Mittwoch, 15. Mai 2024

 

Jenseits der Genderfronten

Nichtbinarität weiter denken 

  Sexualität erweist sich von Natur aus als kompliziert. Medizin und Biologie kennen schon lange Personen, die nicht in die Dichotomie von XY und XX passen – ihre Geschlechtschromosomen sagen das eine, aber ihre Gonaden oder ihre sexuelle Anatomie sagen etwas anderes. Solche Personen haben zum Beispiel sowohl Eierstock- wie Hodengewebe. Bei einem 70-jährigen Mann wies man eine Gebärmutter nach. Das heisst, es handelt sich hier um sogenannte intergeschlechtliche Merkmale.  Sie sind vielleicht nicht die Norm im statistischen Sinn, aber deswegen sind sie nicht unnatürlich. 

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Nun mögen uns  Biologen eine nuanciertere Sicht der Sexualität lehren, dennoch bleibt ein Grossteil der allgemeinen Debatte im binären Raster gefangen. Ein halbes Jahrhundert Aktivismus der Genderbewegung hat zweifellos zu einer Aufweichung der Haltung gegenüber «anormaler» Sexualität geführt. Aber nach wie vor scheint das binäre Geschlechtsmodell seine normative Macht auszuüben. 

Man leihe nur kurz ein Ohr der politischen Debatte. Das Parlament des Kantons Basel-Stadt diskutierte kürzlich über ein Gesetz, das explizit nichtbinäre Personen berücksichtigt. Dagegen argumentierte ein Grossrat, das Gesetz wolle «die Stütze unserer Familie – nämlich die Gemeinschaft von Mann und Frau – auflösen, indem es biologische Fakten leugnet und einen diffusen Genderbegriff einführt (..) Sie können es drehen und wenden, wie Sie es wollen. Gott erschuf Adam und Eva, nicht Adam und Egon (..) Die Auflösung der Geschlechter ist Ausdruck der menschlichen Hybris, die Meinung, wir stünden über der Natur.» 

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Gott - er tut einem fast leid -  muss immer wieder für schwachbrüstige Argumente herhalten. Die Wissenschaft hat einen schweren Stand gegen tiefverwurzelte, zumal religiöse Überzeugungen. Und häufig wandelt sich die rhetorische Keule in eine ganz handfeste. Viele Länder stigmatisieren und diskriminieren Abweichungen von der Norm nicht nur, sie kriminalisieren, ja, entmenschlichen sie. Hinzu kommt etwas anderes. Inzwischen gibt es eine Unzahl von Identitätsfutteralen für das Geschlecht. Und hier zeigt sich die Kehrseite der Diversität. Identität verhilft sowohl zum Inkludieren wie zum Exkludieren. Vor noch nicht allzu langer Zeit wollte die deutsche Biologiedoktorandin Marie-Louise Vollbrecht an der Humboldt-Universität Berlin einen Vortrag halten, unter anderem über die Binarität von Kiwis. Lassen wir die Frage, was Kiwis mit unserem Sexualleben zu tun haben. Jedenfalls sorgte die Biologin für ziemlich viel Bohei. Transaktivistinnen und -aktivisten verhinderten den Vortrag (der allerdings nachträglich gehalten werden konnte). Frau Vollbrecht sah sich unversehens als transphobe Buhfrau abgewatscht und zugleich als Verteidigerin des guten alten Beiwohnens beklatscht. 

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Der amerikanische Philosoph Robin Dembroff – er definiert sich als Transperson – schlägt einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation vor. Wir sollten nichtbinäres Denken von der Frage der Geschlechtsidentität ablösen und als «radikale Ausstiegsluke» aus dem generellen binären Denkraster betrachten: «Statt darauf zu pochen, dass Männer und Frauen alles sein und tun können, was sie wollen, frage ich und andere nichtbinäre Personen, warum wir Menschen überhaupt als Männer und Frauen kategorisieren. Wir fragen uns, welche Kategorien unser soziales Leben leiten sollten und solche Fragen sind nicht einfach Tatsachenfragen, wie die Welt ist, sondern wie wir sie gestalten wollen – inhärent normative Probleme.»   Nichtbinäre weigern sich also, in einem Spiel mitzumachen, dessen Regeln die Binären festlegen. Und diese Regeln sind nicht natur-gegeben. 

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Man könnte – etwas philosophischer - von vager Identität sprechen. Das würde sie «entgendern» und zugleich auf ein allgemeineres Problem hinweisen. Vage bedeutet nicht «diffus» im Sinne des Basler Politikers, sondern streitbar. Vage bedeutet, dass eine Person sich nicht mit einer erschöpfenden Liste von Eigenschaften und Merkmalen beschreiben lässt: männlich, weiss, europäisch, Akademiker, 65-jährig, 180cm gross, 80kg schwer, braunhaarig, blauäugig, zuckerkrank, und und und… Diese philosophische Lektion verdanken wir dem (französischen und russischen) Existenzialismus. In seinem Sinn sind alle Menschen vage Identitäten, sie haben keine «wesentlichen» Eigenschaften, die sie ein für allemal einfangen («Existenz kommt vor Essenz»). Als wen du mich auch beschreiben magst, ich kann immer deinem Identifizier-Lasso entschlüpfen. «Ich bin nicht Stiller». 

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So gesehen erweist sich die vage Identität als existenzielle Revolte: Ich lasse mir meine Identität nicht zuschreiben und vorschreiben! Die nichtbinäre Person in diesem verallgemeinerten Sinn steht keineswegs über der Natur, sie lebt einfach ihr Selbstverständnis aktiv, das heisst, sie hinterfragt unbedachte Kategorien, die eine nicht mehr zeitgemässe Verhaltenskonformität stützen. Wenn sie die kategorielle Differenz zwischen Frau und Mann prinzipiell in Zweifel zieht, dann fordert sie ein System heraus, das implizite soziale Kontrolle über den geschlechtsbestimmten Körper ausübt. Die zitierte familiäre Stütze der Gemeinschaft von Mann und Frau ist eben unter anderem eine Stütze hergebrachter Ordnung, was unter Umständen auch heisst: Nicht-Gleichordnung. Zur Erinnerung: Die vollen Bürgerrechte für die Frau gibt es bei uns in der Schweiz seit 1971.

