Freitag, 31. Mai 2024



NZZ, 30.5.24

Das Monster in uns

Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich

Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – das Monster von Gaza». Solche Dämonisierung – oder genauer «Monsterisierung» -  hat Tradition. Ein Buch über den Massenmörder Anders Breivik trägt den Titel «The Utoya Monster», ein Film über den Inzesttäter Josef Fritzl «Geschichte eines Monsters». Regelmässig bezeichnet man Untaten, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, als «monströs». Den Titel «Monster» reservieren wir – oft mit heimlichem erotischem Schaudern - für Menschen, deren psychisches und intellektuelles Universum sich unserem Verständnis entzieht. Deshalb ist der Begriff auch eine Warnung; «monstrare» bedeutet zeigen und warnen. 

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Wovor eigentlich? Sicher vor physischer Bedrohung. Monster wollen Böses, sie wollen von uns Besitz ergreifen, uns vergewaltigen, unser Blut saugen, uns töten. Grund genug, sich vor ihnen zu fürchten. Aber physische Gefahr allein genügt nicht, um sie von anderen Bedrohungen zu unterscheiden. Ein Krokodil kann durchaus eine physische Gefahr darstellen, ist aber kein Monster. Und warum nicht? Weil man es einer eindeutigen Kategorie zuschlagen kann. Das Krokodil ist ein Tier. 

Zum Monstersein braucht es eine andere Aura der Gefahr. Man könnte sie die Gefahr der Uneindeutigkeit nennen. Monster passen in kein Kategoriensystem, sei dies natürlich oder kulturell. Sie sind ein Affront gegen die Natur, die Sitte, das Recht. Wir wissen kognitiv nicht, was wir mit diesem uneindeutigen Ding anfangen sollen. Wenn es keine reelle Gefahr anzeigt, so doch eine virtuelle. Und gerade diese Virtualität – das Gerücht, der Verdacht, die Imagination - macht jemanden zum Monster. Als Zwitterkategorie eignet es sich gut zur Dämonisierung des Anderen. Transmenschen werden oft als solche «uneindeutige» Wesen wahrgenommen. 

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Die britische Fernsehserie «Black Mirror» schildert dystopische Zukunftsszenarien einer völlig technisierten Gesellschaft. In einem Szenario ist die menschliche Spezies von monströsen humanoiden Wesen bedroht. Ein spezieller Trupp von Monsterjägern verfolgt und eliminiert sie. Wie sich allerdings herausstellt, ist den Monsterjägern ein Modul ins Gehirn implantiert worden, das sie andere Menschen als Monster wahrnehmen lässt. Beim Helden der Geschichte funktioniert dieses Modul nicht, weshalb er entdeckt, dass er kein tapferer Verteidiger der menschlichen Spezies ist, sondern am Vernichtungsfeldzug einer verachteten Bevölkerungsgruppe teilnimmt. 

Das ist Science Fiction. Freilich brauchen wir gar keine fiktiven Gehirnimplantate, um in anderen Menschen Monster zu sehen. Gewöhnlich nehmen wir Artgenossen spontan als Mitmenschen wahr. Aber immer wieder mischt die Ideologie des «Untermenschentums» mit, die uns suggeriert, gewisse Mitglieder unserer Spezies seien nicht «eigentlich» menschlich. Wir kennen die Ideologie sattsam aus den Traktaten der Nazis oder der weissen Suprematisten. Jüngst auch aus dem Mund des stellvertretenden Bürgermeisters von Jerusalem, Arieh King. Er erklärte angesichts von fast nackten Palästinensern, die in einer Sandgrube festgesetzt worden waren: Könnte er entscheiden hätte er die Gefangenen mit Bulldozern lebendig begraben; sie seien keine Menschen oder menschliche Tiere, sondern Untermenschen.  

