NZZ, 16.7.25
Baloney Detection - die Kunst des Quatscherkennens
Wenn ich einer anderen Person etwas mitteilen will, will ich sie überzeugen, einschüchtern, täuschen, für mich gewinnen; ich will sie «kneten» - griechisch: «mássein». Das heisst, Informieren und Massieren sind zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. The Message is the Massage. Am eindeutigsten beobachtbar in der Werbung – auch in der politischen. Nicht die Botschaft selbst interessiert hier, sondern ihre «knetende» Wucht.
Die These ist nicht neu. Der Titel von Marshall McLuhans berühmtem Buch lautete bekanntlich nach einem Fehler des Schriftsetzers «The Medium is the Massage.» Der Untertitel hob den Kernpunkt hervor: «Ein Inventar an Effekten» - nämlich an manipulativen Effekten, die ein Medium haben kann. Man kennt dieses Verhalten schon aus der freien Wildbahn. Die Evolutionsbiologen sprechen von der Machiavelli-Intelligenz bei Tieren, also von einer erworbenen Fähigkeit, die sich der Strategie des «Massierens» bedient: des Irreführens, Verwirrens, Übervorteilens.
Unser aktuelles Kommunikationsverhalten lässt auf vielen Gebieten den Charakter der freien Wildbahn erahnen, frei nach Nietzsche: den Willen zur Manipulation. Es herrscht ein Selektionsdruck, unter dem man nur durch Täuschen, Tricksen, Faken: durch «Massieren» des anderen erfolgreich besteht. Ein Biotop für die Subspezies der Leugner, Profilneurotiker, Spinner, Influencer, Trolle, Zyniker. Symptom eines intellektuellen Umweltproblems. Ich nenne es Krise der epistemischen Autorität.
***
In modernen, aufgeklärten Gesellschaften gilt das wissenschaftliche Expertentum als solche Autorität. Coronaepidemie und Klimawandel haben jedoch den Ruf der Experten nicht gefördert. Das liegt gewiss an der Komplexität des Themas, aber auch an etwas anderem: die Phänomene sind von allgemeinem Belang und wertbeladen, sie gehen Wissenschaftler und Laien dringend und direkt an. Und hier tritt ein gestörtes Verhältnis zwischen beiden zutage. Ganz offensichtlich daran zu erkennen, dass man den Leuten, die dafür ausgebildet sind, über ein gewisses Gebiet kompetent zu urteilen, nicht mehr glaubt und vertraut. Gleichzeitig aber meint, mit einer zusammengeschusterten Do-it-yourself-Theorie das ganze gesammelte Wissen einer Disziplin über den Haufen werfen zu können.
Ohnehin sollte man aber epistemische Autorität nicht mit der Autorität von Personen gleichsetzen, seien sie Wissenschaftler, Philosophen oder öffentliche Intellektuelle. Sie liegt vielmehr in intellektuellen Tugenden, auf die ein robustes demokratisches Zusammenleben abstellt: etwa das Überwinden des Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst der Neigung, nur gleichen Meinungen Glauben zu schenken und die anderen mit ei-nem Shitstorm zu überziehen; Skepsis gegenüber vorschnellen Verallgemeinerungen und patenten Problemlösungen; das Vermeiden von Argumenten ad personam; das Misstrauen gegenüber Gefühlsexhibitionisten, die ihre Emotionen für Argumente halten, oder gegenüber Leuten, die sich selbst zu Opfern stilisieren: Betroffenheitsnarzissten; das Ersetzen von moralisierenden Schuldfragen durch empirische Ursachen-fragen; ein Gehör für die falschen Töne im Namen «des Volkes». Aufs Ganze gesehen könnte man einen epistemischen Tugendkatalog aufstellen und mit der Bezeichnung des bekannten Wissenschaftsautors Carl Sagan zusammenfassen: «Baloney Detection» - Quatscherkennung. Sagan nannte sie eine «hohe Kunst».
***
Aber wer sagt denn eigentlich, was der Fall ist, was ein korrektes Argument, was ein triftiges Urteil? Was für eine Instanz rufen wir an, wenn wir vom Gegenteil des Quat-sches - der Wahrheit - sprechen?
Unsere Zeit ist von tiefem Misstrauen geprägt. Man erinnert sich an Jürgen Haber-mas Spielwiese der Kommunikation, wo der «eigentümlich zwanglose Zwang des besse-ren Arguments» regiert. Dieser «Zwang» hat eine ganz einfache Basis: das Vertrauen in den anderen; das Vertrauen darauf, dass der andere wie ich die Spielregeln des «bes-seren Arguments» anerkennt. Die Garantie für das zwanglose Gespräch liegt im Kol-lektiv von Bürgerinnen und Bürgern, die Erkenntnistugenden kultivieren und tradie-ren. In dem Masse, in dem das gelingt, gewinnt die Instanz des besseren Arguments an Autorität, können wir die Message von der Massage trennen und damit den intel-lektuellen Dreckschleudern entgegenwirken, die vor allem eines wollen: Flood the zone with shit.
Der spanische Philosoph Ortega y Gasset hat dies bereits vor hundert Jahren erkannt. In seinem Essay «Der Aufstand der Massen» (1929) schreibt er: «Wer Ideen haben will, muss zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt. Es geht nicht an, von Ideen oder Meinungen zu reden, wenn man keine Instanz anerkennt, welche über sie zu Gericht sitzt».
Fürwahr! Wir leben im Zeitalter der «Kneter». Sie anerkennen keine solche Instanz. Sie haben deshalb auch keine Meinungen, sie sondern Meinungen ab wie Speichel. Und wer diesen Speichel unkritisch resorbiert, ist ein…