Daraus erhellt sofort die soziale und politische Brisanz der Vagheit, denn Identifizierung bedeutet immer auch Machtausübung durch staatliche Behörden oder andere Institutionen. In der Vagheit steckt ein heimliches subversives Potenzial, ein Widerstand gegen das Gleichmacherische, den wir gerade heutzutage angesichts der immer potenteren Identifizierungs- und Überwachungstechnologien bewahren und pflegen sollten. 

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Die meisten von uns verstehen Frau- und Mannsein als Teil unserer Biografie, der Geschichte, wie wir als Kinder sozialisiert, zu Verhaltensweisen erzogen wurden, wie wir unser individuelles Verhältnis zum eigenen Körper erworben haben. Der Zufall und die Umstände spielen in dieser Geschichte immer mit, wie sehr uns das Skript der Chromosomen auch «determinieren» mag. Das ist völlig unkontrovers, normal im traditionellen Sinn. Und so sollte es auch bleiben. Frau bleibt Frau, Mann bleibt Mann. Nur beginnen wir jetzt vermehrt Menschen wahrzunehmen, die mit ihrer Biografie nicht in den traditionellen Raster passen. Gewiss, jede Erweiterung der Normalzone schafft Probleme. Ob man «Frau» durch «Person mit Gebärmutter» ersetzen soll, ist das geringste. Eine  Gesetzgebung diesen neuen Verhältnissen anzupassen dürfte ein härterer Brocken sein. Aber das gehört nun einmal zum Lauf der Dinge. Und mit ihm Schritt zu halten verlangt eine konzeptuelle Lust, neuartige Formen des Miteinander zu denken, die nicht immer gleich in Diskrimination oder in Grabenkämpfen der Identitätskriege enden. Das hält die Gesellschaft offen und lebendig. 

Oder sagen wir es mit dem unvergleichlichen Georg Christoph Lichtenberg, leicht abgewandelt: Man muss zuweilen wieder die Kategorien untersuchen, denn die Welt kann wegrücken und die Kategorien bleiben stehen. Null-eins, links-rechts, gut-böse, Norden-Süden, Weisser-Nichtweisser, pro Israel-pro Palästina, Kolonisierender-Kolonisierter, Progressiver-Reaktionärer etcetera pp. -  Und überhaupt: Wer wirklich denkt, denkt immer schon nichtbinär. 





Donnerstag, 9. Mai 2024



Die mörderische Macht der Illusion

Es gibt zwei Arten von Illusion. Wenn wir die Sonne als riesigen Kreis am Horizont auf- oder untergehen sehen, haben wir eine falsche Vorstellung. Die wahrgenommene Grösse der Sonne ist eine Illusion. Die Illusion im anderen Sinn ist eine Idee, von der wir wünschen, sie sei wahr. Mörderisch wird die Illusion, wenn wir von ihr derart überzeugt sind, dass sie sich nicht als falsch herausstellen kann. Im Gegenteil. Je mehr sie sich als falsch herausstellt, desto gewalttätiger verlangt sie nach Durchsetzung. Ich verfolge hier kurz drei Beispiele solcher Durchsetzung. Wenn ich sie an bekannten Politikern festmache, dann habe ich nicht primär die Personen im Visier, sondern deren Ideengezücht, das eine Tradition der Entmenschlichung bewahrt und weiterführt. 

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Mörderische Illusionen brauchen ein Brutklima des Enttäuschtseins, der Erniedrigung, der Bedrohung. Das führte der britische Psychoanalytiker Roger Money Kyrle bereits in den 1930er Jahren exemplarisch vor. Er besuchte Versammlungen der Nazis und beobachtete die Psychodynamik bei Reden von Hitler und Goebbels. Er stellte dabei einen einfachen Steigerungs-Dreischritt fest: Selbstmitleid-Verfolgungswahn-Grössenwahn. Money Kyrle bezeichnet die Zuhörerschaft als «Monster». Und er beschreibt das Crescendo des manischen Aufputschens: «Während zehn Minuten hörten wir vom Leiden Deutschlands seit dem Krieg. Das Monster schien sich einer Orgie von Selbstmitleid hinzugeben. Dann folgten in den nächsten zehn Minuten die schrecklichsten Explosionen gegen Juden und Sozialdemokraten als den einzigen Urhebern dieses Leids. Selbstmitleid machte Hass Platz; und das Monster schien im Begriff, mörderisch zu werden. Aber der Ton änderte sich noch einmal. Nun hörten wir zehn Minuten lang vom Aufstieg der Nazi-Partei, von kleinen Anfängen zu einer überwältigenden Macht. Das Monster wurde nun, vergiftet vom Glauben in die eigene Allmacht (..),  sich seiner selbst bewusst». 

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Die amerikanische Jornalistin Gwynne Guilford folgte den Fusstapfen von Money Kyrle in Wahlveranstaltungen der amerikanischen Republikaner 2016.  Sie fand den Dreischritt triumphal bestätigt. Trump spielte meisterlich mit den Wünschen seines Gefolges, sich als Teil eines übermächtigen Ganzen: sich «real» zu fühlen. 

Trump begann auf dem Register von Enttäuschung, Verlust, Bedrohung: «Unser Land ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Wir haben keine Siege mehr (..) (Die Chinesen) lachen über uns als Einfaltspinsel. Sie schlagen uns im Geschäft.» Dann suchte er im zweiten Schritt die Schuldigen: «Wenn Mexiko seine Leute schickt, schickt es nicht die Besten (..) Es schickt Leute mit einem Haufen von Problemen, und diese Leute bringen ihre Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger (..) Und all dies kommt nicht nur von Mexiko, son-dern von überall her aus dem Süden (..) und es kommt wahrscheinlich – wahrscheinlich – aus dem Mittleren Osten». Schliesslich öffnete der Überbringer schlechter Nachrichten seinen Wundermittelkoffer: «Nun braucht unser Land (..) einen wirklich grossen Führer (..), einen Führer, der ‘The Art of the Deal’ schrieb, der unsere Jobs zurückbringt, unser Militär (..) Wir brauchen jemanden, der dem Markenzeichen USA wieder zu Grösse verhilft: Make America Great Again (MAGA)». Gehörte der Mob, der 2021 das Kapitol in Washington stürmte, zur Vorhut der MA-GA-Bewegung?