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Wie stark und nachhaltig freilich dieses Ideengezücht in unseren Köpfen wuchern mag, es verdrängt den mitmenschlichen Urblick nie völlig. Oder eher, es spaltet ihn auf in zwei Teilblicke, die sich unter Umständen nicht mehr vertragen. Dieser unheimliche Zwiespalt ist in uns allen angelegt. Und er wird in dem Moment zur Monstrosität, in dem die Ideologie unsere Wahrnehmung derart in Bann schlägt, dass wir andere Menschen gegen die Evidenz unserer Sinne und gegen die innere Stimme unserer Empathie nicht mehr als «unseresgleichen» qualifizieren. Dann geschieht etwas, das im Tierreich eine Ausnahme ist: die Gewalthemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Spezies verschwindet nahezu total. Die Hamas-Terroristen sahen in ihren Opfern zweifellos Menschen, und gerade weil die Opfer Menschen waren, wurden sie unmenschlich massakriert. Ein japanischer Veteran des Zweiten Weltkriegs sagte in einem Interview: «Wenn wir chinesische Frauen vergewaltigten, dann betrachteten wir sie als Menschen; wenn wir sie töteten, als Schweine». 

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Wir sind offenbar anfällig für diese «normale» Geistesgestörtheit. Es bedarf dazu gar nicht erst der Ideologie. Auch tradierte Vorurteile, Ängste, tiefverwurzelter ethnischer Hass können den Widerspruch am Köcheln halten. 1993 wütete der Mob im rumänischen Dorf Hadareni pogromartig gegen Roma. Zahlreiche Häuser wurden niedergebrannt, drei Roma getötet. Eine Dorfbewohnerin äusserte sich dazu wie folgt: «Wir sind stolz auf unsere Taten. Eigentlich wäre es sogar besser gewesen, wenn wir mehr Leute verbrannt hätten und nicht nur deren Häuser. Wir verübten keinen Mord – wie kann man das Töten von Zigeunern Mord nennen? Zigeuner sind nicht wirkliche Menschen, weisst du. Sie töten einander. Sie sind Kriminelle, untermenschlich, Ungeziefer».   

Das Vokabular des letzten Satzes enthüllt den ganzen monströsen Widerspruch: Roma sind Kriminelle, also Menschen, und gleichzeitig Ungeziefer, also nicht Menschen – eigentlich sind sie weder noch, nämlich untermenschlich. Die Frau lebt mit diesem Widerspruch in Seelenruhe. Sie demonstriert die «einleuchtende» Logik der Unmenschlichkeit, deren Spur sich vom Dorfpogrom in Rumänien bis zum Genozid in Ruanda zieht. Das teuflische Motiv, andere Menschen als Ungeziefer zu behandeln, liegt exakt darin, dass sie kein Ungeziefer sind. 

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Entmenschlichung beginnt im Kopf. Im Denken und Reden über andere, nicht im Behandeln an-derer, obwohl beides untrennbar zusammenhängt. Der Hang zur Unmenschlichkeit ist menschlich, und ihm wohnt oft eine mörderische logische Stringenz inne. Wir sollten also Humanität auch, nein, vor allem von ihrem entgegengesetzten Pol - der Monstrosität - her denken. Adorno nannte diesen Pol «Auschwitz» und schrieb: «Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung». Aber zu dieser Erziehung gehört notwendig das Memento, dass Ansätze zu Auschwitz immer möglich sind. 

Das forderte Susan Sontag eindringlich: «Wer sich ständig davon überraschen lässt, dass es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden. Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf soviel Unwissenheit oder Vergesslichkeit». 

Moralische Reife erlangen wir also, indem wir das Monster in den Horizont des Menschenmöglichen einbeziehen. Dann können wir ihm ins Auge sehen – in uns selbst. Fürchten müssen wir es immer. 

