Leben und Organsimen mit Bewusstsein sind (..) Wann sagt ein neuronales Muster etwas Spannendes über die Natur ideologischen Denkens aus? Wann ist die Neurowissenschaft der Ideologie ein verheissungsvolles Feld und wann ist sie eine sinnlose Übung?» 

Ich würde darauf antworten: Sie ist weder verheissungsvoll noch sinnlos. Sie ist nützlich, wenn sie neue spannende Fragen stellt. Dass sie «radikale» Einsichten über die Erziehung zu flexiblem Denken liefert, darf einstweilen stark bezweifelt werden. Nach wie vor ist wichtig, was man denkt. Wenn Ideologien komplexe Verhältnisse auf simple Muster reduzieren, dann empfielt sich vor allem eine Kritik dieser Logik.  

Ideologie sitzt nicht im Gehirn. Eine Ideologie ist ein kollektives Phänomen, eingebettet in Traditionen, Rituale und gesellschaftliche Institutionen. Wer Ideologie durch die Untersuchung isolierter Gehirne verstehen will, riskiert einen Kategorienfehler – ähnlich, wie wenn man im Parlamentsgebäude nach einem Raum namens «Demokratie» suchen würde.  

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Ideologisch wird eine Neurobiologie der Ideologie dann, wenn sie sich an einem irre-führenden Ideal orientiert. Und dieses Ideal heisst Ideologiefreiheit. Zmigrods Schlussbemerkungen sind bezeichnend: «Der Kampf gegen Rigiditäten zwingt uns dazu, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie ein anti-ideologisches Gehirn aussehen könnte (..) ein Bewusstsein, das frei ist von Ideologie». Hat uns Frau Zmigrod nicht eindringlich  vor dem Zwangscharakter der Ideologie gewarnt? Und nun präsentiert sie uns ihren Ansatz selbst als «zwingend».

«Aus einer Ideologie auszubrechen heisst, sich mit multiplen Stimmen auseinanderzusetzen», schreibt Leor Zmigrod. Man kann ihr Buch in diesem Sinn als einen Weckruf lesen, der Stimme der Geisteswissenschaften mehr Gehör zu schenken in einer Zeit, in der ohnehin technologische und naturwissenschaftliche Ansätze dominieren. Ideologiekritik ist bei politischen Doktrinen dringend nötig. Man vergesse nicht, sie auch auf die politische Neurobiologie anzuwenden. 



Dienstag, 29. Juli 2025

 


NZZ, 16.7.25


Baloney Detection - die Kunst des Quatscherkennens

Wenn ich einer anderen Person etwas mitteilen will, will ich sie überzeugen, einschüchtern, täuschen, für mich gewinnen; ich will sie «kneten» - griechisch: «mássein». Das heisst, Informieren und Massieren sind zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. The Message is the Massage. Am eindeutigsten beobachtbar in der Werbung – auch in der politischen. Nicht die Botschaft selbst interessiert hier, sondern ihre «knetende» Wucht. 

Die These ist nicht neu. Der Titel von Marshall McLuhans berühmtem Buch lautete bekanntlich nach einem Fehler des Schriftsetzers «The Medium is the Massage.» Der Untertitel hob den Kernpunkt hervor: «Ein Inventar an Effekten» - nämlich an manipulativen Effekten, die ein Medium haben kann. Man kennt dieses Verhalten schon aus der freien Wildbahn. Die Evolutionsbiologen sprechen von der Machiavelli-Intelligenz bei Tieren, also von einer erworbenen Fähigkeit, die sich der Strategie des «Massierens» bedient: des Irreführens, Verwirrens, Übervorteilens. 

Unser aktuelles Kommunikationsverhalten lässt auf vielen Gebieten den Charakter der freien Wildbahn erahnen, frei nach Nietzsche: den Willen zur Manipulation. Es herrscht ein Selektionsdruck, unter dem man nur durch Täuschen, Tricksen, Faken: durch «Massieren» des anderen erfolgreich besteht. Ein Biotop für die Subspezies der Leugner, Profilneurotiker, Spinner, Influencer, Trolle, Zyniker. Symptom eines intellektuellen Umweltproblems. Ich nenne es Krise der epistemischen Autorität. 