Trump sei nicht Grossmachtswahn à la Hitler unterstellt. Er dürfte – zum Glück - ein zu windiger Politiker sein, um seine «Ideologie» mit aller Gewalt durchzusetzen. Steve Bannon, sein Einflüsterer im Wahlkampf 2016, scheint zumindest in seiner Gedankenwelt unzimperlicher zu sein. Ihm schwebt die gewaltsame Restauration der «westlichen Zivilisation» vor, ein nationalistischer, «aufgeklärter» - sprich unregulierter -  Kapitalismus mit jüdisch-christlichem Wertefundament. Natürlich gilt es zuerst die Schuldigen zu benennen – die «Elite», die «Schickeria, die Investment-banker und die Typen von der EU». Dass der  Konflikt mit diesen Schuldigen kriegsmässige Ausmasse annehmen könnte, stört Bannon nicht. Im Gegenteil. Er, der «Leninist», sieht hier den Weg der revolutionären Gewalt, um endlich der neuen Zivilisation, der «vergessenen» Mittelschicht Amerikas Platz zu machen. 

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Mit ebendieser Gewalt sucht der russische Präsident die westliche Zivilisation zu besiegen. Vor der Attacke Russland auf die Ukraine 2022  hielt Putin eine langatmige Rede an die Nation, wo-runter er insbesondere «unsere Landsleute in der Ukraine» zählte, also den annektierten ukrainischen Südosten plus die Krim.  

Auch hier zunächst die Evokation der Demütigung: «Man stellt sich die Frage: Armut, Perspektivlosigkeit, Verlust des industriellen und technologischen Potentials – ist das etwa diese sogenannte Entscheidung für die westliche Zivilisation, mit der man jetzt schon seit Jahren Millionen Menschen für dumm verkauft und zum Deppen macht, indem man ihnen Milch und Honig verspricht?» Die Urheber sind schnell identifiziert: eine korrupte Schicht von ukrainischen Oligarchen: «Die staatlichen politischen Institutionen wurden permanent neu zugeschnitten, immer so, dass es den entstehenden Clans zum Vorteil gereichte, deren materielle Interessen denen des ukrainischen Volks entgegengesetzt waren». Im Hintergrund wirken natürlich die Unterstützer NATO und USA – die «westliche Zivilisation». Schliesslich der Befreiungsschlag, das Ultimatum: «Von denen, die in Kiew die Macht an sich gerissen haben und sich an sie klammern, fordern wir, dass sie die Kampfhandlungen unverzüglich einstellen. Andernfalls lastet die gesamte Verantwortung für ein mögliches weiteres Blutvergiessen voll und ganz und ohne Einschränkung auf dem Gewissen des auf dem Territorium der Ukraine herrschenden Regimes. Ich bin mir sicher, dass ich mir bei den heute getroffenen Entscheidungen der Unterstützung der Bürger Russlands, aller patriotischen Kräfte des Landes, gewiss sein kann».  Nebenbei bemerkt, das typische Charakteristikum jeden autoritären Regimes: Befreiung von der Verantwortung eigener Taten. 

Russland muss nicht bloss vom ukrainischen Filz gereinigt werden, sondern von allem, was sich nicht in die «patriotische» Illusion integrieren lässt. Russische Propaganda spricht heute von «sanitären Zonen», die man durch Bombardierung ukrainischer Städte wie Charkiw einrichten wolle.  Sanitäre Zonen schützen vor Kontamination, vor Schädlingen, Krankheitskeimen. Bei den Nazis war das Ghetto eine solche Zone. Goebbels notiert 1939 in sein Tagebuch nach einem Besuch des Ghettos von Lodz: «Wir steigen aus und besichtigen alles eingehend. Es ist unbeschreiblich. Das sind keine Menschen mehr, das sind Tiere. Das ist deshalb auch keine humanitäre, sondern eine chirurgische Aufgabe. Man muß hier Schnitte tun, und zwar ganz radikale. Sonst geht Europa einmal an der jüdischen Krankheit zugrunde».

Nun gehört auch eine ukrainische Stadt zur Zone «ärztlichen Eingriffs». Der Fortschritt der Entmenschlichung ist unaufhaltsam. 

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Drittes Reich, MAGA, das historische Russland. Das Leitmotiv all dieser schönen Illusionen – es gibt mehr als diese drei - lautet, wie schon Lenin wusste: Für ein grosses Omelett muss man viele Eier zerschlagen. Der Wunsch, dass die Illusion wahr sei, übertrumpft in der Regel den Realitätssinn. Bannon ist (zur Zeit) weg vom politischen Fenster. Aber sein Gedankengebräu köchelt wohl in vielen Köpfen. Putins Problem dürfte sein, dass er seine megalomane Rechnung ohne eine grosse Zahl von «Bürgern Russlands» macht.  Was verschlägt es? Scheitert die Illusion an der Realität, dann hat die Realität der Illusion angepasst zu werden. Und zwar mit allen Gewaltmitteln. Sie stehen megatonnenweise zur Verfügung. Die Geopolitik macht die Erde zu einem einzigen gigantischen Waffenlager. Zu Diensten von Illusionen.





 


Montag, 6. Mai 2024

 


NZZ, 30.4.24

Wir schrecklichen Verallgemeinerer

«Alle Weissen sind Rassisten». Den Satz schrieb 2017 das Transgender-Model Munroe Bergdorf auf Facebook. Natürlich erhob sich umgehend ein Shitstorm. Man kann den Satz simpel, dumm, falsch, beleidigend, selber rassistisch finden. Das ist breitgetretener Quark. 

Interessanter ist der Satz als Symptom einer Denkdisposition: der falschen Verallgemeinerung. «Alle Weissen sind Rassisten» - wie viele Weisse kennt Munroe Bergdorf? Alle? Oder ist Munroe Bergdorf bisher einfach keinem nichtrassistischen Weissen begegnet? Wir stossen hier auf ein altes und vertracktes erkenntnistheoretisches Problem. Unser Urteil stützt sich ab auf eine endliche Zahl von Erfahrungen. Von welcher Zahl an sind wir berechtigt, «bottom up» zu generalisieren? Wir bilden gewöhnlich ein Urteil, bevor wir die nötige Evidenz dazu haben, mit Kant gesprochen: «Die Notwendigkeit, zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit, zu erkennen».  