Freitag, 24. Mai 2024

 


Der Frosch im Kochtopf


Wenn sich die Dinge langsam und unmerklich verändern, ist man sich der Drastik der Entwicklung kaum bewusst. Man gebraucht hiezu oft das warnende Bild des Frosches im Kochtopf. Er springt aus dem siedenden Wasser, aber lässt sich zu Tode kochen, wenn man die Wassertemperatur stetig leicht erhöht. Die Analogie ist ein Slippery-Slope-Argument. Sie warnt uns vor Trägheit oder Widerwillen gegenüber nötigen Massnahmen und Verhaltensänderungen. Wir seien zum Beispiel angesichts der graduellen Umweltverschlechterungen wie Frösche im Topf, hört man, wir würden erst herausspringen, wenn es zu spät ist – sofern wir das dann noch können. Oder wir seien zuwenig wachsam gegenüber antidemokratischen Bewegungen in gegenwärtigen liberalen Gesellschaften, und wir würden dies erst merken, wenn die Diktatur sich etabliert hat. 

Was sagt die Biologie dazu?

Frösche sind Amphibien. Sie sind Kaltblütler, das heisst, sie produzieren nicht selbst ihre Körpertemperatur wie wir Säuger. Sie zapfen externe Energiequellen an, am häufigsten Sonnenlicht. Vom Gesichtspunkt der Effizienz aus betrachtet ist das sehr klug. Wir Warmblütler müssen viel essen, um die nötige Körpertemperatur zu erhalten. Kaltblütler brauchen viel weniger Nahrung als Energiezufuhr. 

Natürlich merken Frösche, wenn ihre Umgebung zu kalt oder zu heiss ist. Sie  regulieren ihren internen Temperaturhaushalt, indem sie Sonnenlicht suchen, wenn ihnen kalt ist. Wenn ihnen zu warm ist, verdunsten sie Wasser, um dem Körper Wärme zu entziehen, auf die Art und Weise, wie wir Menschen schwitzen. Jede Spezies hat ihr eigenes kritisches Temperaturmaximum. Bei Menschen beträgt es etwa 42 Grad; bei Fröschen zwischen 25 bis 30 Grad. Ein Frosch kann während einer bestimmten Zeit in einer Umgebung mit Temperatur über dem Maximum aushalten, bis er aus der Umgebung flüchtet. Im Übrigen sitzen Frösche nicht einfach so herum, sie sind bewegungsfreudig, was ja auch in der Redensart «Sei kein Frosch!» zum Ausdruck kommt: Lauf nicht davon, wenn die Situation brenzlig ist. 

Lobotomisierte Frösche

Seit Galvanis Experimenten mit Froschschenkeln ist der Frosch ein probates Versuchstier – ein «Präparat» - in der medizinischen Forschung. Hunderttausende dieser Tiere verendeten verstümmelt und verstückelt auf Labortischen. Und mussten auch in den Kochtopf springen. Im späten 19. Jahrhundert stand vor allem das Nervensystem des Froschs im Fokus des Interesses. Der deutsche Mediziner Friedrich Leopold Goltz - entschiedener Befürworter der Vivisektion - führte sogenannte «Ausschaltungsversuche» am Zentralnervensystem des Frosches durch, um Aufschlüsse über die Reflexvorgänge zu erhalten. Er verglich dabei Frösche, die er lobotomisiert – Teile ihres Gehirns entfernt – hatte, mit normalen Fröschen. Goltz erhöhte die Wassertemperatur auf 56 Grad innerhalb von zehn Minuten. Und er stellte fest, dass die hirnlosen Tiere im heissen Wasser blieben, während die behirnten heraussprangen. Natürlich betrachten wir aus heutiger Sicht solche Experimente mit eigentlich trivialem Ausgang als grausam. Aber wir müssen beden-ken, dass die Kenntnis über Vorgänge im Nervensystem – verglichen mit heute - noch dürftig war. Im Übrigen bezweifeln moderne Biologen die Aussagekraft des Experiments. 

