Freitag, 9. April 2021




Unseren täglichen R-Wert gib uns heute

Eine Zahl bestimmt gegenwärtig unser tägliches Leben – sie entscheidet, ob wir im Restaurant essen, ins Theater oder ins Kino gehen, ein Fest veranstalten, ein Fussballspiel im Stadion verfolgen, in die Ferien reisen können. Sie führt Politiker an der Nase herum, lockt Spinner aus ihren paranoiden Winkeln, treibt die einen zum Psychiater, die andern auf die Strasse,  sie bringt ganze Berufszweige zum Verdorren, wenn nicht gar Absterben, sie vergiftet das Zusammenleben der Generationen.  


Gemeint ist natürlich die Zahl R0, die Basisreproduktionsrate des Coronavirus. Vor gut einem Jahr hätte wohl kaum jemand diesem epidemiologischen Parameter Aufmerksamkeit geschenkt. Nun beherrscht er die Schlagzeilen. So wie das Bulletin of Atomic Scientists die metaphorische «Uhr des Jünsten Gerichts» einführte, um die Zeit bis zu einer globalen Katastrophe anzuzeigen, so scheint sich jetzt R0  zu einem numerischen Orakel zu entwickeln, das unser Zukunftsszenario festlegt. Die Forschung konzentriert sich verständlicherweise auf den praktischen Aspekt, auf die statistische Analyse der verfügbaren Daten, anhand derer die Politik der öffentlichen Gesundheit Entscheidungen treffen kann. Und dabei geht leicht vergessen, dass man die Zahl eigentlich gar nicht genügend versteht. 


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Eine Grundhindernis liegt darin, dass man den R0-Wert nicht direkt messen kann. Die Epidemiologen müssen ihn stattdessen aus statistischen Modellen abschätzen.  Sie müssen dazu nicht nur die Frage beantworten: Wie viele Personen werden angesteckt – welche «exponentielle Wucht» hat die Epidemie? -, sondern auch: In welcher Zeit geschieht das – welche Wachstumsrate oder «Geschwindigkeit» hat die Epidemie? Zwischen Wucht und Geschwindigkeit vermittelt ein weiterer, meist nicht explizit genannter Parameter: die Generationszeit. Sie gibt das Zeitintervall an zwischen der Infektion einer Person und den von ihr infizierten Folgefällen. 


Nehmen wir an, eine Person infiziert zwei weitere Personen: R0 = 2. Bei einer Generationszeit von – sagen wir -  4 Tagen heisst das: 100 Personen stecken innerhalb von 4 Tagen durchschnittlich 200 weitere Personen an. Senken wir die Reproduktionszahl auf 1.15, würde der gleiche Verdoppelungseffekt erzielt, er bräuchte allerdings rund 20 Tage  (die Generationszeiten verhalten sich wie der Logarithmus der Reproduktionszahlen). Ohne Angabe der Generationszeit ist ein R0-Wert nicht aussagekräftig genug. Und das lässt sich verallgemeinern:  Die Abschätzung von R0 fällt je nach Modellannahmen völlig unterschiedlich aus. 


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Die Crux liegt darin, dass kein eindeutiges, «paradigmatisches» Modell existiert. Zunächst ist es schwierig, den genauen Infektionszeitpunkt zu bestimmen. Deshalb greifen die Epidemiologen zu einem Stellvertreterkonzept, dem sogenannten seriellen Intervall, der Zeit zwischen dem Auftreten von Symptomen bei Person A und dem Auftreten bei der von A infizierten Person B. Man kann zur Abschätzung dieses Intervalls auf Daten des Contact-Tracings zurückgreifen. Aber trotz der Verwandtschaft beider Konzepte muss man unter Umständen mit sehr unterschiedlichen Resultaten rechnen. 


Hiezu wiederum ein Zahlenbeispiel. Person A infiziert sich an Tag 1. Sie entwickelt an Tag 5 nach der Infektion Symptome. Nun steckt sie an Tag 8 eine weitere Person B an. Die Symptome zeigen sich bei B an Tag 10. Die Generationszeit beträgt also 7 Tage (8-1), das serielle Intervall bloss 5 Tage (10-5). Die Situation verkompliziert sich, wenn man die asymptomatische Virenübertragung berücksichtigt. Die Biologen Jonathan Dushoff, Joshua Weitz und Sang Woo Park fanden heraus,  dass sich bei COVID-19 die Generationszeiten symptomatischer und asymptomatischer Virenübertragung erheblich unterscheiden. Covid-19 kennt auch die präsymptomatische Übertragung. Symptome manifestieren sich beim Anstecker später als beim Angesteckten. Das serielle Intervall nimmt dann negative Werte an. Zum Beispiel steckt A  B an Tag 4 an. Nun zeigt B an Tag 8 Symptome, A erst an Tag 10. Die Generationszeit beträgt nun 3 Tage (4-1), das serielle Intervall -2 Tage (8-10). 