Wir generalisierenden Tiere können nicht nicht verallgemeinern. Wir tun das beinahe reflexartig. Und das heisst: Wir denken nicht nach, vor allem, wenn wir über andere urteilen. Munroe Bergdorf könnte sich auf Richard Wagner berufen. Er äusserte sich abfällig über Robert Schumann, und auf den Vorwurf, er kenne doch Schumann gar nicht zur Genüge, entgegnete Wagner mit dem Totschlagargument, wer alles kennen müsse, ehe er schimpfen dürfe, der würde nie zum Schimpfen kommen, und das sei nicht zumutbar. 

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Wagners Replik eignet sich geradezu als das Erkennungszeichen einer gegenwärtig beliebten Kommunikationsform, nämlich den Satz «Alle X sind …» zum Schimpfen, Canceln, Diffamieren verwenden. Eine Gruppe von Menschen in den Sack von «Gleichen» stecken, und wacker drauf-hauen. Dabei geht man in der Regel wie folgt vor: Man wählt ein paar Merkmale a,b,c .. aus, die man bei einer Gruppe X häufig beobachtet, und verallgemeinert dann hypothetisch: Alle X sind a,b,c.. Das erscheint auf den ersten Blick harmlos. Aber man kann der Verallgemeinerung einen tückischen Dreh geben, indem man sie als Wesensmerkmal der Gruppe auffasst. Dann verliert die Charakterisierung ihre Unschuld. Dann heisst es «Alle Weissen sind ihrem Wesen nach Rassisten». Man kann sie nicht ändern. Sie tragen den Rassismus als unauslöschliches Kainsmal auf sich. Unsere Geschichte ist voll von solch unseligen «Verwesentlichungen»: das Wesen des Juden, des Islam, des Zigeuners, der Frau, des Schweizers. Letzteres definierte ein Bundesrat einmal so: genau, pünktlich, solide, kein Blender. Mir persönlich fehlt so betrachtet das wesensmässig Schweizerische.

Es gibt die abgemilderte Version, den strukturellen Rassismus: Wer Teil eines gesellschaftlichen Systems ist, das Ethnien, Gender und was auch für Gruppen diskriminiert, ist selber Rassist, drehe und wende er sich, wie er will. Eine Journalistin schreibt kürzlich: «Ich bin Rassistin, weil es rassistische Strukturen gibt, und ich von denen profitiere». Das tun wir Weissen wahrscheinlich ausnahmslos, und so gesehen sind wir alle Rassisten. Irgendwie. Aber wie genau? Die Verallgemeinerung bedarf unbedingt einer Differenzierung, sonst verkommt sie zum Affichen-Moralismus, der gegenwärtig ohnehin grassiert. 

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Vom Schweizer Historiker Jacob Burckhardt stammt bekanntlich der Begriff «terrible simplificateur»:  schrecklicher Vereinfacher. Zu dieser Kategorie gehört erst recht der schreckliche Verallgemeinerer. Er hält seinen Denkhorizont – oft beschränkt genug – für die Welt, und was nicht in diesen Horizont passt, existiert nicht. Er will nicht falsifiziert werden, aus Mutwillen, Ignoranz oder Dummheit. Sein Blick ist getrübt vom intellektuellen grauen Star. Er sieht nur «den» alten weissen Mann, «den» Linken, «den» Klimaleugner, «den» Juden, nicht einzelne Personen. Dabei unterläuft ihm gar nicht so selten der Lapsus, dass er wider besseres Wissen allgemein urteilt. Niemand ist davor gefeit. Auch ein Autor wie Theodor Fontane nicht. Er sprach von den Juden als von einem «Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaftes Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen» könne. Im gleichen Zug fügte er an: «All das sage ich (muss es sagen), der ich persönlich von den Juden bis diesen Tag nur Gutes erfahren habe».  

Jeder Mensch hat das Recht, ein Einzelfall zu sein. Und dieser Einzelfall verlangt den Effort zur Demontage von Verallgemeinerungen. Das Abstraktionsvermögen ist eine eminente intellektuelle Gabe und zugleich voller Hinterlist. Soll der Gebrauch des Satzes «Alle X sind ..» nicht zum argumentativen Kampfmodus degenerieren, verlangt er nach geistiger Reife und Redlichkeit. Ihr Erkennungsmerkmal: den Antagonismus zwischen zwei Denkvermögen aushalten, zwischen Verallgemeinerung und Unterscheidung. Nicht unterscheiden wollen ist eine subtile Form von Gewaltausübung. Wir erliegen ihr immer wieder. 





Donnerstag, 25. April 2024

 


Der «Verzehr» des Partners

Kant und der aufgeklärte Geschlechtsverkehr

Kant zeigte philosophisches Interesse nicht nur an Vernunft und Urteilskraft, sondern auch am Fleisch. Zumal an den libidinösen Regungen des Menschen. Und er lieferte eine Definition des Sexualverkehrs, die schon fast ans Obszöne grenzt: «Verzehr» des Partners. Natürlich redete Kant nicht irgendwelchen perversen sexuellen Praktiken das Wort. Es gibt «zweyerley Genuss eines Menschen von dem anderen (des fleisches): der cannibalische oder der wollüstige Genuss. Der letztere lässt die Persohn übrig.»

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Kant wollte den Menschen aus dem «Reich der Notwendigkeit» – der Natur – ins «Reich der Freiheit» – der aufgeklärten Gesellschaft mit ihren Rechten – führen. Diesem Ziel muss auch der Geschlechtstrieb unterworfen werden. Von Natur aus sind die menschlichen Geschlechtsteile eigentlich «Zeug» zum Fremdgebrauch. Aber habe ich ein  Recht auf den Gebrauch deines Körpers? Das ist die typische Frage Kants – die Legitimitätsfrage «quid juris». 

Und sie enthüllt ein moralisches Dilemma. Ich gebrauche den Körper des Partners ja als Ge-nussmittel. Für Kant die schwerste Verletzung der Menschenwürde - eine «läsio enormis». Die menschliche Person ist unantastbar. Sie darf nie zur Sache, zum Mittel gemacht werden. Aber genau das geschieht im Geschlechtsakt. Der Geschlechtstrieb ist eine sinnliche Neigung, in der ein «Principium der Erniedrigung der Menschheit» liegt. Diese Neigung richtet sich auf eine ande-re Person, aber nicht auf ihr Personsein, sondern auf ihren Körper als Genussmittel. 

