Montag, 7. Juni 2021

 




NZZ, 4. Juni 2021


Die Stunde der Spinner

Über Wissenschaft und Demokratie


Wissenschaft ist eine gute Sache. Demokratie ist eine gute Sache. Wissenschaft und Demokratie sind eine heikle Sache. Zurzeit gehört das Wort bekanntlich den Experten. Wir vernehmen fast täglich, was sie zu sagen haben, aber gleichzeitig wächst auch die Skepsis gegenüber ihren Ratschlägen und ihrer Legitimität. Sie äussert sich in Unkenrufen über eine «Medicokratie»,  «Diktatur», über einen «Wächterstaat»,  den «virologischen Imperativ», gar über einen von Epidemiologen definierten «Ausnahmezustand». Immer mischt auch die Indigniertheit über eine «Bevormundung» des souveränen Bürgers mit, der doch selber wisse, wie er sich verhalten solle. Eine Gegenfigur zum Experten gewinnt an Kontur: der Querdenker. 


Er konfrontiert uns mit einer unangenehmen Frage: Vertragen sich Wissenschaft und Demokratie? Genauer: Gewährt das demokratische Recht der freien Meinungsäusserung auch das erkenntnistheoretische Recht, recht zu haben? Der österreichische Publizist Robert Misik verneinte die Frage im letzten September vehement und er haute wacker auf die krakeelende Unvernunft ein, die sich gegenwärtig in Demonstrationen rund um die Pandemie und das Impfen kundtäte. Er kreierte eine eigene Kategorie der «Spinner und Schwurbler». «Wir haben lange genug durch falsche Toleranz zugesehen, wie ein Ungeist aus der Flasche entweicht», schreibt er.


Damit sticht man allerdings in ein Problemnest. Denn zunächst einmal: Wer sind «wir»? Jene, die am  «demokratischen Diskurs der Vernünftigen» (Misik) teilnehmen?  Jene, die «richtige» Toleranz walten lassen, indem sie eine klare Demarkationslinie zwischen «uns» und dem querdenkenden Gesocks ziehen? Zweitens: Was ist «Ungeist»? Ganz offensichtlich meint Misik die undemokratische und unwissenschaftliche Mentalität. Gern sieht man im Spinner den Heim-und-Hobby-Theoretiker, der nicht viel von «elitärer» wissenschaftlicher Rationalität hält. Aber was ist wissenschaftliche Rationalität? Darüber herrscht alles andere als Einigkeit. Es mag durchaus sinnvoll sein, Leuten mit falschen oder undemokratischen Ansichten die Plattform zu verweigern, aber auf Andersdenkende generell mit einem «Spinner-Apriori» einzuprügeln, verrät eben-soviel «Ungeist».  


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Kurz, die Sache ist etwas vertrackter.  Der wissenschaftliche Fortschritt erweist sich gerade in technisch avancierten Gesellschaften als ambivalent. Betrachten wir die Tatsache, dass neuartige Impfstoffe ein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie verfügbar sind – allein dies ist ohne Zweifel ein Triumph wissenschaftlicher Rationalität. Aber Entwicklungstempo, Neuartigkeit und Grossanwendung der Impftechnologie sind Parameter, die – wie man von anderen Technologien her weiss -  zu nichtintendierten Konsequenzen führen können. Murks happens. Eine gewisse Skepsis ist Zeichen der Vernunft ist durchaus angezeigt. Unvernünftig dürfte eher die Haltung einer Politikerin wie Linda Rosenthal sein, Mitglied der Legislative des Bundestaates New York. Via Gesetzgebung wollte New York Impfen zu einem Obligatorium erklären, falls die Herdenimmunität nicht erreicht werden sollte. Die Frage, ob es sich hier nicht um einen Übergriff des Staates handle, wischte Frau Rosenthal mit autoritärer Nonchalance weg: «Das ist eine Sache, die auf der Grundlage von Wissenschaft und Best Practice entschieden wird, und nicht aufgrund eines bürgerlichen Bumerangs. Deshalb bleibt die Macht beim Gesundheitsdepartement.»

