Donnerstag, 19. September 2024

 


Wenn ein Löwe sprechen könnte

„Wenn ein Löwe sprechen könnte, würden wir ihn nicht verstehen“, schrieb einst Ludwig Wittgenstein. Und warum? Wir würden uns nicht in den Löwen finden. Wirklich? - Stellen wir uns vor, wir beobachten aus einem Savannenversteck ein Rudel Löwinnen beim gemeinsamen Frass einer frisch getöteten Antilope. Unweit von uns sehen wir einen jungen Löwen. Er ist verwundet, jagdunfähig, hungrig: die Rippen stechen hervor. Nur zu gerne möchte er den Löwinnen karnivore Gesellschaft leisten. Aber er ist zu schwach, zu klein, zu unsicher. Er umschleicht unruhig das Rudel, zieht sich mehrmals zurück, kommt wieder. Schliesslich gibt er auf und sucht das Weite. Muss dieser Löwe zu uns sprechen können, damit wir ihn verstehen? Sein Verhalten drückt doch alles aus: Einsamkeit, Hunger, Schmerz, Frustration, Begehren –  ist das so weit von unserer Emotionalität entfernt?

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Sogleich ertönt der Warnruf der Ethologen: Sei vorsichtig, du vermischst Beobachtung und Interpretation - du unterstellst dem Löwen ein Innenleben, von dem wir keine Evidenz haben! Die Warnung hat Tradition, und sie ist verständlich aus der bewegten Geschichte der modernen Tierforschung, in der stets wieder zwei Metaphern miteinander kämpfen: Tier als Mensch und Tier als Maschine. Die erste Metapher ist uralt, Grundlage von Tier-fabeln durch Kulturen und Epochen hindurch. Die zweite Metapher ist neueren Datums, sie stammt aus dem 17. Jahrhundert, als man die Natur mechanomorph, nach dem Muster der Maschine zu erklären begann. Locus classicus ist die Philosophie von Descartes. Mit ihr erfolgte sozusagen der cartesianische „Sündenfall“ der Neuzeit, der das Tier zur „res extensa“, zum komplexen organischen Automaten aus Muskeln, Knochen und Nerven machte, mit Mechanik als Innenleben. 

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Darwin zweifelte nicht an einem Innenleben der Tiere, und er schrieb auch ein zu seiner Zeit kaum beachtetes Buch darüber: „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“ (1872). Während der Wissenschaftler Darwin sich skrupulös an die beobachtbaren Merkmale von Emotionen – z.B. Angst, Freude, Wut, Abscheu - hielt, schlug sein Freund George Romanes methodisch über die Schnur, etwa mit Anekdoten über Ratten, die eine Nahrungsversorgungskette bildeten, indem sie einander gestohlene Eier mit ihren Pfoten weiterreichten; oder über einen von einer Kugel getroffenen Affen, der nun seine Hand mit eigenem Blut einfärbte und sie dem Jäger hinhielt, auf dass dieser sich schuldig fühle. – Der Anthropomorphismus hielt Einzug in die Tierforschung. Und die Angst vor ihm sollte den Ethologen das ganze 20. Jahrhundert hindurch in den Knochen stecken.

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Man kann zwei Hauptschulen der Ethologie unterscheiden, jene mit und jene ohne „Tierpsyche“. Die erste steht a priori unter Anthropomorphismusverdacht. Begonnen hatte sie ausdrücklich als „Tierpsychologie“. Dabei war von Anfang an nie hinreichend klar, was man sich darunter vorzustellen hatte. Viele Forscher sahen sich in einem Dilemma gefangen: Eine Fülle von Beobachtungen wies auf ein Innenleben der Tiere hin, aber das Ethos der Objektivität gebot, sich nicht auf dieses Innenleben einzulassen. Man machte sich so schnell zur Witzfigur. Symptomatisch für diese Situation ist der vom Begründer der experimentellen Tierpsychologie - Conwy Lloyd Morgan - aufgestellte „Morgansche Kanon“ (1894): Erkläre das Verhalten eines Tiers nie durch höhere kognitive Vermögen, wenn es auch als Ergebnis eines niedrigeren Vermögens interpretiert werden kann: durch Instinkte und Reflexe.

Damit war das Paradigma für Generationen von Ethologen festgeschrieben: Das Tier ist eine Verhaltensmaschine. Zu sagen, dass der Hund winselt, weil er Schmerzen hat, ist keine Erklärung. Denn Schmerzen haben und Winseln sind im Grunde dasselbe. Nun ist die Verwendung eines solchen Modells an sich kein Problem – sofern man es als Werkzeug betrachtet. Je erfolgreicher aber das Modell, desto mehr vergessen wir seinen Werkzeugcharakter und schlagen dann alles über seinen Leisten. Wir halten das Modell für die Wirklichkeit und am Ende wird auch das Reden des Menschen über sich selbst anthropomorph. 