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Wie kann man sich dann befriedigen, ohne den Partner in seiner Würde zu verletzen? Kant wäre nicht Kant, rückte er dem Problem nicht mit der nötigen analytischen Schärfe zu Leibe. Und zwar erkennt er eine Ausnahme vom ethischen Gebot, dass man einen Menschen nie zum Mittel machen dürfe. Die Bedingung dafür ist, «dass, indem die eine Person von der anderen, gleich als Sache, erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe, denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her».

Eine einigermassen gewundene Lösung des Problems. Einfacher und anziehender lautet sie: Man gibt sich weg und erhält sich zurück. Aber diesen gegenseitigen Erwerb garantiert nur der Ehevertrag. Kant definiert die Ehe als Geschlechtsgemeinschaft - «commercium sexuale»: «Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen, wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften». In der Ehe gehört «jeder theil mit seinen Geschlechtseigenschaften zur proprietät des andern (...) und umgekehrt, also zur proprietät der Gemeinschaft». Interessant dabei ist, dass das Ziel dieser Gemeinschaft nicht primär das Zeugen, sondern eben die Sexualität ist. Wir haben, so Kant, «keinen instinct (...), der unmittelbar auf die propagation gehet, aber wohl einen, der unmittelbar aufs Geschlecht gehet». 

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Die Würde der Person wird also im ehelichen Geschlechtsakt nicht verletzt, weil hier sozusagen zwei Menschen zu einer Person verschmelzen. Man sagt ja «Ich bin dein und du bist mein». Ich habe das Recht an dir als Genussmittel, weil du das Recht an mir als Genussmittel hast. Kant drückt das so aus: Aus «Zweyen ist eine moralische Person» geworden. Und hier zeigt sich das Neuartige an seiner Auffassung. Sie emanzipiert den Geschlechtsakt von der natürlichen «Aufgabe» der Fortpflanzung, rückt ihn eben ins Reich der Freiheit, des Menschenrechtlichen. Kant be-trachtet Kopulieren nicht nur als Reproduktionsmittel, sondern als Genussmittel. Deshalb sieht er darin auch eine Spielart des Kannibalismus, einen «Verzehr», der sich noch heute im Ausdruck «zum Fressen gern» zu erkennen gibt. Im Küssen verbirgt sich ein solcher versteckter Kanniba-lismus…

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Kants Auffassung – und das ist doch überraschend - emanzipiert auch die Homosexualität. Oder sagen wir es so: Wenn er den Geschlechtsverkehr von der natürlichen Reproduktion abkoppelt, dann führt ihn das auch dazu, das gleichgeschlechtliche «commercium» in Betracht zu ziehen. Zwar ist für Kant Homosexualität «contra naturam: «Die Homosexualität läuft wider die Zwekke der Menschheit, denn der Zwek der Menschheit in Ansehung der Neigung ist die Erhaltung der Art ohne Wegwerfung seiner Person (..) hierdurch versetze ich mich unter das Thier und entehre die Menschheit». 

Der Homosexuelle «entehrt» Mensch und Tier. Das klingt grausam. Aber seine eigene Logik stellt Kant ein Bein. Emanzipierte Sexualität beruft sich gerade nicht auf «die Erhaltung der Art», sondern auf gegenseitigen Genuss unter Wahrung der Personenwürde. Warum sollte das nicht auch für Homosexuelle gelten? Sind sie etwa keine Personen? Können sie nicht auch zu einer einzigen «moralischen Person» werden?  Und warum sollte dann aus menschenrechtlicher Perspektive nicht auch der Ehevertrag zwischen Gleichgeschlechtlichen sie vor dem «crimen carnis» - dem fleischlichen Verbrechen - schützen, wie Kant dies nennt? Zudem kann man Homosexualität nicht als naturwidrig disqualifizieren. Sie kommt in der Natur vor, häufiger als man gemeinhin denkt, auch wenn das Kant vielleicht nicht gewusst haben dürfte. 

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Nichts liegt mir ferner, als Kant apologetisch zum Vorläufer der heutigen Genderbewegung hochzustilisieren. Er blieb der damaligen bürgerlichen häuslichen Ordnung verpflichtet, war mariniert in den Voreingenommenheiten seiner Zeit. Nun ist es nachgerade zur billigen Mode geworden, der Aufklärung «Rassismus», «Sexismus», «Machismus», «Kolonialismus», «Ratiozentrismus» vorzuhalten. Indes bleibt Kants Idee äusserst akut und brisant: Das Verfügungsrecht über den personalen Körper – dieses säkulare «Heiligtum» - ist ein Menschenrecht. 

Brisant ist die Idee zumal, weil offenbar die katholische Kirche sich schwer tut mit ihr. Das dokumentiert jüngst die päpstliche Erklärung «Dignitas infinita».  Das Verfügungsrecht über den Körper ist ein Dorn im päpstlichen Auge: «Über sich selbst verfügen zu wollen, wie es die Gen-der-Theorie vorschreibt, bedeutet (..) der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen und in Konkurrenz zu dem wahren Gott der Liebe zu treten, den uns das Evangelium offenbart». Würdig ist der Körper nur als Exekutivorgan der evangelischen Gesetzgebung. Also ein Mittel zum Zweck, nämlich dem Zeugen von möglichst vielen Katholiken. Ist das nicht ein Verstoss gegen Kants Gebot der Instrumentalisierung?

Kant weist dem aufgeklärtem Gebrauch der Wollust eine emanzipatorische Rolle zu. Der wollüstige Genuss «lässt die Person übrig». Er stärkt sie. Und vielleicht ist es gerade das, was die Kirche so fürchtet: dass die Wollust unter der Soutane tut, was sie – und nicht Gott - will. 





Samstag, 20. April 2024



NZZ, 9.4.24

Sokrates und der ChatGPT

Schreiben in der postliterarischen Welt


Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, erhob sich ein Lamento über den Niedergang der Kultur infolge der «Technisierung des Wortes». Platon hielt bekanntlich nicht viel vom geschriebenen Wort. Die Schrift spricht nicht zurück. Nur der Dialog bringe uns der Wahrheit näher.  