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Eine möglichst genaue Schätzung von R0 ist in der frühen Phase einer Epidemie zweifellos von grossem Nutzen. Aber eine Politik der Eindämmung braucht den effektiven Wert Re , die Reproduktionszahl zu einem Zeitpunkt nach Beginn der Pandemie. Und diese Grösse hängt nicht bloss von der viralen Dynamik ab, sondern von vielen weiteren Parametern, gerade auch von den Interventionen, mit denen wir der Epidemie begegnen: Quarantäne, Impfen, Shutdown, Contact-Tracing. Eine Epidemie ist ja nicht einfach ein Naturereignis, sondern ein gesellschaftlich-natürlich verkoppeltes Geschehen mit dem Virus als Kopplungsfaktor. Das führt uns in aller Schärfe die Komplexität des Phänomens vor Augen. Ein bekannter Problembrocken in der Bestimmung von Re ist der Meldeverzug von Krankheitsfällen. Das BAG rechnet schweizweit mit 10 bis 13 Tagen. In der Öffentlichkeit herrscht nun allerdings kaum Akzeptanz für nachhinkende Daten. Man will über die aktuelle Lage informiert sein, mehr noch: man will Zukunftsaussichten. Deshalb haben die Biostatistiker die Schätzmethode des Nowcasting eingeführt. Man korrigiert die Zahl der gemeldeten zurückliegenden Neuinfektionen durch eine geschätzte Zahl für die Gegenwart und errechnet so die künftigen Fallzahlen. Die Erwartung hierbei ist, dass diese Fälle in einigen Tagen, wie geschätzt, auftauchen werden. 

Die Schwierigkeiten, die R-Werte hinreichend verlässlich zu bestimmen, deuten darauf hin, dass unser Bild der Epidemie unvollständig ist. Die Temperatur allein hilft uns ja auch nicht, um ein adäquates Bild des meteorologischen Geschehens zu erhalten. Bei allen Anstrengungen, die man nun zum Verständnis unternimmt, sei nicht eine Ironie der ganzen Situation verschwiegen.  Wir verfügen über riesige Datenmengen,  wir kennen elaborierte statistische Methoden, wir setzen künstlich intelligente Systeme ein, und dennoch ist uns das Virus immer wieder voraus, nicht zuletzt aufgrund seiner Mutationslaunen. Und darüber wissen wir wenig. Eine gewisse epistemische Demut vor der Pandemie ist deshalb angezeigt.


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Es gibt andere Probleme rund um die R-Numerologie. Wenn schon Wissenschafter ihre liebe Mühe mit dem Reproduktionswert haben, dann sollte uns das erst recht als Warnung vor Exegeten in Politik und Medien dienen. Die Versuchung ist gross, den Blick allein auf die Zahl zu fixieren, genauer darauf, ob sie über oder unter dem Wert 1 liegt – und daraus auf den Erfolg einer Coronapolitik zu schliessen. Schon fast lächerlich mutet ohnehin an, wie man das Schicksal unseres Landes als von zwei Nachkommastellen abhängig darstellt - 1.12 oder 1.15 oder 1.18 oder …? Und nachgerade dümmlich-konspirationsselig ist es, das Schwanken durch Mutwillen der Behörden zu erklären. Ein weiteres Problem betrifft die öffentliche Kommunikation der Wissenschafter. Das Nachrichtenportal Nau.ch stellte die plausible Frage «Welche Faktoren spielen neben den bestätigten Fallzahlen eine Rolle bei der Berechnung des R-Werts?» Die Taskforce des Bundes beantwortete sie mit einem biostatistischen Kuddelmuddel aus Poissonprozess, Infektibilitätsprofil, Prior- und Posteriorwahrscheinlichkeit, etcetera.  Wenn Wissenschafter im öffentlichen Dienst eine Laienfrage solcherart abspeisen – wer wundert sich da noch über den arg gebeutelten Ruf des Experten?


Der R-Wert ist eine wichtige statistische Stellschraube, nicht mehr.  Wir sollten deshalb nicht auf sein ständiges Schwanken starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Denn es ist letztlich unser eigenes Verhalten, von dem der Wert abhängt. Und dieses Verhalten hat noch viel zu wenig über wichtigere Stellgrössen gelernt. Zum Beispiel Besonnenheit, Verantwortungsbewusstsein, Selbstsorge. 





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