Zweifellos sind Wissenschaft und Best Practice manchmal gute Ratgeberinnen, aber auch hier konstatiert man eine Ambivalenz: Die Vakzine sind effektiver geworden, und dennoch wehren sich viele gegen das Impfen – ausgerechnet in „fortschrittlichen“ Ländern des Westens. Hier ein-fach die Diagnose der Beschränktheit zu stellen, verrät nur die Beschränktheit der Diagnose. Naiver Expertenglaube ist wie der Glaube an Engel: Wunschprojektion. Mit szientistisch anmutenden Direktiven von oben lässt sich eine heterogene Gesellschaft unter Stress und Not nicht so leicht zum Mitmachen bewegen. Die britische Medizinanthropologin Heidi Larson studiert die Impfskepsis in zahlreichen Ländern. Wissenschaftliche Erklärungen, sagt sie, können die Abwehrhaltung nicht beseitigen. Nicht wenige Menschen sehen sich als Objekte von Entscheidungen in Politik und Beratungsstäben, die undurchsichtig, oft inkonsistent sind. Nicht wenige be-schleicht zudem das Gefühl, mit ihnen würde biopolitisch experimentiert. Demokratie aber, so charakterisiert sie die amerikanischen Politologin Helene Landemore treffend, ist verteiltes Denken. Wissenschaftsbasierte Direktiven in einer Demokratie erfolgen also nicht im Namen einer souveränen Objektivität der Experten. Sie richten sich als Handlungsgebot an entscheidungsfähige Subjekte. 

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Gesundheit ist eine kollektive und eine individuelle Sache, und in einer Epidemie schiebt sich der kollektive Aspekt vor den individuellen. Für liberale Demokratien, die auf Individualrechte bau-en, birgt das Zündstoff. Nun bröckelt der Vertrauenskitt zwischen den medizinischen Wissenschaften und den Bürgern. Virologen zanken sich öffentlich, Gesundheitsbehörden kehren ihre Empfehlungen um, Politiker geben ungedeckte Versprechungen ab. Wir reden viel und gern über die sogenannte Wissensgesellschaft. Was wir aber brauchen, ist eine Wissens-und-Vertrauensgesellschaft. Wir werden uns künftig auf einen Modus Vivendi mit der Mikrobe ein-stellen müssen. Und das bedeutet nicht bloss eine Massierung der Vakzinforschung, mehr Intensivstationen, Tracings und Tests, das heisst auch, dass wir ein neues Vertrauen lernen müssen in ganz elementaren Verhaltensweisen wie zwischenpersönlichen Kontakten.  

Am wichtigsten ist das Vertrauen in die Forschungsresultate. Und hier steht ein fundamentaler Selbstverständniswandel des Experten an. Er sollte zu einem vertrauenswürdigen Manager des Nichtwissens und der Ungewissheit werden. Der Wissensstand über Viren, generell über Mikroben, sei tief, hört man aus Fachkreisen. Im Besonderen gilt dies für die Wirksamkeit von  Covid-19-Vakzinen gegenüber Virusvarianten. Das ist kein Grund, die Wirksamkeit anzuzweifeln, sondern die Gewissheit über die Wirksamkeit. Das Virus lehrt uns, mit anderen Worten, erkenntnis-theoretische Demut, nämlich nicht zu wissen, was noch vor uns liegt. Das winzige Ding hebt uns quasi auf ein neues Problemniveau. Es unterliegt durchaus Naturgesetzen, aber mit Naturwissenschaft allein kommen wir ihm nicht bei. Es ist ein Studienobjekt, das sich aus natürlichen, gesellschaftlichen, politischen, ideologischen Komponenten zusammensetzt: das Rezept zu einem molekularen Selbstkopierapparat, der uns immer wieder epidemisch bedroht, Schutzmassnahmen nötig macht, Gewohnheiten und soziale Verhältnisse aufmischt, die Glaubwürdigkeit altbewährter demokratischer Institutionen unterminiert. Alle diese Faktoren wirken nicht linear aufeinander ein und machen aus dem Virus ein schwer entwirrbares – wie der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour sagen würde – «hybrides» Partikel. Wir befinden uns im Zeitalter der «hybriden» Probleme. 


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Wissenschaft mag – wie man immer wieder hört - keine demokratische Institution sein. Aber als Institution in der Demokratie muss sie sich anderen Perspektiven stellen. Sie ist eine zentrale und verlässliche Perspektive. Und ihre Stärke liegt genau in ihrer Fehlbarkeit, darin also, dass sie der «Unfehlbarkeit» der Rechthaber mit begründetem Nichtwissen entgegentreten kann. Das müsste im öffentlichen Auftreten der Experten noch offensiver zum Ausdruck kommen. Denn die wahre Feindin der Demokratie ist nicht die postfaktische Beliebigkeit, sondern die Mono-Perspektive der Gewissheit, sei sie jene der Verschwörungstheoretiker oder anderer Einäugiger. Seien wir uns zudem bewusst: Diese  Mono-Perspektive kommt selbst unter Wissenschaftern - präziser: unter Szientisten -  vor. Wir sollten deshalb «Spinner» nicht als eine Beleidigung auffassen, sondern als Leitsymptom intellektueller Einäugigkeit – eines besonders resistenten Virus. 


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