Das Haufen-Paradox

Trotzdem ist die Metapher nützlich. Einmal als die Frage, wie wir auf fein abgestufte, kaum bemerkte Weise in gefährliche Situationen hineinrutschen können. Wann ist es zu spät? Das ist ein uraltes philosophisches Problem, bekannt als das «Haufen-Paradox» (Sorites-Paradox). Es hat zu tun mit den sukzessiven kleinen Veränderungen eines Zustands bis zu jenem Punkt, wo der Zustand sich in einen neuen verwandelt. Wir beginnen mit einem Sandkorn und fügen ein weiteres hinzu. Haben wir nun einen Sandhaufen vor uns? Nein. Dann fügen wir ein weiteres Korn hinzu. Immer noch kein Haufen. Wenn wir die Prozedur weiter führen, sagen wir bis zu einer Million Körnern, können wir immer noch argumentieren: Bisher war das kein Haufen, also auch jetzt nicht. Paradox, wir kommen nach dieser Logik nie zu einem Sandhaufen. 

Nun ja, das ist eher etwas für philosophisch geneigte Naturelle. Für gewöhnlichere ist die Metapher ein Hinweis darauf, wie wir Menschen quasi als «selbst-lobotomisierte» Frösche auf bestimmte, offensichtliche Gefahren nicht reagieren. Die Welt ist nämlich voller Kochtöpfe. 





Donnerstag, 9. Mai 2024



Die mörderische Macht der Illusion

Es gibt zwei Arten von Illusion. Wenn wir die Sonne als riesigen Kreis am Horizont auf- oder untergehen sehen, haben wir eine falsche Vorstellung. Die wahrgenommene Grösse der Sonne ist eine Illusion. Die Illusion im anderen Sinn ist eine Idee, von der wir wünschen, sie sei wahr. Mörderisch wird die Illusion, wenn wir von ihr derart überzeugt sind, dass sie sich nicht als falsch herausstellen kann. Im Gegenteil. Je mehr sie sich als falsch herausstellt, desto gewalttätiger verlangt sie nach Durchsetzung. Ich verfolge hier kurz drei Beispiele solcher Durchsetzung. Wenn ich sie an bekannten Politikern festmache, dann habe ich nicht primär die Personen im Visier, sondern deren Ideengezücht, das eine Tradition der Entmenschlichung bewahrt und weiterführt. 

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Mörderische Illusionen brauchen ein Brutklima des Enttäuschtseins, der Erniedrigung, der Bedrohung. Das führte der britische Psychoanalytiker Roger Money Kyrle bereits in den 1930er Jahren exemplarisch vor. Er besuchte Versammlungen der Nazis und beobachtete die Psychodynamik bei Reden von Hitler und Goebbels. Er stellte dabei einen einfachen Steigerungs-Dreischritt fest: Selbstmitleid-Verfolgungswahn-Grössenwahn. Money Kyrle bezeichnet die Zuhörerschaft als «Monster». Und er beschreibt das Crescendo des manischen Aufputschens: «Während zehn Minuten hörten wir vom Leiden Deutschlands seit dem Krieg. Das Monster schien sich einer Orgie von Selbstmitleid hinzugeben. Dann folgten in den nächsten zehn Minuten die schrecklichsten Explosionen gegen Juden und Sozialdemokraten als den einzigen Urhebern dieses Leids. Selbstmitleid machte Hass Platz; und das Monster schien im Begriff, mörderisch zu werden. Aber der Ton änderte sich noch einmal. Nun hörten wir zehn Minuten lang vom Aufstieg der Nazi-Partei, von kleinen Anfängen zu einer überwältigenden Macht. Das Monster wurde nun, vergiftet vom Glauben in die eigene Allmacht (..),  sich seiner selbst bewusst». 

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Die amerikanische Jornalistin Gwynne Guilford folgte den Fusstapfen von Money Kyrle in Wahlveranstaltungen der amerikanischen Republikaner 2016.  Sie fand den Dreischritt triumphal bestätigt. Trump spielte meisterlich mit den Wünschen seines Gefolges, sich als Teil eines übermächtigen Ganzen: sich «real» zu fühlen. 