Was würde Platon über die neue Technologie der Textgeneratoren sagen? An einer Stelle im Dialog «Phaidros» gibt der platonische Sokrates Auskunft. Die Schrift verleihe «den Schülern (..) nur den Schein der Weisheit, nicht die Wahrheit selbst. Sie bekommen (..) vieles zu hören ohne eigentliche Belehrung und meinen nun, vielwissend geworden zu sein, während sie doch meist unwissend sind und zudem schwierig zu behandeln, weil sie sich für weise halten, statt weise zu sein (..) Im Vertrauen auf die Schrift suchen (die Schüler) sich durch fremde Zeichen ausserhalb, und nicht durch eigene Kraft in ihrem Innern zu erinnern». 

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Man ersetze die Schrift durch den ChatGPT, und Sokrates’ Kritik ist à jour. Es geht dabei nicht um die Technik, sondern um das Verhältnis von Technik und Mensch. Technik ist, um hier eine gängige Formel zu gebrauchen, das Delegieren menschlicher Vermögen an Geräte. Wir delegieren das Erinnern an das «Gerät» Schrift, so Platon, deshalb verkümmert dieses Vermögen und führt zur Dekadenz der mündlichen Kultur - letztlich des Denkens. 

Nun bekommen wir vom ChatGPT in der Tat «vieles zu hören, ohne eigentliche Belehrung». Sein Können, sagen wir, liege schlicht darin, aus einer Bitfolge mittels eines Transformer-Algorithmus eine neue Bitfolge zu generieren. Na und? Nenne man dies nun «schreiben» oder auch nicht. Wenn sich der maschinengenerierte Text oft nicht mehr vom menschengenerierten unterscheiden lässt, kann man getrost  auf den Unterschied zwischen der Simulation von Schreiben und Schreiben verzichten. 

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Diese steile These zielt direkt auf das Herzstück unserer Kultur, die Bildung. Und Bildung heisst heute primär: Kompetenzen lernen. Das tun auch Maschinen. Sie lernen, Schreiben zu simulieren. Warum sollte da der Schüler hintanstehen? Wem bescheinigen wir jetzt Autorschaft? Dem Hybrid Schüler-Maschine? Eine postliterarische Welt zeichnet sich ab, in der die Schriftkundigkeit als altehrwürdige Kulturtechnik an Bedeutung zu verlieren scheint. Blüht dem Schüler der «Tod des Autors», um die Situation mit Roland Barthes’ berühmtem Diktum zu dramatisieren? 

Hier meldet sich Platons These, dass der Dialog die höchste Ausdrucksform menschlicher Argumentation sei, überraschend zurück. Wenn man Texte ohne Anstrengung generieren kann, liegt die eigentliche Leistung nicht im Schreiben, sondern im Lesen. Warum dann zum Beispiel nicht den Schüler «seinen» Text selber lesen, interpretieren und Schlussfolgerungen daraus ziehen lassen? Denkbar wäre auch, dass der Schüler mit «seinem» Text nichts Endgültiges, sondern Ausgangsmaterial abliefert, anhand dessen er nun seine Kompetenzen «coram publico» vorzuführen hat, im Diskurs, buchstäblich: im hin und her gehenden Gespräch mit der Lehrperson und den Mitschülern. 

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Die Ironie springt jedenfalls ins Auge: Kultur entwickelt sich von der Oralität über die Literalität zur Digitalität – und wieder zurück zur Oralität. Das ist kein Rückschritt, sondern Dialektik der Technik. Wir haben im Zuge des Fortschritts so viel Können an die Maschinen delegiert, dass sich jetzt die Frage stellt: Was wollen wir Menschen denn eigentlich noch können? 

Als Erstes muss man den gebannten Blick vom ChatGPT lösen und das ausschliesslich technische Verhältnis zum Text hinterfragen, das er definiert. Was lernen wir eigentlich mit dem Schreiben? Nur Texte generieren? Nicht etwa auch, den Blick für all die Nuancen in der Welt schärfen? Zu erfahren, wie Begriffe und Ideen entstehen? Diskursiv das Wahre vom Falschen trennen? Die Perspektive anderer Menschen kennen lernen? Und: Ist beim Schreiben der Weg nicht oft wichtiger als das Ziel? 

Solche Fragen verleihen einem zentralen Begriff Platons Aktualität: Wiedererinnerung. Seiner metaphysischen Bedeutung entkleidet  lässt er sich so interpretieren: Die Maschine «erinnert» den Menschen daran, was er eigentlich kann. Sie hebt die traditionellen Kulturtechniken aus der unreflektierten Selbstverständlichkeit. Platon nennt das «Mäeutik»: Hebammenkunst. Sie wiese heute der Schule eine «geburtshelferische» Aufgabe zu. Diese bestünde nicht zuletzt im Wiederaufwärmen eher verpönter mündlicher Techniken wie etwa Rezitieren oder Diktat. Das hat nichts mit altem Schuldrill zu tun, sondern mit der Schärfung des Unterscheidungsvermögens zwischen dem, was der Schüler selber können, und was er an die Maschine delegieren will. Gerade das Delegieren ist ja die ständige Verführung, «sich für weise (zu) halten, statt weise zu sein». 

Sokrates wendet sich nicht radikal gegen die Schrift. Sie ist dann nützlich, sagt er, wenn sie «in der Seele des Lernenden» weiter geschrieben wird. Eine altmodische Definition echter Bildung. Versteht man sie noch?



Dienstag, 9. April 2024



Das Monster in uns
Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich


Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – das Monster von Gaza». Solche Dämonisierung – oder genauer «Monsterisierung» -  ist gang und gäbe. Ein Buch über den Massenmörder Anders Breivik trägt den Titel «The Utoya Monster», ein Film über den Inzesttäter Josef Fritzl «Geschichte eines Monsters». Regelmässig bezeichnet man Untaten, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, als «monströs». Den Titel «Monster» reservieren wir – oft auf  heimlichem hohem Erregtheitsniveau - für Menschen, deren Handeln, Beweggründe, deren ganzes psychisches und intellektuelles Universum sich unserem Verständnis entzieht. Deshalb ist der Begriff auch eine Warnung; «monstrare» bedeutet zeigen und warnen. 