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In modernen, aufgeklärten Gesellschaften gilt das wissenschaftliche Expertentum als solche Autorität. Coronaepidemie und Klimawandel haben jedoch den Ruf der Experten nicht gefördert. Das liegt gewiss an der Komplexität des Themas, aber auch an etwas anderem: die Phänomene sind von allgemeinem Belang und wertbeladen, sie gehen Wissenschaftler und Laien dringend und direkt an. Und hier tritt ein gestörtes Verhältnis zwischen beiden zutage. Ganz offensichtlich daran zu erkennen, dass man den Leuten, die dafür ausgebildet sind, über ein gewisses Gebiet kompetent zu urteilen, nicht mehr glaubt und vertraut. Gleichzeitig aber meint, mit einer zusammengeschusterten Do-it-yourself-Theorie das ganze gesammelte Wissen einer Disziplin über den Haufen werfen zu können. 

Ohnehin sollte man aber epistemische Autorität nicht mit der Autorität von Personen gleichsetzen, seien sie Wissenschaftler, Philosophen oder öffentliche Intellektuelle. Sie liegt vielmehr in intellektuellen Tugenden, auf die ein robustes demokratisches Zusammenleben abstellt: etwa das Überwinden des Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst der Neigung, nur gleichen Meinungen Glauben zu schenken und die anderen mit ei-nem Shitstorm zu überziehen; Skepsis gegenüber vorschnellen Verallgemeinerungen und patenten Problemlösungen; das Vermeiden von Argumenten ad personam; das Misstrauen gegenüber Gefühlsexhibitionisten, die ihre Emotionen für Argumente halten, oder gegenüber Leuten, die sich selbst zu Opfern stilisieren: Betroffenheitsnarzissten; das Ersetzen von moralisierenden Schuldfragen durch empirische Ursachen-fragen; ein Gehör für die falschen Töne im Namen «des Volkes». Aufs Ganze gesehen könnte man einen epistemischen Tugendkatalog aufstellen und mit der Bezeichnung des bekannten Wissenschaftsautors Carl Sagan zusammenfassen: «Baloney Detection» - Quatscherkennung. Sagan nannte sie eine «hohe Kunst». 

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Aber wer sagt denn eigentlich, was der Fall ist, was ein korrektes Argument, was ein triftiges Urteil? Was für eine Instanz rufen wir an, wenn wir vom Gegenteil des Quat-sches -  der Wahrheit - sprechen? 

Unsere Zeit ist von tiefem Misstrauen geprägt. Man erinnert sich an Jürgen Haber-mas Spielwiese der Kommunikation, wo der «eigentümlich zwanglose Zwang des besse-ren Arguments» regiert. Dieser «Zwang» hat eine ganz einfache Basis: das Vertrauen in den anderen; das Vertrauen darauf, dass der andere wie ich die Spielregeln des «bes-seren Arguments» anerkennt. Die Garantie für das zwanglose Gespräch liegt im Kol-lektiv von Bürgerinnen und Bürgern, die Erkenntnistugenden kultivieren und tradie-ren. In dem Masse, in dem das gelingt, gewinnt die Instanz des besseren Arguments an Autorität, können wir die Message von der Massage trennen und damit den intel-lektuellen Dreckschleudern entgegenwirken, die vor allem eines wollen: Flood the zone with shit. 

Der spanische Philosoph Ortega y Gasset hat dies bereits vor hundert Jahren erkannt. In seinem Essay «Der Aufstand der Massen» (1929) schreibt er: «Wer Ideen haben will, muss zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt. Es geht nicht an, von Ideen oder Meinungen zu reden, wenn man keine Instanz anerkennt, welche über sie zu Gericht sitzt». 

Fürwahr! Wir leben im Zeitalter der «Kneter». Sie anerkennen keine solche Instanz. Sie haben deshalb auch keine Meinungen, sie sondern Meinungen ab wie Speichel. Und wer diesen Speichel unkritisch resorbiert, ist ein… 


Samstag, 26. Juli 2025

 



Wieder einmal Untergang des Abendlandes

Apokalyptisches Denken kommt auf. Und zwar nicht in theologischen, sondern in technologischen Zirkeln. Peter Thiel, Dotcom-Krösus und Investment-Hansdampf aus dem Silicon Valley, hausiert neuerdings philosophisch mit Endzeitideen. Und damit reanimiert er ein Denken, das bereits vor gut einem Jahrhundert die Köpfe erhitzte. Ausgelöst hatte es der deutsche Philosoph Oswald Spenglers mit seinem Buch «Untergang des Abendlandes». Da-rin postulierte er das geschichtsphilosophische Muster eines notwendigen Dreischritts von Aufstieg, Höhepunkt und Verfall. Dieses Muster zeige sich bei allen Kulturen und in allen Epochen. Spengler fürchtete, dass das faustische Streben nach Wissen, Macht und Transzendenz, einst der geistige Motor der westlichen Kultur, zunehmend durch eine genussorientierte Haltung des Sozialismus und Liberalismus ersetzt werde. Was laut Spengler den Beginn einer Endphase der westlichen Zivilisation bedeutete. 

