Jenseits der Genderfronten
Nichtbinarität weiter denken
Sexualität erweist sich von Natur aus als kompliziert. Medizin und Biologie kennen schon lange Personen, die nicht in die Dichotomie von XY und XX passen – ihre Geschlechtschromosomen sagen das eine, aber ihre Gonaden oder ihre sexuelle Anatomie sagen etwas anderes. Solche Personen haben zum Beispiel sowohl Eierstock- wie Hodengewebe. Bei einem 70-jährigen Mann wies man eine Gebärmutter nach. Das heisst, es handelt sich hier um sogenannte intergeschlechtliche Merkmale. Sie sind vielleicht nicht die Norm im statistischen Sinn, aber deswegen sind sie nicht unnatürlich.
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Nun mögen uns Biologen eine nuanciertere Sicht der Sexualität lehren, dennoch bleibt ein Grossteil der allgemeinen Debatte im binären Raster gefangen. Ein halbes Jahrhundert Aktivismus der Genderbewegung hat zweifellos zu einer Aufweichung der Haltung gegenüber «anormaler» Sexualität geführt. Aber nach wie vor scheint das binäre Geschlechtsmodell seine normative Macht auszuüben.
Man leihe nur kurz ein Ohr der politischen Debatte. Das Parlament des Kantons Basel-Stadt diskutierte kürzlich über ein Gesetz, das explizit nichtbinäre Personen berücksichtigt. Dagegen argumentierte ein Grossrat, das Gesetz wolle «die Stütze unserer Familie – nämlich die Gemeinschaft von Mann und Frau – auflösen, indem es biologische Fakten leugnet und einen diffusen Genderbegriff einführt (..) Sie können es drehen und wenden, wie Sie es wollen. Gott erschuf Adam und Eva, nicht Adam und Egon (..) Die Auflösung der Geschlechter ist Ausdruck der menschlichen Hybris, die Meinung, wir stünden über der Natur.»
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Gott - er tut einem fast leid - muss immer wieder für schwachbrüstige Argumente herhalten. Die Wissenschaft hat einen schweren Stand gegen tiefverwurzelte, zumal religiöse Überzeugungen. Und häufig wandelt sich die rhetorische Keule in eine ganz handfeste. Viele Länder stigmatisieren und diskriminieren Abweichungen von der Norm nicht nur, sie kriminalisieren, ja, entmenschlichen sie. Hinzu kommt etwas anderes. Inzwischen gibt es eine Unzahl von Identitätsfutteralen für das Geschlecht. Und hier zeigt sich die Kehrseite der Diversität. Identität verhilft sowohl zum Inkludieren wie zum Exkludieren. Vor noch nicht allzu langer Zeit wollte die deutsche Biologiedoktorandin Marie-Louise Vollbrecht an der Humboldt-Universität Berlin einen Vortrag halten, unter anderem über die Binarität von Kiwis. Lassen wir die Frage, was Kiwis mit unserem Sexualleben zu tun haben. Jedenfalls sorgte die Biologin für ziemlich viel Bohei. Transaktivistinnen und -aktivisten verhinderten den Vortrag (der allerdings nachträglich gehalten werden konnte). Frau Vollbrecht sah sich unversehens als transphobe Buhfrau abgewatscht und zugleich als Verteidigerin des guten alten Beiwohnens beklatscht.
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Der amerikanische Philosoph Robin Dembroff – er definiert sich als Transperson – schlägt einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation vor. Wir sollten nichtbinäres Denken von der Frage der Geschlechtsidentität ablösen und als «radikale Ausstiegsluke» aus dem generellen binären Denkraster betrachten: «Statt darauf zu pochen, dass Männer und Frauen alles sein und tun können, was sie wollen, frage ich und andere nichtbinäre Personen, warum wir Menschen überhaupt als Männer und Frauen kategorisieren. Wir fragen uns, welche Kategorien unser soziales Leben leiten sollten und solche Fragen sind nicht einfach Tatsachenfragen, wie die Welt ist, sondern wie wir sie gestalten wollen – inhärent normative Probleme.» Nichtbinäre weigern sich also, in einem Spiel mitzumachen, dessen Regeln die Binären festlegen. Und diese Regeln sind nicht natur-gegeben.
