Mittwoch, 9. Oktober 2024

 


NZZ,7.10.24

Diagnose: Naturanalphabetismus

Sprachverödung heisst Naturverödung


Das Lamento über das Verschwinden der Arten ist allbekannt. Mit dem Schwund in der Natur korrespondiert allerdings ein anderer, ebenso bedenklicher Schwund, nämlich in der Sprache. Dabei wuchert unser Wortschatz traditionell wohl nirgendwo üppiger und dichter als im Reich von Flora und Fauna. 

Zum Beispiel diese zarte und lustvoll exakte Annäherung an das Gewächs in alten Botanik-schwarten. Linnés „Pflanzensystem“ (deutsch 1787) beschreibt eine Flechtenart (Hunds-flechte) so: „Die Blätter sind zart, breit, flach, eben, einfach oder in ziemlich runde Lappen geteilt. Die Oberfläche derselben ist an der frischen (..) Pflanze braungrünlich oder bleich-bleifärbig, mit einem aschgrauen mehlartigen Staube bedeckt (..) An der aufgerichteten Spitze des Blattes sitzt ein Fingernagel-förmiges, eirundes, oberwärts konvexes, unterwärts konkaves bräunliches oder dunkelrötliches Schildchen, welches an seiner Unterfläche ebenfalls inkarnatrot ist.“ 

Oder dann Vogelbücher wie etwa Petersons „Die Vögel Europas“, wo über den Habichtsadler zu lesen ist: „Länglicher Schwanz mit einem halben Dutzend matter Binden und einer breiten dunklen Endbinde. Von unten gesehen hebt sich die schmal gestreifte, seidenweisse oder rahmfarbene Unterseite von den langen dunklen Flügeln ab. Junge mit rostfarbenem Kopf, dicht röstlichbraun gestreifter Unterseite und eng gebändertem Schwanz.“ Und erst noch die Lautmalerei. Seine Stimme: ein schnatterndes „kai, kai, kikiki.“ 

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Immer, wenn ich solches lese, beschleicht mich eine unbestimmte leise Trauer: Habe ich das je beobachtet, je gehört? Der britische Reiseschriftsteller Robert Macfarlane betreibt eine Art von Archäologie der Landschaftssprache und er macht in seinem neuen Buch „Landmarks“ (2015) auf ein generelles Symptom in unserem Verhältnis zur Natur aufmerksam: Wir verlernen diese Sprache. Auf den Hebriden fand er zum Beispiel ein „Torf-Glossar“, eine Sammlung von über hundert gälischen Ausdrücken für das Moorland. Er stiess auf Wörter für feinen Eisfilm auf Blättern und Zweigen, für den leisen Windhauch auf der Oberfläche eines stillen Gewässers, für den Tunnel am Grund einer Hecke, den kleine Tiere für ihren regelmässigen Durchgang schaffen. „Landspeak“ nennt Macfarlane diese Sprache. Nun wird aber unsere Ökologie zunehmend überformt von technischen Systemen, und das schlägt sich notgedrungen im Sprachgebrauch nieder. Mit Videos auf Youtube brauchen wir kein Vokabular der Landschaftsbeschreibung mehr. Wie der amerikanische Umwelthistoriker William Cronon bemerkt hat, besteht das beste Verständnis der Natur um uns im Verständnis der Natur in uns; und dazu gehört Sprache: „Die Natur in unseren Köpfen ist ebenso wichtig wie die Natur, die uns umgibt, denn die eine gestaltet und filtert ständig die Art und Weise, wie wir die andere wahrnehmen.“ 

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Macfarlane weist auf ein anderes Phänomen hin, das mit dem Sprachverlust für die Natur einhergeht: auf die Kompensation oder vielmehr den Ersatz durch ein neues universelles Technospeak. Der Oxford Junior Dictionary, ein Nachschlagewerk für Kinder, hat eine Vielzahl von Wörtern für die Natur getilgt. Sie seien für ein Leben in den heutigen Umwelten nicht mehr relevant: zum Beispiel Eichel, Kreuzotter, Esche, Buche, Weidenkätzchen, Löwenzahn, Heide, Efeu, Mistel Wiese. An ihrer statt nimmt der Diktionär jetzt Begriffe auf wie Attachment, Block-Graph, Blog, Breitband, Chatroom, Cut-and-Paste, MP3-Player, Voice-Mail. 

Eine fundamentale Verschiebung. Wie Macfarlane schreibt, manifestiert sich darin nicht nur ein Schwinden unseres Gespürs für die Natur, sondern auch der Verlust einer „Art von Wortmagie: einer Kraft, die bestimmte Begriffe besitzen, um unser Verhältnis zur Natur und ihren Orten zu verzaubern.“ Wir vermüllen die Natur nicht zuletzt dadurch, dass wir das Vokabular der Imagination zum Abfall werfen. Wir bemerken nicht, dass Sprachverödung nur die eine Seite der Naturverödung ist. 