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Auch Thiel sieht die moderne westliche Gesellschaft von Verfall bedroht: zuwenig Fortschritt, ja, Stagnation seit etwa den 1970er Jahren. Seiner Meinung nach «gibt es viele Erklärungen für diese Verlangsamung (..), aber die Erklärung, an die ich glaube, lautet: Technologie wurde beängstigend. Wir sind ihr gegenüber heute misstrauisch, wir umarmen sie nicht mehr wie früher». Thiel diagnostiziert darin ein Versagen, den robusten technologischen Fortschritt aufrechtzuerhalten, der frühere Perioden der westlichen Entwicklung prägte. «Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eine Geschichte des Verlusts der Hoffnung auf die Zukunft. Mit dem Blick zurück mag der Beginn des Atomzeitalters und das Manhattan-Projekt einen entscheidenden Wendepunkt darstellen, ein grosses Ereignis, das zu enormer Enttäuschung führte. Diese Enttäuschung traf in den 1970er Jahren mit voller Wucht, als das Nachfolgeprogramm Apollo zusammenbrach und die Baby-Boomer ihre Energien auf endlose Kulturkämpfe lenkten. Ob aus Zufall oder Absicht, die Wissenschaftler wurden an die kurze Leine genommen und mussten ihre Zeit mit dem Schreiben von Förderanträgen für bescheidene Erweiterungen bestehender Paradigmen verbringen».  

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Das ist nicht Analyse, sondern Polemik, aber man kann durchaus fragen: Was ist schief gelaufen? Ein Axiom der aufklärerischen Moderne lautet: Die menschliche Gesellschaft ist nicht nur fähig, sondern verpflichtet zum Fortschritt. Dabei gilt die technische Innovation als treibende Kraft. Nun könnte man es allerdings  als Ironie des technischen Fortschritts betrachten, dass er im Zeitalter rasanter «disruptiver» Entwicklungen und drohender existenzieller Bedrohungen das Endzeit-Szenario reanimiert. Das heisst, es geht in diesem Szenario nicht einfach mehr um «Pragmatismus», um die Lösung von konkreten planetarischen Problemen - Umweltzerstörung, Klimawandel, Armut und Hunger, Überwachung des Individuums, Zerfall des sozialen Gewebes etcetera. Es geht um das Ganze, das planetarisch «Schicksalshafte», das «letzte Drama» der Geschichte schlechthin: das Eschaton – um et-was, so Thiel, das sich nur im Horizont biblischer Vorstellungen begreifen lässt. Im Horizont einer «dunklen Aufklärung».

Sie klärt den vermeintlich aufgeklärten Menschen endlich auf. Seht, sagt Thiel in seinem Essay «Against Edenism», ihr habt euch geirrt: «Wenn eine wissenschaftlich-technologische Utopie das Markenzeichen der Aufklärung war, dann ist vielleicht das Misstrauen gegenüber dieser Utopie das Markenzeichen des postaufklärerischen, postmodernen Westens. Der weit verbreitete Charakter dieses Misstrauens ist ein guter Massstab dafür, wie weit die Postmoderne die Moderne verdrängt hat». Das Misstrauen hat die «sogenannt christlichen Rechten», die «Hollywood-Linken», sowie alle dazwischen erfasst, «mit nur kleinen Unter-schieden in den genauen Details dessen, was abgelehnt wird – sei es die Stammzellforschung als entgegen dem Willen Gottes (..) oder die Fracking-Technologie als schädlich für die Umwelt».  Aufs Ganze gesehen, herrscht wieder einmal Untergang des Abendlandes. 

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Die Wiederkehr gewisser Denkfiguren wie jener des Verfalls gehört meines Erachtens zu den faszinierendsten Themen der Ideengeschichte. Man kann dieses Phänomen zweifellos durch bestimmte historische «Atmosphären» erklären, die ein Wiederaufleben begünstigen. Das Positivste an Thiels Apokalypsedenken ist, dass er als Barometer einer kulturellen Wetterlage auftritt. Aber wir sollten auch die innere, erkenntnistheoretische Struktur der Denkfigur in Betracht ziehen - die Logik des Untergangs «dekonstruieren».  Betrachten wir kurz drei Merkmale. 