Trump begann auf dem Register von Enttäuschung, Verlust, Bedrohung: «Unser Land ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Wir haben keine Siege mehr (..) (Die Chinesen) lachen über uns als Einfaltspinsel. Sie schlagen uns im Geschäft.» Dann suchte er im zweiten Schritt die Schuldigen: «Wenn Mexiko seine Leute schickt, schickt es nicht die Besten (..) Es schickt Leute mit einem Haufen von Problemen, und diese Leute bringen ihre Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger (..) Und all dies kommt nicht nur von Mexiko, son-dern von überall her aus dem Süden (..) und es kommt wahrscheinlich – wahrscheinlich – aus dem Mittleren Osten». Schliesslich öffnete der Überbringer schlechter Nachrichten seinen Wundermittelkoffer: «Nun braucht unser Land (..) einen wirklich grossen Führer (..), einen Führer, der ‘The Art of the Deal’ schrieb, der unsere Jobs zurückbringt, unser Militär (..) Wir brauchen jemanden, der dem Markenzeichen USA wieder zu Grösse verhilft: Make America Great Again (MAGA)». Gehörte der Mob, der 2021 das Kapitol in Washington stürmte, zur Vorhut der MA-GA-Bewegung?

Trump sei nicht Grossmachtswahn à la Hitler unterstellt. Er dürfte – zum Glück - ein zu windiger Politiker sein, um seine «Ideologie» mit aller Gewalt durchzusetzen. Steve Bannon, sein Einflüsterer im Wahlkampf 2016, scheint zumindest in seiner Gedankenwelt unzimperlicher zu sein. Ihm schwebt die gewaltsame Restauration der «westlichen Zivilisation» vor, ein nationalistischer, «aufgeklärter» - sprich unregulierter -  Kapitalismus mit jüdisch-christlichem Wertefundament. Natürlich gilt es zuerst die Schuldigen zu benennen – die «Elite», die «Schickeria, die Investment-banker und die Typen von der EU». Dass der  Konflikt mit diesen Schuldigen kriegsmässige Ausmasse annehmen könnte, stört Bannon nicht. Im Gegenteil. Er, der «Leninist», sieht hier den Weg der revolutionären Gewalt, um endlich der neuen Zivilisation, der «vergessenen» Mittelschicht Amerikas Platz zu machen. 

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Mit ebendieser Gewalt sucht der russische Präsident die westliche Zivilisation zu besiegen. Vor der Attacke Russland auf die Ukraine 2022  hielt Putin eine langatmige Rede an die Nation, wo-runter er insbesondere «unsere Landsleute in der Ukraine» zählte, also den annektierten ukrainischen Südosten plus die Krim.  

Auch hier zunächst die Evokation der Demütigung: «Man stellt sich die Frage: Armut, Perspektivlosigkeit, Verlust des industriellen und technologischen Potentials – ist das etwa diese sogenannte Entscheidung für die westliche Zivilisation, mit der man jetzt schon seit Jahren Millionen Menschen für dumm verkauft und zum Deppen macht, indem man ihnen Milch und Honig verspricht?» Die Urheber sind schnell identifiziert: eine korrupte Schicht von ukrainischen Oligarchen: «Die staatlichen politischen Institutionen wurden permanent neu zugeschnitten, immer so, dass es den entstehenden Clans zum Vorteil gereichte, deren materielle Interessen denen des ukrainischen Volks entgegengesetzt waren». Im Hintergrund wirken natürlich die Unterstützer NATO und USA – die «westliche Zivilisation». Schliesslich der Befreiungsschlag, das Ultimatum: «Von denen, die in Kiew die Macht an sich gerissen haben und sich an sie klammern, fordern wir, dass sie die Kampfhandlungen unverzüglich einstellen. Andernfalls lastet die gesamte Verantwortung für ein mögliches weiteres Blutvergiessen voll und ganz und ohne Einschränkung auf dem Gewissen des auf dem Territorium der Ukraine herrschenden Regimes. Ich bin mir sicher, dass ich mir bei den heute getroffenen Entscheidungen der Unterstützung der Bürger Russlands, aller patriotischen Kräfte des Landes, gewiss sein kann».  Nebenbei bemerkt, das typische Charakteristikum jeden autoritären Regimes: Befreiung von der Verantwortung eigener Taten. 