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Wovor eigentlich? Sicher vor physischer Bedrohung. Monster wollen Böses, sie wollen uns töten, von uns Besitz ergreifen, uns vergewaltigen, unser Blut saugen. Grund genug, sich vor ihnen zu fürchten. Aber physische Gefahr allein genügt nicht, um sie von anderen Bedrohungen zu unterscheiden. Ein Krokodil kann durchaus eine physische Gefahr darstellen, ist aber kein Monster. Und warum nicht? Weil man es einer eindeutigen Kategorie zuschlagen kann. Das Krokodil ist ein Tier. 

Zum Monstersein braucht es eine andere, nichtphysische Gefahr. Man könnte sie die Gefahr der Uneindeutigkeit nennen. Monster passen in kein Kategoriensystem, sei dies natürlich oder kulturell. Sie sind ein Affront gegen die Natur, die Sitte, das Recht. Wir wissen kognitiv nicht, was wir mit diesem uneindeutigen Ding anfangen sollen. Wenn es keine reelle Gefahr anzeigt, so doch eine virtuelle. Gerade diese Virtualität – das Gerücht, der Verdacht - macht jemanden zum Monster. Als Zwitterkategorie eignet es sich gut zur Dämonisierung des Anderen. Der Andere gehört nicht zu «uns» und gehört doch zu «uns». Eine solche  widersprüchliche und «gefährliche Nähe» macht ihn unheimlich, weil die binäre Logik ihn nicht fasst. Das erinnert natürlich an den altbekannten psychoanalytischen Topos: die Nähe des Unheimlichen zum Heimischen, des Ungeheuren zum Geheuren. Wohl deshalb auch das verbreitete Unbehagen gegenüber den Non-Binären.

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Im Monster kommt die wohl ungeheuerlichste Paradoxie des Menschen zum Vorschein: eine Person unmenschlich traktieren, weil sie menschlich ist. Gewöhnlich nehmen wir Artgenossen spontan als Mitmenschen wahr. Aber immer wieder mischt sich in diese Wahrnehmung die Ideologie des «Untermenschentums» ein, die uns suggeriert, gewisse Mitglieder unserer Spezies seien nicht «eigentlich» menschlich. Wir kennen die Ideologie sattsam aus den Traktaten der Nazis oder der weissen Suprematisten. Jüngst auch aus dem Mund des stellvertretenden Bürgermeisters von Jerusalem, Arieh King. Er erklärte angesichts von fast nackten Palästinensern, die in einer Sandgrube festgesetzt worden waren: Könnte er  entscheiden hätte er die Gefangenen mit Bulldozern lebendig begraben; sie seien keine Menschen oder menschliche Tiere, sondern Untermenschen.  

Wie stark und nachhaltig freilich diese toxische Indoktrination auch wirken mag, sie verdrängt den mitmenschlichen Urblick nie völlig. Oder eher, sie spaltet ihn auf in zwei Teilblicke, die sich unter Umständen nicht mehr vertragen. Diese seltsame «gespaltene» Denkart ist in uns allen angelegt. Und sie wird in dem Moment zur Monstrosität, in dem die Ideologie unsere Wahrnehmung derart in Beschlag nimmt, dass wir andere Menschen gegen die Evidenz unserer Sinne und gegen die innere Stimme unserer Empathie nicht mehr als «unseresgleichen» qualifizieren. Dann geschieht etwas, das im Tierreich eine Ausnahme ist: die Gewalthemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Spezies verschwindet total. Die Hamas-Terroristen sahen in ihren Opfern zweifellos Menschen, und gerade weil diese Opfer Menschen waren, wurden sie unmenschlich behandelt. 

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Wir sind offenbar anfällig für diese eigentümliche «normale» Geistesgestörtheit. Es bedarf dazu gar nicht erst der Ideologie. Auch tradierte Vorurteile, Ängste, tiefverwurzelter ethnischer Hass können den Widerspruch am Köcheln halten. 1993 wütete der Mob im rumänischen Dorf Hadareni progromartig gegen Roma. Zahlreiche Häuser wurden niedergebrannt, drei Roma getötet. Eine Dorfbewohnerin äusserte sich dazu wie folgt: «Wir sind stolz auf unsere Taten. Eigentlich wäre es sogar besser gewesen, wenn wir mehr Leute verbrannt hätten und nicht nur deren Häuser. Wir verübten keinen Mord – wie kann man das Töten von Zigeunern Mord nennen? Zigeuner sind nicht wirkliche Menschen, weisst du. Sie töten einander. Sie sind Kriminelle, untermenschlich, Ungeziefer».   

Das Vokabular des letzten Satzes enthüllt den ganzen monströsen Widerspruch: Roma sind Kriminelle, also Menschen, und gleichzeitig Ungeziefer, also nicht Menschen – eigentlich sind sie weder noch, nämlich untermenschlich. Die Frau lebt mit diesem Widerspruch in Seelenruhe. Sie demonstriert die «einleuchtende» Logik der Unmenschlichkeit, vom Dorfprogrom in Rumänien bis zum Genozid in Ruanda. Der Sadismus, andere Menschen als Ungeziefer zu behandeln, liegt exakt darin, dass sie kein Ungeziefer sind. 

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Entmenschlichung beginnt im Kopf. Im Denken und Reden über andere, nicht im Behandeln anderer, obwohl beides untrennbar zusammenhängt. Es gibt zahlreiche soziale Praktiken, die vom «gespaltenen» entmenschlichenden Geisteszustand gestützt werden. Einige, wie das Lynchen in der «Jim Crow»-Ära der USA, gründen in alten Traditionen, andere, wie die industrielle Vernichtung «unwerten» Lebens  in Nazi-Deutschland, sind «fortgeschrittenere» Formen der Entmenschlichung. 

So oder so, der Hang zur Unmenschlichkeit ist menschlich. Wir sollten also Humanität auch vom entgegengesetzten Pol des Spektrums - der Monstrosität - her denken. Adorno nannte diesen Pol «Auschwitz» und schrieb: «Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung». Aber zu dieser Erziehung gehört notwendig das Memento, dass Auschwitz immer möglich sei. Indem wir das Monster in den Horizont des Menschenmöglichen einbeziehen, können wir es konfrontieren – mit uns selbst. 