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Ein Einspruch wie jener Macfarlanes wird heute schnell als pastorales Genre, als „romantisch“ oder „nostalgisch“ abgetan. Aber das verunglimpft die Romantik, die alles andere als rückwärtsgewandt war. Adalbert von Chamisso zum Beispiel schrieb nicht nur „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, er war Botaniker; er entdeckte unter anderen den Goldmohn -  die kalifornische Wappenblume – und nach ihm ist etwa auch eine Heidelbeerart - Vaccinium chamissonis – benannt. Er verfasste ein Lehrbuch mit dem ziemlich un-romantischen Titel: Übersicht über die nutzbarsten und schädlichsten Gewächse, die wild oder angebaut in Norddeutschland vorkommen (1827). 

Chamisso wäre heute wohl am ehesten den Ökologen zuzurechnen - allerdings wäre er ein besonderer Ökologe. Immer hatte er auch die Verschränkung von Natur und Kultur – also Sprache - im Blick. Die Pflanze war für ihn nie nur Forschungsobjekt, sondern ein Natur-subjekt, das „mächtig auf die Geistesrichtung einzelner Individuen, wie die Kulturgeschichte ganzer Völker eingewirkt hat (..) Die Vegetation ist es, die an den Boden gefesselt, den festen Teil der Erdoberfläche mit einem grünen Teppich bekleidend, so mächtig Geist und Gemüt anregt. Sie ist es, die vorzugsweise der Erdoberfläche das Ansehen einer belebten gibt und den Eindruck der allverbreiteten Lebensfülle hervorruft.“ Das gleiche liesse sich auch von der Sprache sagen. Eine Landschaft ist eine  geologische und linguistische Sedimentation.

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Hoffnung besteht allerdings. Die Tilgung der Naturwörter aus dem Oxford Junior Dictiona-ry hat den Protest von – zum Teil bekannten - Autorinnen und Autoren hervorgerufen. Der Schriftsteller und Photograph Tim Robinson stellte das Bedürfnis nach einer Sprache fest, die einer „säkularen Zelebrierung von Orten“ angemessen sei. Ein anderer Photograph, Dominick Tyler, veröffentlichte einen prachtvollen Band über englische Landschaften („Uncommon Grounds“), in dem paarweise 100 Wörter für Naturszenen mit entsprechen-den Bildern zusammengestellt sind. Vom Botaniker Richard Mabey stammt das Buch „The Cabaret of Plants“, in dem er für eine „neue Sprache“ plädiert, welche die Pflanze in ihrer spezifischen Individualität würdigt.

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Dann gibt es natürlich immer noch die Naturlyrik, etwa Marion Poschmanns „Geliehene Landschaften“ (2016). Sie nennt ihre Lyrik „Lehrgedichte und Elegien“. Ihr Blick auf die Natur ist von der Stadt geprägt. Er weiss vom Vordringen des Technischen und Urbanen, zum Beispiel in die ehemals besungene Pracht der Alpen. Die Sprache ist kalt und technisch. Mönch und Jungfrau im Berner Oberland werden da direkt angesprochen:

„Du schläfst in stabiler Seitenlage am Rande

der Alpen, am Rand der Verbreitungskarten 

rotkarierter Lawinengefahr. Thermikzieher

schrauben sich durch die Habitusbilder der Skigebiete,

und Abluft in haushaltsüblichen Mengen verfängt sich 

in Hecken, steigt auf zu den glitzernden Wolken der Welt.“

Die Eroberung der Alpenwelt ist hier längst Banalität. Es mischen sich das Erhabene der „glitzernden Wolken der Welt“ und die „haushaltsüblichen Mengen“ an Abluft. Das Gedicht handelt vom Anthropozän, von der Dominanz des Menschen über die Natur. Aber trotz ihres „elegischen“ Charakters hört man aus dieser Lyrik einen trotzigen Appell heraus: Schaut doch mal hin, in was für einer Umwelt ihr lebt! Und ich liefere euch das Vokabular für die Sichtbarmachung dieser Umwelt! 

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Hoffnung kommt auch von einer anderen Seite. Macfarlane erzählt von einem fünfjährigen Mädchen, das für die weichen Grassamen in seinen Händen eine eigene Bezeichnung aus-heckte: „Honigpelz“ („honeyfur“). Oder, als er seinem kleinen Sohn sagte, dass es keinen Ausdruck für den schimmernden Buckel gibt, der entsteht, wenn Wasser über einen Stein strömt, antwortete der Kleine spontan: Strömungspopo („currentbum“). Wunderschön. Kinder haben diese magische Fähigkeit, die Erde mit Sprache stets wieder neu zu verzaubern. Treiben wir ihnen diese Fähigkeit nicht aus. Die Rettung der Natur liegt nicht zuletzt in der Auswilderung unserer Sprache für die Natur. 


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