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Man könnte – etwas philosophischer - von vager Identität sprechen. Das würde sie «entgendern» und zugleich auf ein allgemeineres Problem hinweisen. Vage bedeutet nicht «diffus» im Sinne des Basler Politikers, sondern streitbar. Vage bedeutet, dass eine Person sich nicht mit einer erschöpfenden Liste von Eigenschaften und Merkmalen beschreiben lässt: männlich, weiss, europäisch, Akademiker, 65-jährig, 180cm gross, 80kg schwer, braunhaarig, blauäugig, zuckerkrank, und und und… Diese philosophische Lektion verdanken wir dem (französischen und russischen) Existenzialismus. In seinem Sinn sind alle Menschen vage Identitäten, sie haben keine «wesentlichen» Eigenschaften, die sie ein für allemal einfangen («Existenz kommt vor Essenz»). Als wen du mich auch beschreiben magst, ich kann immer deinem Identifizier-Lasso entschlüpfen. «Ich bin nicht Stiller».
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So gesehen erweist sich die vage Identität als existenzielle Revolte: Ich lasse mir meine Identität nicht zuschreiben und vorschreiben! Die nichtbinäre Person in diesem verallgemeinerten Sinn steht keineswegs über der Natur, sie lebt einfach ihr Selbstverständnis aktiv, das heisst, sie hinterfragt unbedachte Kategorien, die eine nicht mehr zeitgemässe Verhaltenskonformität stützen. Wenn sie die kategorielle Differenz zwischen Frau und Mann prinzipiell in Zweifel zieht, dann fordert sie ein System heraus, das implizite soziale Kontrolle über den geschlechtsbestimmten Körper ausübt. Die zitierte familiäre Stütze der Gemeinschaft von Mann und Frau ist eben unter anderem eine Stütze hergebrachter Ordnung, was unter Umständen auch heisst: Nicht-Gleichordnung. Zur Erinnerung: Die vollen Bürgerrechte für die Frau gibt es bei uns in der Schweiz seit 1971.
Daraus erhellt sofort die soziale und politische Brisanz der Vagheit, denn Identifizierung bedeutet immer auch Machtausübung durch staatliche Behörden oder andere Institutionen. In der Vagheit steckt ein heimliches subversives Potenzial, ein Widerstand gegen das Gleichmacherische, den wir gerade heutzutage angesichts der immer potenteren Identifizierungs- und Überwachungstechnologien bewahren und pflegen sollten.
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Die meisten von uns verstehen Frau- und Mannsein als Teil unserer Biografie, der Geschichte, wie wir als Kinder sozialisiert, zu Verhaltensweisen erzogen wurden, wie wir unser individuelles Verhältnis zum eigenen Körper erworben haben. Der Zufall und die Umstände spielen in dieser Geschichte immer mit, wie sehr uns das Skript der Chromosomen auch «determinieren» mag. Das ist völlig unkontrovers, normal im traditionellen Sinn. Und so sollte es auch bleiben. Frau bleibt Frau, Mann bleibt Mann. Nur beginnen wir jetzt vermehrt Menschen wahrzunehmen, die mit ihrer Biografie nicht in den traditionellen Raster passen. Gewiss, jede Erweiterung der Normalzone schafft Probleme. Ob man «Frau» durch «Person mit Gebärmutter» ersetzen soll, ist das geringste. Eine Gesetzgebung diesen neuen Verhältnissen anzupassen dürfte ein härterer Brocken sein. Aber das gehört nun einmal zum Lauf der Dinge. Und mit ihm Schritt zu halten verlangt eine konzeptuelle Lust, neuartige Formen des Miteinander zu denken, die nicht immer gleich in Diskrimination oder in Grabenkämpfen der Identitätskriege enden. Das hält die Gesellschaft offen und lebendig.
Oder sagen wir es mit dem unvergleichlichen Georg Christoph Lichtenberg, leicht abgewandelt: Man muss zuweilen wieder die Kategorien untersuchen, denn die Welt kann wegrücken und die Kategorien bleiben stehen. Null-eins, links-rechts, gut-böse, Norden-Süden, Weisser-Nichtweisser, pro Israel-pro Palästina, Kolonisierender-Kolonisierter, Progressiver-Reaktionärer etcetera pp. - Und überhaupt: Wer wirklich denkt, denkt immer schon nichtbinär.