Mittwoch, 2. Oktober 2024



Schwierigkeiten mit der Identität

Das Unbehagen vor dem Uneindeutigen


Jeder Mensch ist jemand: eine Person. So weit, so banal. Fragt man aber, warum ich der bin, der ich bin, gerät man schnell in die Bredouille. Schon der geläufige Sprachgebrauch hilft wenig. Wir verbinden unser Personsein leicht mit der Vorstellung eines Besitzes. Ich bin der, der ich bin, weil ich eben eine Identität «habe», die mich zu dem macht, was ich bin. Aber was versteckt sich hinter dieser «Habe»?

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Man kann zur Beantwortung der Frage auf zwei etwas abgehobene Begriffe im philosophischen Vokabular zurückgreifen: Essenzialismus und Voluntarismus. Essenzialismus bedeutet: Meine Identität ist definiert durch etwas, das nicht meiner Bestimmung unterliegt: durch den Willen Gottes, durch mein Genom, meine gesellschaftliche Rolle - mein «Wesen». Der Wesensbegriff ist perfid. Er nagelt eine Person an ganz bestimmten, scheinbar unveränderlichen Merkmalen fest. Er beschreibt nicht Eigenschaften einer Person, er schreibt sie ihr diktatorisch zu. So bist du und so hast du zu sein! Amartya Sen hat dafür den treffenden Begriff der Identitätsfalle geprägt. Einmal Schwarzer, immer Schwarzer. Einmal Frau, immer Frau. Einmal Jude, immer Jude! Und das bedeutet nicht selten, dass man mit der «Verwesentlichung» eine Person gedank-lich vergewaltigt – in letzter Konsequenz auch physisch. 

Voluntarismus bedeutet: Meine Identität ist Sache meines Willens, meiner Wahl. Wer ich bin, bestimme letztlich ich. Ich bin nicht der, als den ihr mich festzunageln versucht! Ich bin nicht Stiller! Man erkennt sofort das Aufbegehren gegen den Essenzialismus. Ich wehre mich gegen Kategorien, die in einer Gesellschaft als normative Macht wirken. Ich bin frei, mich so auszudrücken und auszuleben, wie ich es für gut befinde, unabhängig von all den Identitätsfutteralen, die eine Gesellschaft bereithält. 

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Die Positionen schliessen einander nicht aus, sie markieren Pole eines Spektrums. Am einen Pol liegt die «plombierte» Identität: Du bist notwendig der, der du bist! Am anderen liegt die «frei flottierende» Identität: Wähle dich, der du bist! Die meisten Menschen situieren sich im Mittelbereich. Sie bewegen sich in einer gewissen Instabilität zwischen Selbst- und Fremdidentifikation, nach der berühmten Devise Rimbauds «Ich ist ein Anderer». Die Instabilität auszuhalten kennzeichnet die robuste Person.  

Dieses Spektrum der Identitäten ist heute durch beide Extreme akut bedroht. Ganz offenkundig von Hardcore-Essenzialisten, die die Person aufgrund einer Weltanschauung oder Ideologie ein für allemal festgelegt haben möchten. Andererseits aber auch von «Libertinisten», die sich frei fühlen, ihre Identitäten wie Hemden und Hosen zu wechseln. 

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Und unversehens landen wir in der aktuellen Genderdebatte. Die queere Gemeinschaft wehrt sich gegen einen biologischen Essenzialismus, gegen die Zuschreibung der Geschlechtsidentität allein im Namen der «Natur». Kritikerinnen und Kritiker der Binarität «dekonstruieren» diese «Natur» als eine soziale Macht, die Andersartige in das Prokrustesbett von traditionellen Normen zu zwängen sucht. Normen aber sind keine Fakten, sie beruhen auf einer Übereinkunft der Menschen. Und die Legitimität einer Übereinkunft ist stets hinterfragbar. 

Nun beobachten wir freilich eine Verhärtung der Fronten. Gegen nichtbinäre Identitäten wappnen sich erstarkende reaktionäre Kräfte. Autoritäre Regimes haben in der Gendertheorie ihre Lieblingsfeindin entdeckt. Als Unterwanderin der «natürlichen» Weltordnung. Putin und Orban zum Beispiel sehen die Staatssicherheit durch die queere Community gefährdet. Papst Franziskus entblödete sich nicht, die Gendertheorie mit der Atombombe zu vergleichen.  

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Ich stelle als Vermutung eine These auf: Dieser intellektuelle Backlash drückt ein Unbehagen vor dem Uneindeutigen aus. Es geht dabei um weit mehr als bloss um die Geschlechtsidentität. Gerade die Freiheit, zu sagen «Ich bin nicht so, ich bin auch anders», macht aus uns lebende, weil «uneindeutige» Personen - und nicht abstrakte, statistisch verwertbare Kategorien. Unserer «natürlichen» Persönlichkeit moduliert sich ja zunehmend eine digitale, von der Technoindustrie manipulierbare Identität auf. Identifizierung ist immer auch ein Instrument der Machtausübung, durch Unternehmen, staatliche Behörden oder andere Institutionen. Im Uneindeutigen steckt eine heimliche Subversion gegen das Gleichmacherische. Wir sollten sie angesichts immer potenterer Identifizierungs- und Überwachungstechnologien gerade heutzutage bewahren und pflegen. 

«Ich bin nicht der, der ich bin (zu sein habe)!» wird deshalb zur Losung eines Aufstands des Uneindeutigen in der digitalen Ära. 









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