Russland muss nicht bloss vom ukrainischen Filz gereinigt werden, sondern von allem, was sich nicht in die «patriotische» Illusion integrieren lässt. Russische Propaganda spricht heute von «sanitären Zonen», die man durch Bombardierung ukrainischer Städte wie Charkiw einrichten wolle.  Sanitäre Zonen schützen vor Kontamination, vor Schädlingen, Krankheitskeimen. Bei den Nazis war das Ghetto eine solche Zone. Goebbels notiert 1939 in sein Tagebuch nach einem Besuch des Ghettos von Lodz: «Wir steigen aus und besichtigen alles eingehend. Es ist unbeschreiblich. Das sind keine Menschen mehr, das sind Tiere. Das ist deshalb auch keine humanitäre, sondern eine chirurgische Aufgabe. Man muß hier Schnitte tun, und zwar ganz radikale. Sonst geht Europa einmal an der jüdischen Krankheit zugrunde».

Nun gehört auch eine ukrainische Stadt zur Zone «ärztlichen Eingriffs». Der Fortschritt der Entmenschlichung ist unaufhaltsam. 

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Drittes Reich, MAGA, das historische Russland. Das Leitmotiv all dieser schönen Illusionen – es gibt mehr als diese drei - lautet, wie schon Lenin wusste: Für ein grosses Omelett muss man viele Eier zerschlagen. Der Wunsch, dass die Illusion wahr sei, übertrumpft in der Regel den Realitätssinn. Bannon ist (zur Zeit) weg vom politischen Fenster. Aber sein Gedankengebräu köchelt wohl in vielen Köpfen. Putins Problem dürfte sein, dass er seine megalomane Rechnung ohne eine grosse Zahl von «Bürgern Russlands» macht.  Was verschlägt es? Scheitert die Illusion an der Realität, dann hat die Realität der Illusion angepasst zu werden. Und zwar mit allen Gewaltmitteln. Sie stehen megatonnenweise zur Verfügung. Die Geopolitik macht die Erde zu einem einzigen gigantischen Waffenlager. Zu Diensten von Illusionen.





 


Montag, 6. Mai 2024

 


NZZ, 30.4.24

Wir schrecklichen Verallgemeinerer

«Alle Weissen sind Rassisten». Den Satz schrieb 2017 das Transgender-Model Munroe Bergdorf auf Facebook. Natürlich erhob sich umgehend ein Shitstorm. Man kann den Satz simpel, dumm, falsch, beleidigend, selber rassistisch finden. Das ist breitgetretener Quark. 

Interessanter ist der Satz als Symptom einer Denkdisposition: der falschen Verallgemeinerung. «Alle Weissen sind Rassisten» - wie viele Weisse kennt Munroe Bergdorf? Alle? Oder ist Munroe Bergdorf bisher einfach keinem nichtrassistischen Weissen begegnet? Wir stossen hier auf ein altes und vertracktes erkenntnistheoretisches Problem. Unser Urteil stützt sich ab auf eine endliche Zahl von Erfahrungen. Von welcher Zahl an sind wir berechtigt, «bottom up» zu generalisieren? Wir bilden gewöhnlich ein Urteil, bevor wir die nötige Evidenz dazu haben, mit Kant gesprochen: «Die Notwendigkeit, zu entscheiden reicht weiter als die Möglichkeit, zu erkennen».  

Wir generalisierenden Tiere können nicht nicht verallgemeinern. Wir tun das beinahe reflexartig. Und das heisst: Wir denken nicht nach, vor allem, wenn wir über andere urteilen. Munroe Bergdorf könnte sich auf Richard Wagner berufen. Er äusserte sich abfällig über Robert Schumann, und auf den Vorwurf, er kenne doch Schumann gar nicht zur Genüge, entgegnete Wagner mit dem Totschlagargument, wer alles kennen müsse, ehe er schimpfen dürfe, der würde nie zum Schimpfen kommen, und das sei nicht zumutbar. 

