Dienstag, 27. April 2021





NZZ, 23.4.2021

Riesen zur Schnecke machen

Cancel Culture in Wissenschaft und Philosophie

Es gibt eine Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, die auf Heroismus baut. Sie kuratiert ihre Helden und Legenden. Und sie hat eine Lieblingsmetapher: Wir stehen alle auf den Schultern von Riesen. Die klassische Physik steht auf den Schultern von Newton, die moderne Biologie auf den Schultern von Darwin, die aufgeklärte Philosophie auf den Schultern von Kant, und so weiter. Jede Disziplin wartet mit solchen Riesen auf. Nur weil wir deren Geisteshöhe erreicht haben, so suggeriert das Bild, können wir jetzt weiter blicken.


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Das Bild hat eine fiese Rückseite. Sie zeigt sich aktuell in der Praxis namens «Cancel Culture». An einer amerikanischen Privatschule spricht man im Physikunterricht nicht mehr von Newtons Ge-setzen, sondern von den fundamentalen Gesetzen der Physik. Grund: Newton war ein weisser Mann. Und die Schule sähe es als geboten an, sagte ein Schüler, das weisse Weltbild zu dezentrieren.  


Nicht nur das: Es scheint in Schwang gekommen zu sein, die Riesen als Dreckskerle zu entlarven. Nicht Newton, aber andere. Jüngst hat es den französischen Philosophenkönig Michel Foucault erwischt. Ein Artikel der britischen Times stellt ihn hin als Pädophilen, der es mit minderjährigen tunesischen Knaben auf dem Friedhof von Sidi Bou Said trieb. Ein anderes rezentes Beispiel ist Ronald Fisher, ein Pionier der modernen Statistik und Evolutionstheorie. Nach ihm ist der Fisher-Preis benannt, eine der höchsten Ehren der Disziplin. Seit 2020 trägt der Preis nicht mehr Fishers Namen. Der Wissenschafter wurde eugenischen und rassistischen Gedankenguts «überführt». Kant und Voltaire, die Riesen der Aufklärung, erfahren heute ein Bashing aufgrund ihrer rassistischen Äusserungen. Francis Bacon, einer der ersten modernen Naturphilosophen, sprach von der «männlichen Geburt der Zeit» und er forderte die Forscher zur Bandenvergewaltigung der Natur auf. Man müsste ihn also schleunigst als Chauvi aus der Geschichte tilgen. So gesehen kann man den Radiergummi gleich bei Aristoteles ansetzen. Er war xenophop, sexistisch, ein Verfechter der Sklaverei. Und mit dem purifizierten Blick liesse sich die gesamte europäische Geistesgeschichte auf Moralschurken durchstöbern. So dass wahrscheinlich am Ende nur noch ein paar integre Geisteskümmerlinge übrig blieben.


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Brillante Denker können moralisch anrüchig, geradezu Ekel, sein, und ihre Brillanz dient ihnen nicht selten als Lizenz ihrer moralischen Verderbtheit. Aber müssen wir deswegen jetzt zu einer radikalen postumen Geschichtssäuberung antreten? Soll ich jetzt «Sein und Zeit» wegwerfen, weil der Autor ein Nazisympathisant war? Soll ich Marx nicht mehr lesen, weil ihn auch Stalin, Mao oder Pol Pot lasen? Soll ich den Fisher-Test in der Statistik nicht mehr durchführen, weil Ronald Fischer ein unbelehrbarer «Volksveredler»  war? Sollte man den Satz des Pythagoras vom Lehr-plan streichen, wenn sich herausstellte, dass der griechische Mathematiker sich an seinen Jüngern reihenweise sexuell verging?


Man mag solche Fragen albern finden, aber sie sind Ausdruck des sogenannten genetischen Fehlschlusses. Man beschäftigt sich nicht mit der Geltung einer Aussage, sondern mit deren Urheber. Etwas läuft schief. Denken ist eine soziale Tätigkeit. Ein untrügliches Indiz des Denkens ist des-halb die Beobachtung, dass andere auch denken. Eine häufig angewandte und perfide, weil nicht auf ersten Blick erkennbare Form der Diskreditierung besteht darin, dass man im Denken des Anderen nur den Anderen und nicht sein Denken wahrnimmt und anspricht. Im Englischen spricht man von „Bulverismus“. Der Begriff stammt vom Schriftsteller Clive S. Lewis, genauer von dessen fiktiver Figur Ezekiel Bulver, der als Knabe hörte, wie seine Mutter die Beweisführung seines Vaters, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei grösser als die dritte Seite, mit den Worten abschmetterte: Du sagst das nur, weil du ein Mann bist. In zeitgemässer «identitäts-politischer» Formulierung hiesse das: Weil du männlich, weiss und alt bist. Man geht vom Axiom aus, dass der Andere falsch liegt, und erklärt, warum er falsch liegt. Auf die Cancel Culture bezogen: Man geht davon aus, dass der Andere ein Dreckskerl ist, und zeigt, wie seine Arbeiten von seinem Charakter besudelt sind.  Der Philosoph Leo Strauss prägte den Begriff «Reductio ad Hitlerum»: Man bringe eine Aussage auf irgendeine Weise in Verbindung mit Äusserungen des Führers und seiner Entourage, und schon ist sie als «faschistisch», «nazistisch» oder «antisemitisch»  diffamiert – also auslöschen. 


