NZZ, 26.8.25
Technologischer Progress bis zum Exzess
Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Jervis formulierte in der Zeit des Kalten Krieges das sogenannte Sicherheitsdilemma, eine zentrale Denkfigur der Geopolitik. Jervis’ Annahme: Nationen sind primär mit ihrer eigenen Sicherheit beschäftigt. Dazu rüsten sie sich mit Waffen auf. Auch wenn diese Aufrüstung aus defensiven Gründen geschieht, so kann daraus unbeabsichtigt ein offensiver Effekt resultieren. Was die eine Nation als Schutzmassnahme betrachtet, interpretiert die andere als agressiven Akt. In einer Situation, in der keine supranationale Instanz bindende Abkommen durchsetzen kann, empfiehlt sich für beide Nationen die Strategie des Aufrüstens. Aber dadurch manövrieren sie sich in eine paranoide Spirale gegenseitigen Verdächtigens, die das Risiko und die Letalität eines Krieges erhöht.
Drohkulisse für Jervis’ Sicherheitsdilemma war die Nuklearwaffe. Ihr Nimbus der Einzigartigkeit rührt von ihrem immensen Zerstörungspotenzial her, genauer gesagt, vom «harten» materiellen Zerstörungspotenzial. Nun steht die technologische Entwicklung im Zeichen der KI-Systeme, einer «weichen» immateriellen Waffe. Sie droht den Menschen nicht materiell zu zerstören, sondern «von innen heraus», indem sie Möglichkeiten schafft, sein Verhalten unterschwellig zu steuern. Dadurch kann das gefährdet werden, was wir – zu-mindest in modernen Demokratien – als das Wertvollste am Menschen schätzen: die Unantastbarkeit seines Willens, seine intellektuelle Mündigkeit, sein Status als frei entscheidender Bürger. Dass die globale Autokratenclique die KI als patente künstliche Prätorianer-garde begrüsst, versteht sich von selbst.
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Heute prägt das Sicherheitsdilemma primär das globale technologische Wettrüsten, im Besonderen die Beziehung der beiden Grossmächte USA und China. Beide sind sich einig über den Charakter des Spiels. Wer obenauf ist, regiert die Welt. Mit den Worten von Alex Karp, des Mitbegründers von Palantir, einer der führenden Firmen für Softwareanalyse: «Unsere Gegner werden keine Auszeit nehmen, um theatralische Debatten über die Vorzüge von Technologien mit kritischen militärischen und sicherheitspolitischen Anwendungen zu führen. Sie werden einfach vorangehen.»
Das ist der Punkt. Wenn nicht wir in Silicon Valley es tun, tun es die anderen in Shenzhen. Entweder verzichtet eine Nation auf geopolitische Vormachtstellung und begibt sich in die Abhängigkeit der avancierteren Nation – oder sie tritt ein in die entfesselte agressive Technologieentwicklung, ungewiss der Schäden und Trümmer, die daraus resultieren mögen.
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Nun ist diese binäre Logik keineswegs naturgegeben. Es sind geopolitische Druckverhältnis-se, die sie notwendig erscheinen lassen. Der Zweite Weltkrieg markierte den Start des Com-puterrennens. Der Kalte Krieg befeuerte das Rennen im Weltraum zwischen den USA und der Sowjetunion. Japans Überlegenheit in der Halbleiterindustrie in den 1980er Jahren war der Beginn des Chipherstellungsrennens mit den USA. Vergessen wir nicht die Gentechnologie. Die Beijing Genomics Institution (BGI) studierte schon 2013 die DNA von Hochbegabten – mit dem Ziel, dank Gen-Engineering eine smartere Bevölkerung zu schaffen. An die-sem Eugenik-Rennen machen auch die USA mit.
In ein buchstäbliches Rattenrennen tritt die Gehirnforschung. Im Zentrum steht das sogenannte Brain-Brain-Interface, BBI – die Beeinflussung durch direkte Signalkommunikation zwischen Gehirnen; zwischen Rattenhirnen, aber auch zwischen Menschen- und Rattenhirnen. Als immer wichtiger erweist sich das Brain-Computer-Interface (BCI), die Verschaltung von Gehirn und Computer. Ausdrücklich erklärt das chinesische Ministerium für Industrie und Informationstechnologie, in Konkurrenz zu Elon Musks Firma Neuralink zu treten. Das Gehirnchip-Rennen hat Fahrt aufgenommen.