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Wagners Replik eignet sich geradezu als das Erkennungszeichen einer gegenwärtig beliebten Kommunikationsform, nämlich den Satz «Alle X sind …» zum Schimpfen, Canceln, Diffamieren verwenden. Eine Gruppe von Menschen in den Sack von «Gleichen» stecken, und wacker drauf-hauen. Dabei geht man in der Regel wie folgt vor: Man wählt ein paar Merkmale a,b,c .. aus, die man bei einer Gruppe X häufig beobachtet, und verallgemeinert dann hypothetisch: Alle X sind a,b,c.. Das erscheint auf den ersten Blick harmlos. Aber man kann der Verallgemeinerung einen tückischen Dreh geben, indem man sie als Wesensmerkmal der Gruppe auffasst. Dann verliert die Charakterisierung ihre Unschuld. Dann heisst es «Alle Weissen sind ihrem Wesen nach Rassisten». Man kann sie nicht ändern. Sie tragen den Rassismus als unauslöschliches Kainsmal auf sich. Unsere Geschichte ist voll von solch unseligen «Verwesentlichungen»: das Wesen des Juden, des Islam, des Zigeuners, der Frau, des Schweizers. Letzteres definierte ein Bundesrat einmal so: genau, pünktlich, solide, kein Blender. Mir persönlich fehlt so betrachtet das wesensmässig Schweizerische.

Es gibt die abgemilderte Version, den strukturellen Rassismus: Wer Teil eines gesellschaftlichen Systems ist, das Ethnien, Gender und was auch für Gruppen diskriminiert, ist selber Rassist, drehe und wende er sich, wie er will. Eine Journalistin schreibt kürzlich: «Ich bin Rassistin, weil es rassistische Strukturen gibt, und ich von denen profitiere». Das tun wir Weissen wahrscheinlich ausnahmslos, und so gesehen sind wir alle Rassisten. Irgendwie. Aber wie genau? Die Verallgemeinerung bedarf unbedingt einer Differenzierung, sonst verkommt sie zum Affichen-Moralismus, der gegenwärtig ohnehin grassiert. 

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Vom Schweizer Historiker Jacob Burckhardt stammt bekanntlich der Begriff «terrible simplificateur»:  schrecklicher Vereinfacher. Zu dieser Kategorie gehört erst recht der schreckliche Verallgemeinerer. Er hält seinen Denkhorizont – oft beschränkt genug – für die Welt, und was nicht in diesen Horizont passt, existiert nicht. Er will nicht falsifiziert werden, aus Mutwillen, Ignoranz oder Dummheit. Sein Blick ist getrübt vom intellektuellen grauen Star. Er sieht nur «den» alten weissen Mann, «den» Linken, «den» Klimaleugner, «den» Juden, nicht einzelne Personen. Dabei unterläuft ihm gar nicht so selten der Lapsus, dass er wider besseres Wissen allgemein urteilt. Niemand ist davor gefeit. Auch ein Autor wie Theodor Fontane nicht. Er sprach von den Juden als von einem «Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaftes Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen» könne. Im gleichen Zug fügte er an: «All das sage ich (muss es sagen), der ich persönlich von den Juden bis diesen Tag nur Gutes erfahren habe».  

Jeder Mensch hat das Recht, ein Einzelfall zu sein. Und dieser Einzelfall verlangt den Effort zur Demontage von Verallgemeinerungen. Das Abstraktionsvermögen ist eine eminente intellektuelle Gabe und zugleich voller Hinterlist. Soll der Gebrauch des Satzes «Alle X sind ..» nicht zum argumentativen Kampfmodus degenerieren, verlangt er nach geistiger Reife und Redlichkeit. Ihr Erkennungsmerkmal: den Antagonismus zwischen zwei Denkvermögen aushalten, zwischen Verallgemeinerung und Unterscheidung. Nicht unterscheiden wollen ist eine subtile Form von Gewaltausübung. Wir erliegen ihr immer wieder. 





Musks retrograder Futurismus  Elon Musk gefällt sich in der Rolle des unbändigen Futuristen – des «utopischen Anarchisten». Er investiert in...