Mittwoch, 27. März 2024

 



Terrorismus als Spektakel

Der Spektakel-Terrorist will als jemand gelten. Terrorismus ist – auf seine infame Art - immer auch ein Streben nach Bedeutsamkeit – Bedeutsamkeit durch Gewalt, Massaker, Greueltat. Deshalb eignet ihm etwas Theatralisches. Er setzt Unmenschlichkeit als Spektakel ein, und rechnet mit dem Entsetzen eines nach News gierenden Weltpublikums. 

Terroristen sehen sich häufig als Akteure, die einem Drehbuch folgen – eines von Gott oder von der Geschichte oder von irgendwelchem metaphysischen Gespenst geschriebenen. Dieses Drehbuch weist ihnen die Rolle in einem Drama zu, das oft die Menschenverbesserung zum Ziel hat. Fies daran ist, dass Terroristen andere nö-tigen, gemäss diesem Drehbuch mitzuspielen. In ihren «Spektakeln» ertönt allerdings nicht Theaterdonner und fliesst nicht Theaterblut, sondern rattern reale Kalaschni-kows und verlieren reale Menschen reales Blut. Gerade dadurch können Terroristen der nachwirkenden öffentlichen «Rezeption» sicher sein. Der Einsturz der Twin To-wers war theatertauglicher – symbolischer - als der Angriff auf das Pentagon. Man traf quasi die architektonische Erektion des Kapitalismus.

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Die Verurteilung von terroristischen Exekutionen, Entführungen, Enthauptungen Unschuldiger fällt leicht. Vor allem unter Politikern, die notgedrungen das Spektakel der Terroristen mitspielen müssen und entsprechend theatralisch auftreten. 2015, nach dem Blutbad im Pariser Klub «Bataclan», reisten viele Spitzenpolitiker Europas nach Paris zur Demonstration gegen den Terror. Im gleichen Jahr massakrierten Mitglieder von Boko Haram in Baga, Nigeria, Hunderte von Menschen. Warum demonstrierten die Politiker nicht auch gegen diesen Terror? Weil ihnen das Spektakel in Paris den Platz an der politischen Sonne optimal sicherte. Genau das will auch der Terrorist. Mit welchem ideologischen Brimborium er sich rechtfertigt – Kalifat, globale Umma, Krieg gegen die Ungläubigen - , er spielt mit im Kampf um Aufmerksamkeit, um Prime Time, Einschaltquote, Schlagzeilenplatz. 

Viele - fast ausschliesslich – junge islamistische Gewalttäter, die oft ohne Aussicht auf eine «zivile» Zukunft leben, sehen im Terror den Köder für die mediale Auf-merksamkeit. Der Terror wir erst «real», wenn ihn die Bilder zeigen. Die wichtigste Waffe des Spektakel-Terroristen ist neben der Kalaschnikow die Handykamera. Hier offenbart sich Nihilismus, der sich als Märtyrertum aufplustert. Und durch seine virale Verbreitung weltbühnentauglich wird. Auf abartige Weise zum Thrill. Er unterstützt die überall verbreitete Wollust, zu schauen und beschaut zu werden. 

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Man erinnert sich unweigerlich an die «Gesellschaft des Spektakels» des französi-schen Schriftstellers, Filmers und «Situationisten» Guy Debord. Nach ihm sollte die künstlerische Avantgarde die Konsumgesellschaft mit «Terror» überziehen, das heisst, nicht Kunstwerke, sondern neue spektakuläre Situationen des Lebens schaf-fen: Verwirrung stiftende Aktionen gegen die bourgeoise Kultur, wie sie sich in Paris 1968 ereigneten; keineswegs nur harmlose, sondern an der Grenze zum wirklichen Terrorismus  - wie etwa der Versuch, den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. Aller-dings wurde dem Säufer und Wüterich Debord bald etwas mulmig zumute.  In den 1970er Jahren warnte er vor dem «Spektakel des Terrors». Als hätte er geahnt, dass sich fünzig Jahre später die Islamisten zu seinen gelehrigsten Schülern entwickeln würden. Sie sind auch «Situationisten». Aber sie verstehen keinen Spass. Bei ihnen kippt das Spektakel in blutigen Ernst.

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Der Spektakel-Terrorist braucht die Aleatorik des Schreckens – er schlägt mal hier, mal dort zu. Je weniger politische Gewalt in einer Gesellschaft herrscht, desto grösser die traumatisierende Wirkung einer punktuellen Gewalttat, die nicht vorauszusehen ist. Jede solche Tat verhöhnt den Staat: Schau, du bist nicht im Stande, deine Bürger zu schützen! Traditionellerweise begründet sich der Terrorismus als Widerstand ge-gen Gewaltverhältnisse. Nicht so der Spektakel-Terrorist. Er kämpft ja nicht gegen Widerstände, sondern nutzt schamlos die Verletzlichkeit anderer Menschen als Festivalbühne seiner blutigen Punk-Show aus. 

And the show must go on. Die bisher letzte Folge in dieser Staffel terroristischen Spektakels stammt nun ausgerechnet nicht aus einer liberalen Gesellschaft, sondern aus Russland, wo am 22. März vier Terroristen ein Blutbad in einer Moskauer Kon-zerthalle anrichteten. Der Inlandgeheimdienst demonstrierte, wie er mit – nota bene nicht verurteilten - Attentätern verfährt: Folter, Misshandlung, totale Erniedrigung - Entmenschlichung. Als hätte der russische Staat nur auf einen terroristischen An-schlag gewartet, um nun seine eigene Terrormaschinerie in Gang zu setzen. Die alte Tradition der kommunistischen Schauprozesse. Sie kann mit der Schaulustigkeit der Welt rechnen. Terrorist und Häscher spielen das gleiche Spiel. Sie haben grösstes Interesse daran, dass der Geist des Spektakels in unseren Schädeln Platz greift. Und in diesem Geist schauen wir auf all die Bilder des Greuels, sagen «Wie furchtbar!» und können nichts tun. Susan Sontag hat dies mit brutaler Offenheit ausgedrückt: «Für viele Menschen in den meisten modernen Kulturen sind Chaos und Blutvergiessen heute eher unterhaltsam als schockierend». Und so verfestigen wir die Conditio inhumana, das Leben im Zeichen von Terror und Horror, schwankend zwischen Zynismus und Apathie. 






















  Jenseits der Genderfronten Nichtbinarität weiter denken    Sexualität erweist sich von Natur aus als kompliziert. Medizin und Biologie ken...