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So wie die Aufklärer einst für die Trennung von Staat und Kirche eintraten, so müsste sich heute eine neue Aufklärung für die Trennung von Erkenntnis und Moral stark machen. Aus der Vermischung beider entsteht ein giftiges Motivationsgebräu, das leicht in Hauen und Stechen endet. Das bedeutet nicht, dass Erkenntnis nichts mit Moral zu tun hätte, es bedeutet, epistemisches und moralisches Urteil klar zu unterscheiden. Geistesgrösse bürgt nicht notwendig für moralische Grösse, und umgekehrt. 


Ich kann also den Fisher-Test umbenennen, weil er mit dem Namen eines Rassisten kontaminiert ist, aber damit entbinde ich mich bloss von der Denkarbeit, die Fehlerhaftigkeit der rassistischen Argumentation nachzuweisen. Man kann jetzt Foucault als Dreckskerl schmähen, wichtiger wäre freilich das «Schmähen» seiner Theorie der Sexualität, die den Verkehr von Erwachsenen und Minderjährigen legitimieren soll. Foucaults Behauptung etwa, ein Kind sei sexuell souverän -  fähig, zu erklären, was mit ihm geschah und fähig, seine Zustimmung zu geben -, gehört in die Demontage. Und wichtiger in diesem Zusammenhang wäre ohnehin eine Kritik der nicht nur in Frankreich endemischen Kastenarroganz von Intellektuellen, die sich jenseits von Gut und Böse wähnen. Man muss ihnen nicht den moralischen, sondern den denkerischen Prozess machen.


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Cancel Culture entpuppt sich  – wie gesagt -  als Symptom einer intellektuellen Misere, nämlich sich nicht genauer mit dem  Gedankengut hinter einem «inkriminierten» Namen zu beschäftigen. Man könnte vom Prinzip der übelwollenden Interpretation sprechen. Es versprüht das Miasma des Misstrauens, Unterstellens, Denunzierens. Eigentlich handelt es sich um magisches Denken: Indem man den Namen auslöscht, wiegt man sich im falschen Bewusstsein, das Gedankengut hinter dem Namen auch beseitigt zu haben. Cancel Culture ist eine Form von Denkflucht.


Wie der Erfinder der Bulverismus schrieb: «Solange der Bulverismus nicht zerschlagen ist, kann die Vernunft keine wirksame Rolle in menschlichen Angelegenheiten spielen. Jede Seite schnappt sie sich als Waffe gegen die andere, aber zwischen den Fronten gerät die Vernunft in Verruf.» Damit landen wir auf Feld eins der Aufklärung. Denn ihr ging es genau um eine nicht parteilich vereinnahmte Vernunft, die als universeller «Gerichtshof» zwischen gegnerischen Positionen vermitteln könnte. Cancel Culture diffamiert aufklärerische Ideale: sie zersetzt den argumentativen Streit im Schlichten von Meinungsdifferenz, wertet  das Streben nach objektivem Wissen ab, verhindert eine „Dreifach-F-Diskussion“: frank, frei, furchtlos. 


Kant ahnte, dass ein „Gerichtshof der Vernunft“ ein unerreichbares Ideal darstellt. Zumindest in  heutigen heterogenen Gesellschaften ist das der Fall. Und so gesehen, stehen wir vor einem post-kantischen Dilemma: Verstockte kulturelle Heterogenität verträgt sich nicht mit einer universellen Rationalität. Uns bleibt fallweise zu verhindern, dass diese Unverträglichkeit gewaltförmige Züge annimmt. Denn andernfalls ist die Vernunft – so Kant – «gleichsam im Stande der Natur, und (sie) kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen als durch Krieg.“ Er-setzen wir «im Stande der Natur» durch «im Stande der Identitätspolitik», dann charakterisieren wir aufs trefflichste den eklatanten geistigen Rückschritt, den die Cancel Culture mit sich bringt.






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