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Gewiss, wir können nicht in Haut, Fell oder Gefieder des Tiers schlüpfen. Das behauptet auch niemand. Wir können ebensowenig in die Haut anderer Menschen schlüpfen, und dennoch in sie finden. Der Grund liegt zum wesentlichen Teil darin, dass wir, gemäss Witt-genstein, das gleiche Sprachspiel spielen. Aber es gibt noch einen anderen Zugang. Wir alle kennen den Mitmenschen auch durch sein Verhalten, die Art, wie er wohnt, isst, sich kleidet, mit den Leuten umgeht: wir kennen seine Umwelt. Es war die geniale Idee des Zoologen Jakob von Uexküll vor über hundert Jahren, sich dem Tier auf diese Weise zu nähern. Er stellte die später berühmt gewordene Frage des Philosophen Thomas Nagel: Wie ist es, ein Tier zu sein? Genauer fragte Uexküll: Was ist die Umwelt des Tiers? Und durch das penible Studium seiner Umwelt finden wir uns immer mehr in das Tier. Was eine Umwelt hat, ist Subjekt seines Verhaltens – also ist alles Subjekt, von der Zecke bis zum Philosophen.

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Die Reichweite von Uexkülls Idee – einer Art von „kopernikanischer Revolution“ im Denken über das Tier - erschliesst sich uns eigentlich erst heute, und sie entfaltet ihre Heuristik umso mehr, als den Ethologen ein ungleich potenteres Instrumentarium zur Verfügung steht, in der Gestalt von Evolutionsbiologie, Kognitionspsychologie, Neurowissenschaft usw. Die moderne Ethologie hat sich zu einer faszinierenden Disziplin entwickelt, um das Zentrum des Tiersubjekts mit seinem artspezifischen Mentalleben herum. Einer der renommiertesten gegenwärtigen Verhaltensforscher, Frans de Waal, fragt im Titel eines seiner Bücher: „Are We Smart Enough To Know How Smart Animals Are?“ ( 2016). 

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Ein Grossteil von uns foutiert sich darum. Denn im gleichen Atemzug, in dem man auf die Fortschritte in der Ethologie hinweist, macht sich ein schreiender Widerspruch Luft. Er drückt sich in einem Zahlenverhältnis aus, jenem von Nutztieren und Wildtieren. Eine re-zente Übersicht gibt an, dass sich die gesamte planetarische Biomasse der Säuger auf 32% Menschen, 65 % Nutztiere und 3% Wildtiere verteilt. Über die Robustheit der Zahlen lässt sich debattieren, nichtsdestoweniger kann man daraus eine bedenkliche philosophische Lektion ziehen. Im technisch-ökonomischen Scheuklappenblick erscheint das Nutztier nicht als Subjekt. Allem besseren ethologischen Wissen zum Trotz degradieren wir das Tier zur organischen Maschine. Weil nicht der Erkenntnisgewinn das letzte Wort hat, sondern der wirtschaftliche.

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Und es mutet allmählich wie ein abgenutzter Treppenwitz an, wenn der Mensch stets wieder ein Alleinstellungsmerkmal des Humanen zu finden sucht, und jedes Mal entdeckt, dass irgend eine andere Spezies ebenfalls dieses Merkmal oder zumindest Anlagen dazu mit sich bringt: Emotion, Intelligenz, Selbstbewusstsein, Werkzeuggebrauch, Imagination, Sozialität, Verhaltenserziehung (Kultur), Humor, Altruismus, Todesahnung ... eine fortgesetzte „Enttäuschung“ humaner Einzigartigkeit, dieser hartnäckigen und arroganten Obsession. Natürlich kann und soll man über das spezifisch Humane an solchen Merkmalen debattieren – speziell darüber, was menschliche Kultur dazu beiträgt - , aber ob wir daraus je ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal gewinnen können, bleibt fraglich. Und warum sollten wir auch?

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Bevor Descartes das Tierreich zu einer „res extensa“ degradierte, plädierte der italienische Humanist Hyeronimus Rorarius in einem Buch dafür, „dass die Tiere die Vernunft besser nutzen als die Menschen“ (1654). Nun wäre es an der Zeit, dass wir das Tierreich zu einer „mens extensa“ erklärten, einer Welt des ausgedehnten Geistes. Menschen sind ein Teil davon. Erst noch ein ausnehmend kleiner. 


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