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Es gibt in diesem Wettlauf die «Hemmer» und die «Beschleuniger». Der Hemmer spekuliert darauf, dass die Nutzer smarter Geräte sich deren negativen Seiten bewusst werden. Dadurch könnte das Dilemma in einer Art von technologischem Waffenstillstand entschärft und ein Forum für Debatten über alternative Entwicklungen eröffnet werden - ein Techno-Moratorium. So wünschenswert das auch erscheint, wir machen damit die Rechnung ohne das Dilemma. Die neuen Technologien prägen bereits derart tief unsere alltäglichen Verhaltensweisen, dass ein Verzicht schwierig, wenn überhaupt denkbar erscheint. Wenn man einmal eingetreten ist, so scheint es, kann man nicht mehr austreten. Wider Willen muss der Nutzer das Spiel der grossen Player mitmachen.
Der Beschleuniger leugnet die Schattenseiten oder spielt sie herunter. 2023 verfasste der Risikokapitalist Marc Andreessen ein «techno-optimistisches Manifest», in dem er das Auf-kommen von Supermännern beschwört. Darin liest man zum Beispiel: «Wir können zu einer weitaus höheren Lebens- und Daseinsweise fortschreiten. Wir haben die Werkzeuge, die Systeme, den Willen. (..) Wir glauben an die Grösse. Wir glauben an den Ehrgeiz, an die Agression, die Hartnäckigkeit, die Unbarmherzigkeit, die Stärke.»
Solche Worte erinnern auf höchst unangenehme Art an eine Mentalität des Ersten Weltkriegs. Damals sprachen die französischen Militärhandbücher von der «attaque à outran-ce», dem Krieg bis zum Exzess. Nach dieser Doktrin muss man damit drohen, alles einzusetzen, um den Krieg zu beenden - alles, das waren neue Superwaffen wie Maschinengewehre, Flammenwerfer, Panzer, Flugzeuge, Giftgas. Die Strategen waren überzeugt, dass nur das kompromisslose Vorwärtsdrängen Erfolg versprach. Sie glaubten, mit Andreessen geprochen, an «den Ehrgeiz, an die Agression, die Hartnäckigkeit, die Unbarmherzigkeit, die Stärke.»
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Der technologische Exzess ist in das Sicherheitsdilemma eingebaut, unabhängig von den Ideologien und Motiven der beteiligten Spieler. Sicherheit bringt nur das Vorwärtsstürmen, nicht das Einhalten, nicht das Überlegen. Und paradox ist: Die Spieler würden vielleicht so-gar eingestehen, dass sie besser dran wären, drehten sie die Spirale nicht unablässig weiter. Aber sie sind besessen von der Logik des Spiels, das nächste «Superding» zwinge den Gegner in die Knie. Sie sind gefangen in einem Dilemma, das ihr Handeln immer näher an den Abgrund treibt. Eine Situation blanker Absurdität: Man diskutiert darüber, ob wir uns in einem «chinesischen» oder «amerikanischen» Jahrhundert befinden, dabei ist die Frage vordringlicher, ob wir in diesem Jahrhundert noch die Kurve kriegen, den Planeten zu ret-ten.
Zweifellos hat uns der technologische Fortschritt das Leben in mancherlei Hinsicht erleichtert. Doch es gibt eine bekannte Dialektik dieses Fortschritts: die unvorhergesehenen und unbeabsichtigen Folgen der Technologie. Sie können nicht nur kurzfristig zu wirtschaftlichen Instabilitäten und Jobverlusten führen, sondern langfristig zu sozialen Ungleichgewichten, zu prekären Versorgungsverhältnissen, zum Verlust menschlicher Fähigkeiten und Handlungsoptionen, zur Unterminierung von Traditionen, zur Ausweitung der staatlichen Macht über die Bürger. Nicht zuletzt trägt all dies zur geopolitischen Unsicherheitslage bei, in der wir heute stecken.
Das Wettrüsten von Computer-, Gen- und Neurotechnologie nimmt seinen Lauf. Das Mindeste, was wir tun können, ist falsche Hoffnungen zu vermeiden. Trösten wir uns auch nicht mit dem Gedanken, dass der alte Kalte Krieg nicht zu einem Weltenbrand führte. Der amerikanische Abschreckungstheoretiker und Nobelpreisträger Thomas Schelling erklärte dieses Nicht-Ereignis zum «spektakulärsten Ereignis» der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob der neue Kalte Krieg auch in einem spektakulären Nicht-Ereignis endet, ist nicht ausgemacht.