Erstens sieht sich Thiel als Denker, der gegen den Mainstream schwimmt. Je querer die Idee, desto «wahrer» ist sie. Das reflektiert ziemlich genau die Startup-Ideologie von Silicon Valley: Verrückte Ideen finden eher einen Investor als plausible. Aber als Argument in einer philosophischen Diskussion ist diese Auffassung von Wahrheit dünn und erinnert an pubertäre Renitenz. Wer Wahrheit sucht, ist vielleicht mutig und verrückt, aber er muss damit rechnen, dass er falsch liegt. Das ist die fallibilistische Tradition der Erkenntnis. 

Sie lässt Thiel kalt. Seine Vision der Endzeit ist «wahr», weil sie von einem «Contrarian» als entschlossene Erklärung in die Welt gesetzt wird, ihn als heroischen Denker hervorhebt und seiner Gefolgschaft Distinktion verleiht. Umberto Eco sah das klar: « Im Grunde genommen tröstet der Apokalyptiker den Leser; er lässt ihn (..) die Existenz einer Gemeinschaft von ›Übermenschen‹ erahnen, die sich über die Banalität und den ›Durchschnitt‹ zu erheben vermögen». So sieht das auch Thiel: «Das Schicksal in dieser Welt liegt vielleicht in den Händen eines einzelnen Menschen,  der den Mechanismus der Freiheit erschafft oder verbreitet, den wir brauchen.»

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Zweitens kredenzt Thiel ein seltsam eklektisches  Gebräu aus modernen und biblischen Ideen. Er schwimmt nicht nur gegen den Mainstream westlichen Denkens, sondern möchte einem Paradigma zum Durchbruch verhelfen, das Geschichte, Macht und die Möglichkeit menschlichen Handelns auf neue alte Art – quasi neoarchaisch - verstehen will. Und hier ruft Thiel eine biblische Figur auf die apokalyptische Bühne: den «Katechon». Der Ausdruck bedeutet «Aufhalter» - eine Ordnungsmacht gegen den Verfall, die Dekadenz,  das Chaos. In Thiels Augen sind die USA der Katechon. Dabei muss man genauer hinsehen, was Thiel auf-halten will, nämlich den ganzen «Mob» der Umweltschützer, Klimaaktivisten, Wachstumskritiker, Umverteiler, woken Sozialisten –  falsche Friedensbringer und Wegbereiter zu einem bevormundenden Weltstaat mit Institutionen wie die UNO und die WHO – für Thiel Verkörperungen des «Antichristen».  Der konspirativen Duktus darf nicht fehlen. 

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Thiel ist drittens ein strategischer Apokalyptiker, nach dem Hölderlin-Vers: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Das Endzeit-Argument bezieht gerade aus dem paradoxen Charakter seine Schlagkraft: optimistisch und apokalyptisch zugleich. Man malt die Apokalypse an die Wand, um die optimistische Vision zu stärken. Hört, Leute, das Ende der Welt droht - falls ihr nicht eine postliberale Ordnung wählt, gestützt auf religiöse Transzendenz, technologische Risikobereitschaft, Monopolstellung grosser Konzerne, Herschaft weniger, Deregulierung des Staates und – Geldverdienen. Der Historiker David Edgerton nennt dies «apokalyptischen Optimismus». 

Er ist eine giftige Denkfigur, wenn er sich in die Politik einmischt. Günter Anders warnte vor einer «Apokalypse-Blindheit», vor mangelnder Angst angesicht der damaligen Bedrohung einer nuklearen Weltzerstörung in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Heute wäre eher vor einer anderen Blindheit zu warnen: gegenüber verworrenen Risikokapitalisten, die den Untergang als profitables Investitionsobjekt entdeckt haben. 


Donnerstag, 17. Juli 2025

 


Prompten statt schreiben

Stammt der Text von dir? So lautet oder wird wahrscheinlich schon bald die Standardfrage einer neuen Ära des Schreibens lauten. Der Textgenerator – der General Pretrained Transformer (GPT) – hat sich binnen kürzester Zeit zum künstlichen literarischen Konkurrenten des Menschen entwickelt, und er befindet sich wohlgemerkt im Babystadium. Bisher war er eine Voraussagemaschine von Texten. Nun lernt er, «verständig» auf bestimmte Anfragen oder Instruktionen – auf Prompts - zu reagieren. Eine neue Kompetenz gewinnt an Bedeutung: das Prompt-Engineering. Man «treibt» den Chatbot mit gezielten präzisen Eingaben in eine gewünschte Richtung. 

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Für den Schriftsteller Clemens Setz lassen sich deshalb Schreiben und Prompten tendenziell nicht mehr unterscheiden.  Er lobt eine «neue Aufrichtigkeit», die nicht so tut, als wäre der Mensch allein Autor der Texte. Vielmehr repräsentiere das Prompten eine neue Kulturtechnik, in der Mensch und KI-Assistent eine Symbiose eingehen. «Zukünftige Generationen könnten sich kopfschüttelnd wundern, wie die frühere Menschheit überhaupt je irgendetwas Authentisches und Aufrichtiges auszudrücken imstande war, wenn sie doch gerade in der Situation der Schrifterzeugung immer so mutterseelenallein war, von niemandem betreut als vom eigenen Gehirn». Setz sieht einen «tertiären Analphabetismus» aufkommen. Der tertiäre Analphabet kann selbst keine Texte verfassen. Und auch die Überprüfung der vom Chatbot generierten Texte ist für ihn unmöglich. Er kann nur «extrem präzise wünschen», sprich: prompten. 

Solche Kulturdiagnosen folgen einem gängigen Narrativ: Neuerungen ersetzen alte Techniken. Ein anderer österreichischer Schriftsteller, Alfred Polgar, sagte in den 1920er Jahren mit erstaunlicher Radikalität voraus, dass die Schreibmaschine nicht nur Finger und Hände ihres Nutzers entbehrlich macht, sondern im letzten Effekt den Nutzer selbst: «Die Entwicklung muss hier, wie bei jeder Maschine, dahin streben, die notwendige menschliche Mitarbeit immer mehr und mehr einzuschränken. Der Tag, an dem es gelungen sein wird, den Schriftsteller ganz auszuschalten und die Schreibmaschine unmittelbar in Tätigkeit zu set-zen, wird das grosse Zeitalter neuer Dichtkunst einleiten». 

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Ich weiss nicht, ob Setz auch von einer neuen Dichtkunst träumt. Sein tertiärer Analphabet tut sich jedenfalls in einer neuen Kulturtechnik hervor. Er «lernt fast ausschliesslich eine Sache (..): das Wünschen.» Ihm bleibt die letzte Kompetenz, nämlich das «übergenaue (..) erwachsene Selbstkenntnis erfordernde Formulieren dessen, was man gerne haben möchte». Also: Ich möchte gerne einen Text von 10'000 Zeichen über Roadkill. Oder: Ich möchte gerne eine Zusammenfassung meines Essays in 2000 Zeichen und in Englisch. Der KI-Assistent liefert das in Sekundenschnelle. Der tertäre Analphabet kann, «wenn die Wunscherfüllung geliefert wird, nicht mehr persönlich nachprüfen, ob der Wunsch korrekt verstanden wurde, das kann dann nur das Leben selbst entscheiden». Das Leben selbst: das ist die akzeptierte Seminararbeit, die bestandene Prüfung, das erfolgreiche Bewerbungsschreiben. Man muss nicht mehr verstehen, wie sie zustandegekommen sind, Hauptsache, man reüssiert. 

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Am ehesten goutiert man die Ausführungen von Setz als fiktiv-satirische Extrapolation ei-ner durchaus bestehenden Tendenz. Auch so bleiben sie nerdig verblasen. Denn erstens ist der schreibende Mensch nie «mutterseelenallein» mit seinem Gehirn. Tatsächlich ist auch das Schreiben mit der Feder bereits ein symbiotischer Akt von Mensch und Werkzeug. «Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken», erkannte schon Nietzsche. Und all die Werkzeuge und Geräte, die der Mensch mit sich herumträgt und mit denen er sich umgibt – dazu gehört nota bene auch das Buch - , sind ja, so liesse sich sagen, Extensionen seines Gehirns, in dem Sinne, dass das Gehirn seine hochflexible Struktur dem jeweiligen Geräte-gebrauch anpasst. 

Zweitens hat die «tertiäre Analphabetisierung» etwas Paradoxes. Prompten ist das «über-genaue (..) erwachsene Selbstkenntnis erfordernde Formulieren dessen, was man gerne haben möchte». Aber ist Formulieren denn nicht Eingeben in geschriebener Form? Will der tertiäre Analphabet nicht gerade darauf verzichten? Zum Schreiben gehört insbesondere auch das Lesen. Lesen und Schreiben sind komplementäre Seiten ein und derselben Kompetenz. Mit der einen verkümmert die andere. Und damit auch das Wünschenkönnen. Der vom KI-Assistenten begleitete tertiäre Analphabet wird am Ende wunschlos sein wie sein Gerät. Ein geistiger Mutant, wunschlos glücklich und jeglicher Schreibfähigkeit depriviert?

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Man muss Setz durchaus konzedieren: 2022 liess OpenAI ChatGPT auf den Technikkonsumenten los, und innerhalb von drei Jahren hat sich dieses Ding zu einem kulturellen Game Changer entwickelt. So stark, dass die Pädagogen und Psychologen immer erfolgloser ge-gen das Schummeln vorzugehen suchen. Für Setz eine hoffnungslose Massnahme. Denn Schummeln – so sein gedanklicher Salto mortale – ist die neue Aufrichtigkeit. «Absolut jede Art von Lernen ist dann tendenziell ‘Cheating’, oder, anders formuliert, geschieht in Gesellschaft des KI-Assistenten». 

Mag sein. Aber die Frage stellt sich drittens, ob die Schreibassistenten dem Schreiben, statt es zu ersetzen, nicht vielleicht eine neue, zeitadaptierte Bedeutung verleihen. Paläoanthropologie, Evolutionsbiologie, Neurologie und Kognitionspsychologie weisen uns längst schon auf das Zusammenwirken von Hand und Hirn hin. Und aus diesem Zusammenwirken hat sich so etwas wie ein «Schreibhirn» entwickelt. Eine  neuronale Struktur, die der Schreibaktivität entspricht. Man spricht von einer «breit gestreuten Hirnkonnektivität» durch Schreiben.  

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Inwieweit diese Struktur sich durch die neue Kulturtechnik des Promptens verändert, bleibt abzuwarten. Die entscheidende Frage betrifft das Gleichgewicht zwischen Kulturtechniken. Die Schrift zum Beispiel hat das Gespräch nicht ersetzt. Vielmehr hat sich zwischen Reden und Schreiben ein dynamisches kulturelles Gleichgewicht von Ausdrucksmöglichkeiten gebildet. Man kann dies heute im Netz beobachten. Video- und Audioformate haben zur Verbreitung mündlicher Kommunikation im digitalen Medium beigetragen. Man schreibt nach wie vor. Aber Chatten, Simsen, Twittern tragen durch ihre Kürze, Direktheit und Expressivität Züge der Oralität. «Sekundäre Oralität» hat dies der Literaturwissenschaftler Walter Ong genannt. The medium is the style. 

Lässt sich nicht Ähnliches vom Schreiben und Prompten erwarten? Nicht ein Verlernen, sondern ein Wiedererlernen des Schreibens im Zusammenspiel mit dem Textgenerator, Re-Skilling statt De-Skilling: sekundäre Literalität? Man lässt schreiben und pflegt zugleich das Schreiben. So wie der Algorithmus meine «Idiosynkrasien» des Schreibens lernt, lerne ich seine Schreibtricks. Wenn Mensch und GPT eine Symbiose eingehen, bedeutet dies nicht zwingend den «Tod des Autors». Warum nicht die Geburt eines neuartigen «Schreibsubjekts» aus Autor und Algorithmus, das die alten Kompetenzen durchaus weiter kultiviert? Also die Frage der Kompetenzverteilung in einer Welt autonomer Artefakte. 

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Ein Aspekt verdient dabei grössere Beachtung. Wenn eine Person den ChatGPT schreiben lässt und meint, selbst zu schreiben, dann nimmt sie das Gerät als Teil ihrer selbst wahr, verinnerlicht sie es. Das führt zu einer «Ich-Werdung» des Geräts. Oder umgekehrt zu einer Gerätewerdung der Person.

Darin zeichnet sich der Prozess einer allgemeineren Symbiose von Mensch und Maschine ab, in der sich der Mensch immer mehr der Maschine anpasst – und schlimmstenfalls als kulturelle Kümmerform seiner selbst überlebt. Was dies bedeutet, muss in einem umfassen-deren Kontext diskutiert werden als bloss in jenem des Schreibens und Lesens – es ist der Kontext des Menschbleibens in einer Welt der Geräte. 


  Salavaux Plage